Die Ingenieure am Forschungsbereich Bauwesen der Universität Luxemburg sind selber überrascht. Da publizieren sie seit gut drei Jahren Fachartikel auf Fachartikel über den Energieverbrauch Luxemburger Gebäude, und die Pressestelle der Uni macht das stets publik, aber kaum jemand nimmt Notiz davon. Dagegen schlug die Nachricht, dass sie die Frage „Wie genau sind unsere Energiepässe?“ zu beantworten versucht haben, vor drei Wochen wie eine Bombe ein und die Schockwellen treiben noch immer durchs Land.
Tom Eischen, der sehr diskrete Regierungskommissar für Energie im Wirtschaftsministerium, sah sich veranlasst, im RTL-Fernsehen zu erklären, die Uni-Publikation stelle nicht etwa „das System der Energiepässe infrage“. Der Verband der Energieberater und -zertifizierer beteuerte in einer Pressemitteilung, seine Mitglieder verrichteten ihren Job wirklich gewissenhaft. Die Chambre immobilière hat sich bisher nicht öffentlich geäußert; wer bei ihr nachfragt, erfährt aber, dass sie den in der Zeitschrift Bauphysik publizierten Artikel (siehe auch d’Land, 30.5.2014) für „sehr unglücklich“ hält.
Das hat natürlich alles ziemlich politische Gründe. Was das Forscherteam der Uni um Professor Stefan Maas anhand der Energiepässe von 125 Einfamilien- und 105 Mehrfamilienhäusern ermittelt hat, ist schon spektakulär: In Einfamilien-häusern wird durchschnittlich um 74 Prozent weniger Energie verbraucht als in den Pässen berechnet wurde, in Mehrfamilienhäusern liegt der tatsächliche Endenergieverbrauch sogar um durchschnittlich 103 Prozent niedriger.
Dabei dürfte es sogar Laien einleuchten, dass ein Energiepass, der für ein Gebäude ausgestellt wurde, nichts über dessen Nutzer sagt. Wenn in zwei Häusern identischer Energieklasse die Bewohner des einen Hauses in keinem Zimmer je die Heizung aufdrehen, die Bewohner des anderen dagegen jede Stube voll heizen, ist der Heizenergieverbrauch in beiden Häusern zwangsläufig sehr verschieden. Aber pikanterweise schreiben die Uni-Forscher, die Diskrepanz von 74 bis 103 Prozent lasse sich höchstens zu 33 Prozentpunkten aus dem Nutzerverhalten erklären. Der große Restunterschied gehe zum einen darauf zurück, dass die großherzogliche Verordnung über die Energiepässe unterstellt, in jedem beheizbaren Raum herrschten einheitlich 20 Grad Celsius. Und dass andererseits der technische Leitfaden im Anhang der Verordnung zu pessimistische Annahmen über die Energieeffizienz der Häuser je nach Baujahr macht. So kann es kommen, dass unsanierte Altbauten am Ende „besser sind als ihr Ruf“, wie die Forscher schreiben.
So eine Nachricht erregt wahrscheinlich vor allem deshalb viel Aufsehen, weil draußen im Lande viele Leute sich fragen, wozu der Energiepass denn gut ist, der bei jedem Neubau, jeder Veräußerung, jeder Vermietung, jeder Änderung am Bau und sogar vor dem Abriss eines Gebäudes vorliegen muss. Bei Verkäufen von Einfamilienhäusern und Apartments interessiert die Energieklasse überhaupt nicht. Solange die Preise für einen Altbau bei 80 bis 85 Prozent der Preise für einen Neubau liegen, und nicht eher bei 50 Prozent wie in den Nachbarländern, dürfte das auch so bleiben. Unter Immobilienmaklern wird auch erzählt, dass im Grunde kein Vermieter eines Altbaus potenziellen Mietern einen Energiepass vorlegt. Wieso sollte er auch, wenn allein der Markt das kontrolliert und vor allem erschwingliche Mietwohnungen knapp genug sind, dass die wenigsten potenziellen Mieter so dumm sein werden, Wohnungsbesitzer mit Fragen nach dem Energiepass zu ärgern.
