Kann es das geben: Ein Treffen von Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften, von Ärzten, Apothekern, Laborbetreibern und Krankenhausdirektoren, auf dem ein Gesundheits- und Sozialminister Reformvorschläge macht, und anschließend gibt es gar keine Diskussion?
Leicht vorstellbar ist es nicht, doch am Mittwoch vergangener Woche lief das Frühjahrstreffen der Krankenkassen-Quadripartite so ab. Nachdem die Versammlung aufgehoben war, brach jedoch der Unmut sich Bahn. Gewerkschaftler waren enttäuscht, der Generalsekretär des Arbeitgeberverbands UEL unzufrieden. Der Ärzteverband AMMD vermisste den „roten Faden“ in den Vorschlägen von Minister Mars Di Bartolomeo (LSAP); Krankenhausdirektoren waren entsetzt.
So unverständlich sind die Reaktio-nen allerdings nicht. Zum einen, weil manche sich mit der großen Politik überlagern. Wenn UEL-Generalsekretär Pierre Bley wegen des für 2011 erneut absehbaren Defizits in der Gesundheitskasse CNS meint: „Wer ausgeglichene Maßnahmen will, der darf nicht bis zum Herbst warten“, dann verlangt er von Di Bartolomeo etwas politisch ebenso Unmögliches wie Carlos Pereira von der Exekutive des OGB-L, der vom Minister gern wüsste „ob er nun für oder gegen Beitragserhöhungen und eventuell die Aufhebung des Beitragsplafonds ist“. Denn solange die Tripartite noch tagt, für die die Regierung durchsetzte, dass dort über die Sozialversicherung nicht diskutiert werde, wird der Sozialminister sich kaum zur Defizitbehebung äußern.
Der andere Grund, weshalb das Treffen der Gesundheits-Akteure so merkwürdig verlief, hat damit zu tun, dass der Minister seit Anfang des Jahres in sieben Arbeitsgruppen über Strukturreformen diskutieren und dort ausloten ließ, was konsensfähig wäre. Wer an der Quadripartite teilnahm, erwartete vom Minister eigene Vorschläge, „doch dann sahen wir nur eine Powerpoint-Diashow“, erregt sich Carlos Pereira. Der Minister dagegen hätte auf der Quadripartite am liebsten noch weiter „an strittigen Punkten gefeilt“, erklärt er dem Land. Deshalb seien seine Ideen „nur so grob“ präsentiert worden und könnten „missverstanden werden“.
Dass man ihn falsch verstanden habe, ist das Signal, das Mars Di Bartolomeo in die Kulissen der Gesundheitsszene sendet, von wo aus ihm nun anhaltender Wind ins Gesicht bläst. Seit der Quadripartite wird die Frage gestellt, ob die Reform einen Piloten hat.
Denn für „grob“ muss man nicht unbedingt halten, was der Minister vergangene Woche an die Wand projizieren ließ. Für Claude Schummer, den Generalsekretär der AMMD, ist, was auf den Dias des Ministers steht, vor allem unvollständig. Generell findet er, dass die Anliegen des Ärzteverbands in Di Bartolomeos Ausführungen recht gut aufgehoben wurden: „Wir haben uns in den Arbeitsgrupen auch sehr stark eingesetzt.“ Und im Unterschied zum Krankenhaus-Dachverband EHL, der Entente des hôpitaux, verfüge man über eine „Vision“ für das Luxemburger Gesundheitswesen, nicht zuletzt für die Spitalmedizin.
Ist das so wichtig? Eindeutig ja. Die vom Minister angestoßene Reformdiskussion hat ziemlich technische Gegenstände. Im Unterschied zu „Gesundheitsreformen“ im Ausland steht in Luxemburg trotz erneuter Defizitaussichten für die CNS keine fundamentale Änderung bei der Finanzierung der Krankenversicherung zur Debatte; es geht um keine „Kopfpauschale“, nicht um ein Ja oder Nein zu privater Vorsorge. Die Versicherten können davon ausgehen, dass mit der Reform alles besser für sie wird: Für sozial schlechter Gestellte soll der Tiers payant social eingeführt werden, so dass sie künftig keine Gesundheitsleistung mehr vorab bezahlen müssen. Ein Gesetz eigens über die Patientenrechte soll unter anderem die Mediation im Streitfall regeln. Und nur wer das möchte, kann sich, sogar mit „Anreizen“ versehen, einen „Vertrauensarzt“ suchen. Dieser Médecin de référence würde dann zum Mitverwalter für das noch einzurichtende elektronische Patientendossier und dem Patienten als Ratgeber bei der Suche nach anderen Dienstleistern zur Seite stehen. Welche Anreize der Minister setzen wird, will er sich „noch einfallen“ lassen. Die Reformgesetzentwürfe sollen erst am 23. April in den Regierungsrat.
