Ja, werden sie nun gleich behandelt oder nicht? Die Chèques-service accueil, die Dienstleistungsschecks zur Kinderbetreuung, werden künftig auf die Grenzgänger ausgedehnt, hatte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) Mitte Februar angekündigt und damit – scheinbar – eine jahrelange juristische und politische Unsicherheit und Ungerechtigkeit beendet.
Hintergrund ist der seit Jahren andauernde Streit und die Unklarheit darüber, ob es mit Europäischen Recht vereinbar ist, dass von den Betreuungsschecks nur in Luxemburg ansässige Arbeitnehmer profitieren, aus dem Ausland nach Luxemburg pendelnde Arbeitnehmer, obwohl sie gleichermaßen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen wie ihre Kollegen in Luxemburg, aber leer ausgehen.
Im Juni 2013 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Wohnortsklausel im Gesetz zu den Studienbeihilfen, die ebenfalls zunächst nur Kindern von inländischen Arbeitnehmern vorbehalten waren, für nicht rechtens erklärt. Um nicht eine ähnliche Schlappe vor dem EuGH zu kassieren, machte sich die damalige schwarz-rote Regierung daran, auch das Gesetz über die Vergabe der Chèques-service d’accueil zu überarbeiten, das ebenfalls eine Wohnortsklausel vorsieht. Zur Abstimmung kam es nicht mehr. Die blau-rot-grüne Koalition erbte das Dossier und darf nun die Suppe auslöffeln. Der überarbeitete Entwurf, der dem Parlament im Februar vorgelegt wurde, behält die großen Linien vom Vorgänger bei: Qualitätsvorgaben in der Kinderbetreuung für alle Anbieter, kommerzielle und konventionierte, verbindliche Standards, ein Kontrollsystem – und der Abschied von der Wohnortsklausel.
„Chèques-service auch für Grenzgänger“ titelte daraufhin das Nachrichtenportal die Grenzgänger überschwänglich und sah dank der „großartigen Nachrichten“ schon 150 000 geschätzte Grenzpendler von der familienpolitischen Leistung profitieren. Doch die Journalisten und ihre Leser haben sich vielleicht zu früh gefreut. Denn die blau-rot-grüne Regierung sieht in dem Entwurf eine komplizierte, aber folgenreiche Einschränkung vor, die dazu führen könnte, dass am Ende die Mehrheit der Pendler ohne staatliche Unterstützung bei der Kinderbetreuung bleibt.
So will die Regierung, mit Verweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, zwar die Wohnortsklausel streichen, aber an ihre Stelle tritt eine Konstruktion, die sicherstellen soll, dass dennoch nicht alle Grenzgänger die Leistung erhalten werden: Denn nicht die Eltern werden die Schecks bekommen, sondern diejenigen Träger, die sich dazu verpflichten, bestimmte Qualitätskriterien zu erfüllen und die einen Service social d’interet general anbieten. Die Schecks seien nicht dazu gedacht, heißt es im Entwurf, das Einkommen der Eltern zu verbessern, sondern um „une offre de services de qualité permettant un encadrement adapté aux besoins de l’enfant dans le cadre de sa scolarisation dans l’enseignement fondamental luxembourgeois“ zu schaffen. Die Mission der Träger bestehe darin, „a renforcer la mixité, la lutte contre l’exclusion sociale et pour l’intégration sociale des enfants au niveau de la communauté locale dans la société luxembourgoise et qui consiste à soutenir l’enfant dans l’enseignement fondamental luxembourgeois“.
