Alexis Tsipras macht sie wahnsinnig – das war an den Gesichtszügen von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch bei der Griechenlanddebatte im Europaparlament (EP) in Straßburg deutlich abzulesen. Mit steinerner Miene verfolgte er die Rede des griechischen Premierministers, der kurz zuvor unter lautem Beifall und vereinzelten Buhrufen in den Plenarsaal eingezogen war. Der Sieger des Referendums vom Sonntag sprach von Demokratie und den schwierigen Bedingungen, unter denen das griechische Volk eine mutige Entscheidung getroffen habe. Seine eigenen Äußerungen hielt Juncker, der Verlierer des Referendums, so knapp wie nur möglich.
So blieb es dem alten Haudegen und liberalen Fraktionsführer im EP, Guy Verhofstadt, überlassen, Tsipras lautstark, quasi ohne Mikrofon die Leviten zu lesen. Als er Tsipras sagte, nie habe ein griechischer Premierminister ein stärkeres Mandat gehabt, um Griechenland zu verändern, und dafür konkrete Reformvorschläge mit Umsetzungskalender forderte, verging dem Syriza-Führer kurz das Siegerlächeln. Denn in der Tat, das ist der Nebeneffekt des gewonnenen Referendums, war der Druck auf Athen nie größer, greifbare Reformvorschläge auf den Tisch zu legen.
Dass die Griechen das am Dienstag, als sich die Euro-Finanzminister und die Staats- und Regierungschefs zu Sondersitzungen in Brüssel trafen, nicht taten, hat die Verantwortlichen der anderen Euro-Länder extrem verärgert. Pierre Gramegna lobte zwar am Mittwoch, als er die Luxemburger Abgeordneten im Parlament über die neuesten Entwicklungen informierte, die Sprach- und Wirtschaftskenntnisse des neuen griechischen Finanzministers Euclid Tsakalotos, der als deutlich umgänglicher gilt als sein Amtsvorgänger Yanis Varoufakis. Der war am Montag zurückgetreten, um die Verhandlungen nicht zu behindern – insofern ist der wirtschaftliche Putsch der Geldgeber gegen die linke Regierung in Athen zumindest teilweise geglückt. Dass Tsakalotos eineinhalb Tage nach dem Referendum das einseitige Hilfsgesuch an den ESM nicht zur Untersuchung vorlegen konnte, das Athen bis auf wenige Passagen anders formuliert bereits eine Woche vorher verschickt hatte, während den griechischen Banken das Geld ausgeht, fand nicht nur Gramegna völlig inakzeptabel. Tsakalotos hatte am Dienstag nur handschriftliche Notizen dabei. Das Hilfsgesuch an den ESM, das formal gebraucht wird, um überhaupt Verhandlungen über ein neues Hilfsprogramm starten zu können, verschickte Athen am Mittwoch, nach dem Euro-Sondergipfel.
Ob die Vorgehensweise der griechischen Regierung Ausdruck ihrer Hilflosigkeit ist, sie einfach unfähig ist, konkrete Reformvorschläge zu formulieren, oder ob dahinter eine Strategie steckt, ist Ansichtssache. „Es geht hier nicht um die Frage, ob zuerst die Henne oder das Ei da war“, sagte Guy Verhofstadt am Mittwoch im Europaparlament. Aber genau darum geht es seit Monaten. Die Griechen wollen erst einmal sicherstellen, dass ihre Banken wieder öffnen können und sie die nächsten Wochen meistern können, in den Rückzahlungen an die EZB und andere Geldgeber in Milliardenhöhe anstehen. Außerdem wollen sie eine Zusage, dass die griechische Schuld restrukturiert wird. Danach könnten Strukturreformen folgen, durch die Steuerhinterziehung und Korruption bekämpft und vor allem die Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werden soll.
Deutschland aber fordert eine andere Reihenfolge: Zuerst sollen die Strukturreformen ausformuliert werden, damit überhaupt über einen Hilfsantrag für ein drittes Programm diskutiert werden könne, so Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstagabend in Brüssel. Dabei hält Merkel selbst ein drittes, mehrjähriges Programm für notwendig. Die neuen Maßnahmen müssten noch weiter gehen als die, die das griechische Volk am Sonntag im Referendum ablehnte, weil das Programm länger andauern soll. Danach könnte eventuell über eine kurzfristige Brückenfinanzierung geredet werden, damit Griechenland es überhaupt schafft, im Euro zu bleiben, bis ein neues Programm verhandelt werden, beziehungsweise anlaufen kann. Und erst danach, so Merkel, könnte über die Tragfähigkeit der griechischen Schulden diskutierte werden. Aber: „Ein Haircut kommt nicht in Frage. Das ist Bail-out innerhalb der Währungsunion und das ist verboten“, unterstrich die Bundeskanzlerin, das sehe nicht nur sie so.
