Die Träger der Kindertagesstätten schlagen Alarm. „Wenn die Auflagen bis zum 15. Juli 2016 umgesetzt sein müssen, werden viele Kindergärten zumachen müssen“, warnt Maria Castrovinci. Die Leiterin der Escher „Crèche Coccinella“ ist zudem Präsidentin von Felsea, der Vereinigung der Betreiber privater Kindertagesstätten, die im März 2013 gegründet wurde.
Seitdem die Verordnung über die Betriebsgenehmigung bei Kinderbetreuungseinrichtungen in Kraft ist, bekomme ihre Vereinigung viele besorgte Rückmeldungen. „Vor allem diejenigen, die ihre Einrichtungen zu alten Bedingungen aufgebaut haben, wissen jetzt nicht, wie weiter.“ Die Verordnung vom November 2013 sieht unter anderem neue (Qualitäts-)Kriterien zu Raum, Betreuungsschlüssel, Personal und Weiterbildung vor, die Betreiber konventionierter und privater Kindertagesstätten erfüllen müssen, um eine Betriebserlaubnis zu erhalten.
„Wir haben ausgerechnet: Die Anhebung der erforderlichen Fläche von 3,3 auf vier Quadratmeter pro Kind unter vier Jahren bedeutet, dass wir durchschnittlich 20 bis 25 Prozent weniger Kinder unterbringen können“, schildert Castrovinci, „das Personal aber bleibt dasselbe.“ Das sei insbesondere für kleinere Einrichtungen ein großes Problem, sagt die Felsea-Präsidentin und fügt hinzu, ihre Vereinigung sei grundsätzlich für mehr Qualitätssicherung. „Das rückt vielleicht das Bild gerade, private Krippen seien schlechter“, so ihre Hoffnung.
Mit ihren Einwänden ist die Felsea nicht alleine. Der Gemeindeverband Syvicol warnte in seinem erst im Mai 2015, also anderthalb Jahre nach Inkraftreten der Verordnung, veröffentlichten Gutachten vor schweren Folgen. „Sorgen macht unseren Mitgliedern die Retroaktivität“, sagt Gérard Koop, beim Syvicol mit dem Thema befasst. Der Gemeindeverband hat seine Mitglieder befragt, welche Probleme bei der Umsetzung der Verordnung bestünden. Weil nur 19 von 109 Gemeinden befragt wurden, darunter zwei, die die Auflagen bereits umgesetzt haben, bleibt allerdings unklar, wie repräsentativ die Rückmeldungen wirklich sind.
Die „écrasante majorité“, wie es der Syvicol ausdrückt, äußerte ähnliche Bedenken wie die Felsea: „Eine Einrichtung, die mitten in einem Ortskern liegt, kann nicht beliebig ausgebaut werden. Das hieße, sie müsste auf Kinder verzichten“, erklärt Koop die Auswirkungen. Wie die privaten Betreiber fordert auch der Syvicol, etablierte Einrichtungen von den strengeren Auflagen auszunehmen, was jedoch eine professionelle Qualitätssicherung untergraben würde, die gerade darauf basiert, dass Gütestandards für alle gelten. Ähnlich argumentiert der Zusammenschluss der konventionierten Betreiber, die Entente des foyers de jour (EFJ). „Kleinere Vereine stoßen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit“, so EFJ-Präsident Yves Oestreicher. Einige suchten nun händeringend größere Partner, um die Lasten besser zu stemmen oder überlegten gar, ihr Betreuungsangebot ganz einzustellen.
Die geballte Kritik jetzt mutet für den Beobachter deshalb ein wenig überraschend an, weil seit Jahren ein allgemeiner Konsens in der Politik, bei den Trägern und in der Öffentlichkeit darüber besteht, dass die Einrichtungen überfüllt, die Betreuungsschlüssel nicht optimal sind und sich die Qualität insbesondere bei den privaten Einrichtungen dringend verbessern muss. Nachdem mit dem Gesetz von 2005 die Maisons relais eingeführt wurden, wurden hektisch Betreuungsangebote aus dem Boden gestampft, während pädagogische Inhalte und eine professionelle Führung auf der Strecke blieben. Es waren Gemeinden wie Esch-Alzette, die den politischen Vorstoß der damaligen Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV), den Betreibern zu erlauben, mehr niedrig qualifiziertes Personal einzustellen, damals scharf kritisierten.
Doch offenbar ist der Druck in der professionellen Kinderbetreuung mittlerweile so groß, dass diese Stimmen heute nahezu verstummt sind. „Die Umsetzung der Qualitätsanforderungen bei den Infrastrukturen bis 2016 ist unmöglich, da zu kurzfristig“, ist Laurent Zimmer vom Escher Dienst für Kindertagesstätten überzeugt. Das gelte besonders für Einrichtungen im Ortskern: „Die kann man nicht einfach aus- oder umbauen.“ Zimmer plädiert dafür, stärker den Einzelfall zu berücksichtigen. Gérard Koop vom Syvicol beteuert ebenso wie Maria Castrovinci von Felsea, man sei grundsätzlich für mehr Qualität. Aber offenbar können die Gemeinden respektive die Träger die damit verbundenen Maßnahmen und Mehrausgaben nicht ohne weiteres schultern. Oder zumindest nicht sofort.