Solche Zustände sprechen sich im kleinen Land schnell herum. Wie auch Erzählungen über Experten, die Häuser telefonisch begutachten würden, statt sich an Ort und Stelle zu begeben, oder die vor Ort einmal durchs Haus laufen und wieder verschwinden, statt gewissenhaft den Bau zu inspizieren. Was an Kommentaren auf rtl.lu einging, nachdem der Fernsehsender am 2. Juni seinen Beitrag über die Pässe ausgestrahlt hatte, kündet davon. Solchen Klagen gibt der Uni-Bericht Nahrung, wenn er andeutet, dass Experten, um sich das Leben zu erleichtern, zur Aufstellung des Energiepasses womöglich ganz einfach die unverbindlichen Richtwerte aus dem Leitfaden übernehmen.
Kontrollieren könnte das allenfalls das Wirtschaftsministerium. Aber bisher fand, vor zwei Jahren, erst eine Stichprobenkontrolle von Energiepässen statt. Die zweite folgte dieses Frühjahr. Regelmäßige Kontrollen wird es erst in Zukunft geben. Am Donnerstag vergangener Woche trat eine kleine Änderung an der großherzoglichen Energiepass-Verordnung in Kraft, die aus den Kann-Bestimmungen zu den Kontrollen Muss-Bestimmungen gemacht hat. Künftig wird das Wirtschaftsministerium Kontrollen auf Basis einer Datenbank vornehmen, in die jede Energiepassberechnung eingeht. Die Datenbank ist man schon dabei zu füllen; in ein paar Monaten sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Dann könnte das Ministerium anhand sämtlicher Pässe selber berechnen, was die Energie-Forscher der Uni für eine Stichprobe getan haben.
Daran liegt es auch, dass man im Ministerium ziemlich sauer und nervös ist wegen der Publikation vom Uni-Campus Kirchberg. Die Debatte über die Energiepässe wollte man selber steuern und entscheiden, wann sie beginnt. Immerhin: Dass in sämtlichen Pässen der tatsächliche Energieverbrauch nachgetragen werden muss, steht schon seit 2007 in der Energiepass-Verordnung. Das gilt für Neubauten wie für Altbauten, so dass die Diskussion, die nun stattfindet, über kurz oder lang sowieso fällig gewesen wäre. Im Ausland, in Deutschland zum Beispiel, ist so viel Transparenz nicht gewollt: Da wird der Pass „berechnet“ und der tatsächliche Verbrauch interessiert nie.
Wer über die Pässe in aller Ausführlichkeit diskutieren will, muss sich allerdings ein paar auch politischen Herausforderungen stellen. Manche sind zunächst rein technisch. Wie etwa die, dass Energiexeperten es für absurd halten, dass für Wohngebäude der Energieverbrauch „berechnet“ wird, während er für Nutzgebäude tatsächlich ermittelt werden muss. Weshalb in Häusern mit einem kleinen Laden im Erdgeschoss und Wohnungen in darüberliegenden Etagen zwei Pässe nötig sind.
Oder der Umstand, dass auch vor dem Abriss eines Gebäudes ein Energiepass vorliegen muss, weil ein Abriss einer „Änderung“ am Gebäude gleichkommt. Besitzer und Experten behelfen sich in der Praxis, indem sie ein Wohngebäude so herrichten, dass es nicht mehr der Definition für ein Wohngebäude entspricht, die in der Energiepassverordnung steht: Reißt man die Ziegeln vom Dach, baut die Heizung aus oder durchtrennt – die einfachste Methode – die Heizungsrohre auf einem Zentimeter Breite, ist das Nicht-Wohngebäude fertig und die Abrissgenehmigung wird auch ohne Energiepass erteilt.