Dass der Entwurf betont, es handele sich dabei nicht um keine Lohnersatzleistung, ist kruzial, denn will die Regierung umgehen, dass die staatlich unterstützte Kinderbetreuung auf alle Grenzgänger ausgeweitet wird – und die Kosten ins Unermessliche steigen. „Demnach hätten sie weiterhin nur ein theoretisches Anrecht und würden immer noch indirekt diskriminiert“, analysiert Sylvain Hoffmann, Vizepräsident der Arbeitnehmerkammer, den Kunstgriff, den ein externes Rechtsanwaltsbüro ausgetüftelt hat. Die Kammer hatte Ende März ein wenig beachtetes Gutachten zu den Gesetzesänderungen vorgelegt. Für Hoffmann steht fest: „Egal, wie man diese Leistung nennt, sie stellt offensichtlich eine familienpolitische Leistung dar. Also müssen auch alle Arbeitnehmer von ihr profitieren.“
Regierungsberater Nico Meisch vom Erziehungsministerium sieht das anders: Es stehe den Eltern schließlich „frei zu entscheiden, ob sie ihr Kind nun in einem Kindergarten mit entsprechendem Profil anmelden oder nicht“, argumentiert er. Er räumt aber ein, dass diejenigen Grenzgänger, die ihr Kind in einen Kindergarten schicken, der nicht auf die luxemburgische Schule vorbereitet, also die Kriterien, wie etwa eine noch näher zu definierende Sprachförderung, leer ausgehen werden. Die Regierung rechtfertigt dies damit, dass die Unterstützung eben nicht für den Arbeitnehmer gedacht sei, sondern dafür, Kinder besser auf die luxemburgische Schule und Gesellschaft vorzubereiten.
„Ich bezweifele, dass die Regierung damit durchkommt“, unterstreicht Sylvain Hoffmann, der die „Spielereien“ der Regierung kritisiert. Schon aus „moralischen Gründen“ könne es so nicht weitergehen. Statt mehr Rechtssicherheit gebe es mit der neuen Konstruktion „nur neue Fragen“. „Wie soll ein ausländischer Arbeitnehmer seine Absicht, sein Kind später in Luxemburger Schulen glaubwürdig nachweisen“, fragt Hoffmann beispielsweise. Und wie sollen die Kindertagesstätten und Schulen die neue Nachfrage aus dem Ausland organisatorisch und inhaltlich bewältigen sollen?
Die Regierung rechnet offenbar nicht damit, dass viele Grenzgänger das neue Angebot überhaupt nutzen werden. In der dem Gesetz beigefügten Fiche financière wird von einer Zahl von rund 2 324 zu betreuenden Grenzgänger-Kindern zwischen Null bis drei Jahren ausgegangen, das entspräche einem zusätzlichen Betreuungsbedarf von 20 Prozent . Bei den Vier- bis Zwölfjährigen erwartet die Regierung gar nur eine zehnprozentige Steigerung (3 264 Grenzgänger-Kinder). Ähnliche Zahlen hatte Claude Meisch im Oktober genannt, als das Land erstmals die Pläne der Regierung analysierte (d’Land 24.10.2014). Doch das wären noch immer geschätzte 28 Millionen Euro Mehrkosten. Meisch hatte außerdem angekündigt, dass künftig könnten auch ausländische Träger in der Großregion vom Schecksystem profitieren können. Aber wie genau deren Kontrolle aussehen soll, ob eines Tages Luxemburger Beamte Kinderkrippen und -gärten in Thionville oder Arlon überprüfen werden, ist weiterhin unklar. Man werde die Strukturen kontrollieren, bestätigt Nico Meisch aus dem Familienministerium. Wie, sagt er nicht. Einfach so über die Grenze spazieren und Betriebe inspizieren, können die neuen Luxemburger Kontrolleure nicht. Es handelt sich um ausländisches Hoheitsgebiet.
Aufgrund dieser Ungereimtheiten und offene Fragen bleibt die Arbeitnehmerkammer in ihrem nunmehr zweiten Gutachten gegenüber der Reform sehr skeptisch – zumal unteschiedliche Bedingungen zwischen konventionierten und privaten Sektor gelten – und womöglich auch in Zukunft gelten werden. „Im Sinne eines fairen Wettbewerbs müssten die privaten Anbieter ebenfalls an den SAS-Kollektivvertrag gebunden sein“, findet Hoffmann. Andernfalls seien konventionierte Träger, die meist höhere Löhne zahlen und die von den Eltern bislang keine unbegrenzte Eigenbeteiligung verlangen dürfen, im Nachteil.