Die Zukunft der Krankenhausmedizin ist zwar auch eine Qualitätsfrage und deshalb alles andere als uninteressant für Patienten. Überdies erfolgt in Luxemburg der Großteil der Gesundheitsversorgung in der Klinik. Gerade deshalb jedoch entscheiden sich an der Klinikmedizin auch die Perspektiven der „liberalen Medizin“ hierzulande, mit der garantierten Unabhängigkeit und Therapiefreiheit für den Arzt und der Honorierung pro Behandlungsakt.
Die Argumentation des Ärzteverbands geht so: Weil die EU-Verträge Niederlassungsfreiheit vorschreiben und jeder sich hier niederlassende Arzt automatisch und sogar obligatorisch mit der Gesundheitskasse konventioniert wird und bei ihr abrechnen darf, locken die noch immer recht gut gefüllten Kassen immer mehr Ärzte aus den Nachbarländern hierher; viele sogar nur tageweise.
Statt ein Ende der Konventionierung zu fordern wie vor zehn Jahren – immerhin verlören dann alle Mediziner an Einkommenssicherheit –, schlägt die AMMD bereits seit vergangenem Jahr vor, das Angebot außerhalb der Kliniken zu vergrößern. Würde, was derzeit noch in den Polikliniken der Spitäler geleistet wird – etwa Röntgenuntersuchungen – auch in Arztpraxen möglich, nähmen nicht nur die Verdienstmöglichkeiten für die Ärzte zu. „Die Kliniken“, sagt AMMD-Generalsekretär Schummer, „könnten sich dann auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, Spezialisierungen eingehen, kritische Massen komplizierterer Behandlungen bilden und Kompetenzzentren gründen.“ Wie es im Regierungsprogramm steht. Außerdem glaubt Schummer dass außerhalb der Kliniken solche Leistungen „effizienter und billiger“ wären.
Um die Krankenhäuser in diese Richtung zu bewegen, müsse die Gesundheitskasse „sich überlegen, was sie finanziert“, sagt Schummer. „Noch handeln die Spitäler sektiererische Budgets aus.“ Sinnvoller sei ein Budget für alle – und es rigoros durchzusetzen.
Weil sich von diesen Vorschlägen einiges in der Diashow des Ministers wiederfindet, sind die Klinikchefs so aufgebracht. Während Claude Schummer findet, der Minister hätte deutlicher einen „Auslagerungsprozess“ erwähnen sollen, statt lediglich die „précision des missions et du fonctionnement des policliniques“ anzukündigen. Dem entgegnet CHL-Generaldirektor André Kerschen, im Vergleich der globalen Aktivität der Krankenhäuser habe die Poliklinik „nur marginale Bedeutung“ und könne kaum etwas zu tun haben mit Spezialisierung und kritischen Massen. Stattdessen laufe man Gefahr, eine wichtige Verbindung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu kappen. Dass diese Verbindung eine Stärke des Luxemburger Systems sei, etwa im Vergleich zu Deutschland, sagt auch Claude Braun, medizinischer Direktor des Hôpital de Kirchberg.
Während Schummer entgegnet, man habe vorgeschlagen, eine Kommission solle das gesamte Gesundheitswesen neu denken, und dem Minister vorhält, diesen Vorschlag ebenfalls nicht übernommen zu haben, fürchten die Klinikdirektoren durch ein Globalbudget, das alle zwei Jahre vergeben werden soll, an Handlungsspielraum zu verlieren. „Wir sind schon jetzt zwischen Hammer und Amboss“, sagt Zitha-Klinikchef Philippe Turk, und André Kerschen meint, ein Globalbudget könne nicht „den Besonderheiten und unterschiedlichen Missionen der Spitäler Rechnung tragen“.
Tatsächlich aber verbirgt sich hinter all dem noch eine andere Diskus-sion: Sollen die heimischen Kliniken zur Full-cost-Buchhaltung übergehen, und wenn ja, was folgt daraus noch, vor allem für das Spital als Unternehmen und die darin Agierenden?
Full cost brächte für jede Behandlung einen Preis. Dank einheitlicher Buchungsregeln würden nicht nur die Spitäler in ihren Gestehungskosten transparent. Durch eine Codierung der Diagnosen und Behandlungen nach internationalen Standards würden sie auch international vergleichbar. All das will auch die AMMD.