Dabei zeigt die Schuldenanalyse des Internationalen Währungsfonds (IWF), die am vergangenen Freitag zur Freude von Athen in Washington veröffentlicht wurde, dass die Schuldenlast Griechenlands erdrückend ist. Kann Athen keine höheren Haushaltsüberschüsse produzieren – dass das unmöglich ist, darüber war man sich auch schon in der Eurozone einig – dann, meint der IWF: „haircuts on debt will become necessary“. Dass der IWF dieses Dokument vor dem Referendum ins Netz gestellt hatte, ärgert die Verantwortlichen der Eurozone und der EU sehr. IWF-Chefin Christine Lagarde war beim Euro-Sondergipfel am Dienstag nicht dabei.
Dass Griechenland nun dennoch Strukturmaßnahmen vorlegt, ohne dass es ein Engagement für eine Umschuldung gibt, wird nicht zuletzt daran liegen, dass die EZB Griechenland in der Mangel hat. Denn während die Verantwortlichen der Euroländer und der EU Griechenland mit Hinweis auf die Schlangen vor den Geldautomaten vorwerfen, die Situation zu verschlimmern, erhöhte die Zentralbank diese Woche noch einmal den Druck auf Athen.
Was die EZB in den vergangenen Monaten mit Griechenland gemacht hat, verglich nicht nur Yanis Varoufakis Berichten zufolge mit Waterboarding. Nach Varoufakis Besuch in Frankfurt entschied die Zentralbank am 4. Februar, de facto die griechischen Banken von den normalen Refinanzierungsgeschäften auszuschließen, indem sie Griechenland-Anleihen als Garantien ablehnte. Seither hängen die griechischen Banken am Tropf der Notfallversorgung und erhalten stets nur so viel Liquidität, wie sie zum Überleben brauchen. Griechenland, dem private Anleger 2014 wieder ein wenig Geld geliehen hatten, war auch durch diese Entscheidung wieder von den Privatmärkten ausgeschlossen. Welche Bank würde schon Wertpapiere kaufen, die sie nicht als Garantie einsetzen könnte? Mit der gleichen Drohung, die Ela-Versorgung zu kappen, hatte die EZB 2010 Irland überzeugt, ein Hilfsprogramm anzunehmen, und 2013 die widerspenstigen Zyprioten gebändigt.
Weil die Vorgängerregierung von Syriza mit der Umsetzung des zweiten Hilfsprogramms scheiterte, hatte Griechenland auch in den Monaten vorher keine der darin vorgesehenen Hilfszahlungen mehr erhalten. Finanzminister Pierre Gramegna selbst hatte noch vergangene Woche bedauert, dass diese Milliarden nicht überwiesen würden, weil Griechenland den Verhandlungstisch verlassen und damit das zweite Hilfsprogramm am 30. Juni geendet hatte. Doch seit Januar hat Griechenland auch Schulden zurückgezahlt, beispielsweise an den IWF. Das Geld dafür hat die Regierung an allen Ecken zusammengekratzt. Banken in Notfallmodus, der Staat auf Sparkurs – alles in allem keine guten Bedingungen, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen.
Am Montag verschärfte die EZB die Bedingungen zur Versorgung der griechischen Banken mit Notliquiditäten und reduzierte damit effektiv die Geldmenge, die ihnen zur Verfügung steht – damit tauchte sie Tsipras‘ Kopf einmal unter Wasser. Am Mittwoch ließ ihn die EZB kurz Luft schnappen, indem sie entschied, die Decke für die Ela-Versorgung unverändert bei 89 Milliarden Euro zu belassen (siehe auch den Artikel auf Seite 3). Dann drückte EZB-Ratsmitglied Christian Noyer die griechischen Verantwortlichen noch einmal unter Wasser. In einem Interview erklärte er, die EZB werde die Notfallversorgung einstellen, falls Griechenland keine Einigung finde oder nach dem IWF auch gegenüber anderen Geldgebern säumig werde.
Mit dieser Drohung im Genick bleibt Tsipras kaum Spielraum. So erklärt sich, warum sich Athen von französischen Beamten bei der Ausarbeitung von Reformvorschlägen helfen lässt, die denen ganz ähnlich sind, die Tsipras, beziehungsweise das griechische Volk per Referendum abgelehnt haben. Ob sie die deutsche Regierung überzeugen können, wird sich spätestens am Sonntag zeigen.