Im Entwurf steht dazu nichts Näheres. Nico Meisch verweist auf die Zuständigkeit der Gewerkschaften: „Wenn sie das wollen, dann können wir das unterstützen.“ Das klingt etwas anders als beim OGBL-Gewerkschaftschef André Roeltgen, der auf Land-Nachfrage betont, die Regierung habe in früheren Unterredungen zum Sparpaket versprochen, bestehende Kollektivverträge zu respektieren. Schon wegen des „Gleichheitsprinzips“ müssten die Regelungen für konventionierte und kommerzielle Anbieter „dieselben sein“, so Roeltgen, der „ein Kuddelmuddel“ befürchtet und die Regierung auffordert, den „noch sehr vagen Text“ grundsätzlich zu überarbeiten. Ein weiterer Streitpunkt dürfte die geplante Senkung des Spitzen-Stundensatzes in konventionierten Einrichtungen von 7,50 Euro auf sechs Euro pro Kind sein. Die Regierung spricht von einer „Angleichung an den Privatsektor“, wo der Sechs-Euro-Stundentarif heute schon gilt, Eltern aber oft kräftig draufzahlen. Die Arbeitnehmerkammer warnt vor einer dritten Kostenreduktion bei den Chèques-service in Folge: Die erste erfolgte 2012 und habe dem Staat eine Ersparnis von acht Millionen Euro gebracht. Bei der zweiten wurde Haushalten, die mehr als 3,5 Mal des sozialen Mindesteinkommens (RMG) verdienen, die drei ersten Gratisstunden gestrichen, während Kinder von RMG-Empfängern mehr Gratisstunden zugesprochen bekamen. So oder so, dürften die Gewerkschaften und Berufsverbände die Pläne der Regierung mit Argusaugen beobachten. Ob seine Gewerkschaft gegen das neue Bezahlregime klagen werde, sollte es, wie geplant, noch vor der Sommerpause verabschiedet werden, klagen werde, will OGBL-Präsident Roeltgen nicht sagen. Dafür gebe es noch „zu großen Klärungsbedarf“.
Dass Qualität nicht zum Nulltarif zu haben ist, ist klar. Aber die Betreuungsschecks haben sich inzwischen zu einem Fass ohne Boden entwickelt: Ursprünglich als Maßnahme eingeführt, um die Desindexierung des Kindergeldes zu kompensieren, steigen die Ausgaben für die „Kompensation“ von anfänglich 86 Millionen auf heute über 330 Millionen Euro. Und da ist die wie auch immer ausfallende Erweiterung auf die tausende Grenzgänger nicht mit eingerechnet. Insofern ist das Anliegen der Regierung, die Kostenentwicklung besser in den Griff zu bekommen, nachvollziehbar.
Die Dreierkoalition hat kürzlich drn Anwendungsbereich der bestehenden Dienstleistungsschecks eingeschränkt und für Musik- und Sportangebote gestrichen. Doch die Millionen, die sie dadurch spart, wird sie an anderer Stelle doppelt und dreifaach ausgeben müssen. So dass sich die Frage stellt, ob die Chèques-service überhaupt Sinn machen. Während die Kürzung der Schecks für den Musikunterricht von inländischen Kindern für Schlagzeilen sorgte, war den meisten Zeitungen die Ungerechtigkeit, dass Grenzgänger womöglich weiterhin weitgehend von den Chèques service ausgeschlossen bleiben, kaum eine Zeile wert. Die Arbeitnehmerkammer will Ende der Woche mit einem Kommunikee auf die anhaltende Diskriminierung der Grenzgänger hinzuweisen.