Die Frage ist nur, ob auch die Honorarabrechnung des Arztes, die „individuell“ erfolgt, mit erfasst werden soll, und ob das Auswirkungen auf die Tarifnomenklatur haben soll. Letzten Endes müsse man so weit gehen, meint Michel Nathan, Generaldirektor des Süd-Klinikverbunds Centre hospitalier Emile Mayrisch. Das habe nichts zu tun mit einem Angriff auf die liberale Medizin. „Tarife schaffen Anreize.“ Die aktuelle Nomenklatur schaffe dagegen viele Einkommensungerechtigkeiten unter den Ärzten. „Könnte man sie so reformieren, dass der Arzt besser interessiert wird, im Krankenhaus als Organisation mitzuarbeiten, ließe sich die Klinik über Anreize steuern.“ Nathan hielte das für „intelligenter“ als eine Steuerung des Betriebs über Vorschriften. Für Claude Braun vom Kirchberg-Klinikum müsste eine neue Nomenklatur nicht zuletzt den „Zeitfaktor“ eines ärztlichen Behandlungsaktes enthalten.
Das klingt theoretisch, zielt aber in den Kern der Tätigkeit der Klinikärzte, denen Unabhängigkeit garantiert ist. Über ihren Status zitiert die AMMD den Verwaltungsrichter und Publizisten Georges Ravarani: „L’hôpital ne fournit que l’environnement matériel, le support et ‚prête‘ en quelque sorte son personnel au médecin.“ Die Klinik habe streng genommen keine Patienten.
Die Frage sei aber, wie die Klinikmedizin beschaffen sein soll, sagt EHL-Präsident Paul Junck. Das müsse der Minister klären; der Klärungsbedarf nach der Quadripartite sei „groß“. Junck erinnert daran, dass der Wirtschafts- und Sozialrat in seinem Jahresgutachten 2009 meinte, „les hôpitaux, dont les plus grands font partie des principaux employeurs du pays, sont probablement les seules entreprises dont les dirigeants n’ont aucune influence sur une grande partie de l’activité“.
Genau hier verlaufen die „roten Linien“ für die AMMD, die eine Vollversammlung am 3. März beschloss. Die Diashow des Ministers bleibt zu den heiklen Themen recht vage. Sagt etwa, das Verhältnis von Klinikarzt zu Klinikleitung und die Stellung des neu eingeführten médecin-coordinateur würden „eventuell“ über großherzogliche Verordnungen geregelt und die bestehende Nomenklatur „mit Referenz an eine ausländische“ reformiert. Dabei hatte Di Bartolomeo in den Arbeitsgruppen die Übernahme des französischen Tarifwerks diskutieren lassen.
An solchen Zusammenhängen liegt es, dass es hinter den Kulissen heißt, er sei eingeknickt gegenüber der AMMD. Was Mars Di Bartolomeo entschieden von sich weist: „Ich stehe nicht auf einer anderen Seite.“
Gegenüber dem Land ist der Minister zu ein paar Präzisierungen bereit: Einen „Auslagerungsprozess“ aus den Spitalpolikliniken werde es nicht geben. Auch die ambulante Chirurgie, die er ausbauen will, bleibe in Verantwortung der Spitäler. Die Full-cost-Analyse werde auch die Honorierung der Mediziner erfassen. „Darüber diskutiere ich nicht. Alles andere ist keine Transparenz.“ Globalbudgets könne es erst geben, wenn die neue Buchhaltung läuft. Das „Statut“ des Arztes werde er klären. Falls es stimme, dass ein Krankenhaus nur die „Werkstatt“ für den Arzt sei, dann könne eine Direktion und ein Verwaltungsrat auch nicht mithaftbar sein für einen Fehler des Arztes. Dem sei aber nicht so. „Und wenn eine Klinik unter Einspardruck gesetzt wird, dann kann es nicht sein, dass sie keine Handhabe hat auf die Aktivität des Arztes.“ Er sei es doch, der die Klinikaktivität auslöst.
Wie das Verhältnis zwischen Arzt und Klinik anders kodifiziert werden könnte als heute, will Mars Di Bartolomeo nicht sagen. Richtig sei, dass man sich Geschäftsmodelle vorstellen könnte zwischen einem als Subunternehmer agierenden Arzt und einer Klinik, aber ob er so weit gehen würde wie in Kanada, wo für freiberufliche Klinik-Belegärzte gilt: „Le médecin négocie ses privilèges tous les 3 ans“, während in Luxemburg solche Veträge in der Regel à durée indéterminée abgeschlossen werden, kommentiert der Minister ausdrücklich nicht. Und ob die Reform des Tarifwerks mit „Referenz“ an ein ausländisches Modell hieße, dieses zu übernehmen und anzupassen, oder doch vor allem ein Anpassen der Luxemburger Tabellen gemeint ist, wie die AMMD es wünscht, aber Jahre dauern würde, wird vielleicht auch erst in drei Wochen klar sein.
Die Zeit bis dahin wollen AMMD und EHL noch nutzen.