Viel politischer stellt sich die Frage, ob die bisher in den Pässen angegebenen Verbrauchswerte die Hausbesitzer zu unnützen Investitionen veranlasst haben. Umso mehr, als die Berater parallel zum Energiepass Empfehlungen zur energetischen Sanierung des zertifizierten Gebäudes geben. Allein 2013 wurden 1 860 energetische Sanierungen staatlich bezuschusst. Manche Experten halten aber beim aktuellen Stand der Dinge auch die Einspartipps für problematisch – wie ein Inge-nieur, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will: Müssen die Empfehlungen doch laut einem Rundschreiben des Wirtschaftsministeriums vom 6. Oktober 2009 auf Basis der damals geltenden Strom-, Gas- und Heizölpreise auch in geldwerten Einsparungen ausgedrückt werden – und das über 20 Jahre hinweg. Welchen Aussagewert aber kann das haben, wenn nicht nur niemand die Energiepreisentwicklung vorhersehen kann, sondern die Pässe obendrein Altbauten schlechter rechnen, als sie sind, und an Einsparungen mehr versprechen, als zu haben ist? Sensibilisiert zum Energiesparen haben die Pässe auf jeden Fall. Eine ganze Branche im Handwerk heranzubilden halfen sie auch. Aber stimmt die Richtung in jeder Hinsicht?
Zumal man einen Altbau kaputtsanieren kann. Architekten und Ingenieure wissen, wie schnell sich an der kalten, der Außenwand zugewandten Seite nachträglich wärmegedämmter Altbaufassaden Kondenswasser absetzt, das von der Dämmschicht aufgesogen wird wie ein Schwamm. Mit der Zeit kann das schlimmstenfalls das ganze Gebäude ruinieren. Zu allem Überfluss sind Dämmstoffe in sehr unterschiedlichem Maße ökologisch unbedenklich und ausgerechnet der Allrounder Styropor ist besonders umweltschädlich und überdies feuergefährlich (siehe den unten stehenden Text).
Eine gute Nachricht lautet, dass im Wohnungsbauministerium ein allgemeiner Gebäudepass konzipiert wird, der nicht nur über die Energieeffizienz eines Gebäudes informiert, sondern auch über den Aufwand an „grauer“ Energie zur Herstellung der Baustoffe und über deren Gefährungspotenzial für Mensch und Umwelt. Daneben aber stellt sich die Frage, welche Zeichen man mit dem Energiepass oder einem „Gebäu-depass plus“ energiepolitisch setzen will.
Denn was die Uni-Forscher ebenfalls herausgestellt und schon vor drei Jahren in Publikationen beschrieben haben, ist dies: Der Energieaufwand zum Heizen wird immer kleiner, und auch ganz ohne Energiepass erfüllten zum Beispiel Niedrigenergiehäuser schon vor sieben Jahren ihren Zweck. Dagegen steigt der Stromverbrauch im Gebäudebereich kontinuierlich.
Das ist deshalb relevant, weil alle politischen Initiativen der EU letztlich den Verbrauch an „Primärenergie“ senken wollen, also den Einsatz fossiler Energieträger. Das soll die Treibhausgasemissionen senken und die Union unabhängiger von Brennstofflieferungen aus gepolitisch sensiblen Regionen machen. Primärenergie meint aber nicht nur Heizenergie, sondern „alles“ an Endverbrauch. Doch im Primärenergiekonsum waren zwischen 1995 und 2010 hierzulande nur neu gebaute Wohnhäuser und Schulen um 25 Prozent effizienter als Altbauten geworden. Neu gebaute Bürogebäude dagegen waren um 250 Prozent schlechter – des Stromverbrauchs für Klimaanlagen wegen. In Zukunft jedoch müssen, das ist neu, für Nutzgebäude nicht nur Energiepässe erstellt, die Pässe müssen auch öffentlich gut sichtbar an den Gebäuden ausgehängt werden. Dann dürfte sich zeigen, dass gläserne Bürogebäude derartige Energieverschwender sind, dass man Fragen nach Effizienz womöglich ganz neu stellen muss.
Doch in Luxemburg war Energiepolitik bisher stets pragmatisch und opportunistisch. An die Berechnung der Energiepässe wurden nicht zu hohe Anforderungen gestellt, um ihre Aufstellung nicht zu teuer zu machen. Kontrollen wurden erst einmal selten vorgenommen, um die Experten nicht zu verärgern. Strom und Gas sind hierzulande besonders billig, weil das Standortpolitik ist. Diesen Rhythmus haben Uni-Forscher gestört, als sie einmal ihrer Rolle in der Gesellschaft gerecht wurden: unabhängige Denker zu sein.