Das Erziehungsministerium, für die Kinderbetreuungsstrukturen zuständig, hat nun einen Schritt auf die Betreiber zugemacht: So soll die ursprüngliche Frist vom 15. Juli 2016, um die Einrichtungen gesetzeskonform zu machen, bis zum 15. Juli 2018 verlängert werden. Das gäbe den Konventionierten und den Privaten zwei zusätzliche Jahre, um ihre Häuser umzugestalten und ihre Praxis umzustellen. Außerdem wollen sich die Beamten im Ministerium mit den Betreibern und ihren Vertretern zusammensetzen, um die Auswirkungen der Verordnung noch einmal genau zu studieren. Heißt das, die Retroaktivität könnte kippen und ältere Einrichtungen mit schlechteren Gütestandards, also kleineren Räumen und weniger Personal, würden neben neueren, die die neuen Kriterien erfüllen, koexistieren? Am Prinzip mehr Raum für die Kleinen und an eine bessere Fortbildung und Professionalisierung der pädagogischen Arbeit halte man fest, sagt Regierungsberater Manuel Achten, der zugleich betont, man sei „offen für alle Anregungen und Kritik“.
Bei der Diskussion helfen könnte es, wenn die Entente des foyers de jour und Gemeinden eigene, öffentlich nachvollziehbare Berechnungen auf den Tisch legen würden. Doch damit tun sich die Träger allgemein schwer, die Konkurrenz liest schließlich mit. Eine gesetzliche Regelung, die Gemeinden verpflichtet, ihre Auslastung und andere Daten ans Ministerium zu melden, das immerhin die Infrastrukturen zu zwei Drittel finanziert, sei nicht nötig, man händige die Statistiken auf Nachfrage aus, schreibt der Syvicol in seinem Avis spitz. Für Außenstehende ist es daher schwierig einzuschätzen, ob es sich bei den vorgetragenen Einwänden stets um reelle Nöte handelt, oder ob dahinter nicht auch der (kommerzielle) Wunsch steht, ab Mitte nächsten Jahres nicht plötzlich weniger Geld in der Kasse zu haben. Dass Qualität kostet und dass die 2013-er-Verordnung die Geschäftsgrundlage der Betreiber verändert, steht außer Frage. Manuel Achten, im Erziehungsministerium für das Thema zuständig, weist indes auf mögliche Synergien hin, wenn Schulen und Kindertagesstätten enger kooperieren würden. „Räume könnten gemeinsam genutzt werden, ebenso Schulhöfe“, schlägt er vor. Das allerdings setzt ein Umdenken und eine Kultur der Zusammenarbeit zwischen Erziehern von Kindertagesstätten und Lehrern in den Grundschulen, die es so eher selten gibt.
Während kommunale Träger sich eher mit Schulen vernetzen können, ist das bei den privaten nicht so leicht. Sie befinden sich häufiger in umgebauten Ein- und Mehrfamilienhäusern in der Stadt. Allein für Brandschutzmaßnahmen haben viele Einrichtungen fünfstellige Beträge in die Hand nehmen müssen, beschreibt Maria Castrovinci die Mehrausgaben. Darin seien Verluste durch kleinere Gruppen und Kosten für Fortbildungen noch nicht enthalten Sie beklagt noch einen strukturellen Nachteil: Weil die Löhne im konventionierten Sektor höher seien, sei es für die Privaten noch schwieriger an gut ausgebildete Fachkräfte zu kommen.
Unstrittig dürfte sein, dass mit der Qualitätsverbesserung die ohnehin angespannte Situation in punkto Personal und Raum bei den konventionierten und bei den privaten Trägern sich erstmal verschärft. Dass Einrichtungen, die aufgrund von Platzmangel Kinder auf die Straße setzen müssten, bei verzweifelt nach Betreuungsplätzen suchenden Eltern kaum auf Verständnis stoßen würden, ist sicher auch ein Grund, warum die Regierung die Frist nun verlängern will. Nicht nur im Süden sind die Wartelisten auf einen Betreuungsplatz heute schon lang und wird die Nachfrage nach Betreuungsplätzen durch den Umzug der Uni zunehmen. Ebenso klar ist, dass sich die Reform der Kinderbetreuung noch Jahre hinziehen wird. Schließlich hat das Ministerium nicht nur eine Gratisbetreuung der Null- bis Dreijährigen versprochen, sie will überdies die Sprachförderung verbessern. Reichlich Diskussionsbedarf also, wenn nach den Sommerferien die Beratungen zwischen Staat, Gemeinden und Trägern beginnen werden.