Nach dem Naschen, nach dem Essen Zähne putzen nicht vergessen, steht auf dem Zahnputzbecher. Der Becher in Signalorange steht wie kein zweiter für die medizinische Vorsorge, die jeder Schüler in Luxemburg durchläuft und deren Reform die Regierung schon vor Jahren ankündigt hat, die aber erst jetzt Gestalt annimmt.
Rund 50 000 Jugendliche, 30 0000 Primär- und 20 000 Sekundarschüler, untersuchen die Mediziner jedes Jahr, gucken in die Ohren, testen die Sehkraft der Augen, geben Tipps für die Körper- und Zahnpflege. Stellt eine Ärztin eine Auffälligkeit fest, wie Übergewicht, Vernachlässigung, Fehlhaltungen oder eine Sehstörung, werden die Eltern informiert. So sollen gesundheitliche Risiken frühzeitig aufgedeckt und behandelt werden.
Sorge Nummer eins ist seit einiger Zeit, wie in anderen westlichen Ländern auch, die Übergewichtigkeit. Fast zwölf Prozent aller untersuchten Jugendlichen brachten 2008 zu viele Kilos auf die Waage. Das Gesundheitsministerium startete daher 2006 zusammen mit dem Erziehungs-, Sport-, und dem Familienministerium die Kampagne Gesond iessen, méi bewegen. Ein Aktionsplan soll Schulen, Sportvereine und Gemeinden helfen, mehr für die körperliche Fitness der Jugend zu tun. Über hundert Projekte wurden seitdem unter dem Label ins Leben gerufen, was sie konkret bewirken, ist jedoch schwer zu sagen.
„Unsere Datenlage ist verbesserungsfähig“, sagt Yolande Wagener, Leiterin der schulmedizinischen Abteilung im Gesundheitsministerium, auf Land-Nachfrage. Weil Langzeitstudien über die gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen in Luxemburg fehlen, sei es nicht möglich, die Wirkung derartiger Gesundheitsprogramme systematisch zu erfassen. Dabei gäbe es eine Grundlage: Der carnet médical scolaire, der vom Schularzt angelegt und nach jeder Visite aktualisiert wird, enthält alle Informationen über die Gesundheit eines Schülers. Anders als in den meisten anderen medizinischen Bereichen jedoch lässt die Informatisierung der Schulmedizin noch immer auf sich warten, Luxemburgs Schulärzte müssen die blauen Hefte umständlich per Hand ausfüllen. Das kostet Zeit und Personal, das an anderer Stelle benötigt wird.
Und das ist nicht das einzige Problem. „Le rôle de la médecine scolaire sera renforcé dans l’enseignement fondamental et secondaire et permettra une demarche proactive et ciblée. Une collaboration accrue avec les communes servira à sensibiliser notamment les jeunes pour les modes de vie sains“, verspricht das Regierungsprogramm der schwarz-roten Koalition. Vier Jahr zuvor hatte dieselbe Regierung zugesagt, die Aktivitäten des schulmedizinischen Dienstes „en vue d’aboutir à un suivi médical de la population scolaire et d’assurer son éducation à la santé seront appuyées et harmonisées“. Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) unterstrich in seiner Rede zur Lage der Nation vergangenen Mai die Bedeutung der präventiven Medizin, die „besonnesch wichteg“ sei „fir déi sozial méi Schwaach, déi sech keng privat Präventioun kënne leeschten“ und nahm damit Bezug auf die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Für sie beinhaltet Gesundheit neben physischen und psychologischen Faktoren auch sozio-ökonomische Aspekte, eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die sich auch der Gesetzgeber zueigen machte, als er 1987 die juristische Grundlage für die Schulmedizin schuf und sie damit beauftragte, „[de] surveiller la santé et promouvoir le bien-être de l’enfant“. Dass Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern ein höheres Krankheitsrisiko haben, belegen ausländische Studien wie die europäische Socioeconomic Inequalities in Health von 2008, an der Luxemburg aber nicht teilgenommen hat. In der WHO-Jugendgesundheitssstudie von 2002, an der sich Luxemburg beteiligte, wurde zwar der soziale Hintergrund der befragten Kinder erhoben, der Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und verschiedenen gesundheitlichen Aspekten wurde aber nicht näher aufgeschlüsselt. Eine für Ende 2007 versprochene Folgestudie erschien im Ausland, der Länderbericht Luxemburg aber fehlt noch immer. Offenbar hatte es Fehler bei der Datenübertragung gegeben, die bis heute noch nicht behoben wurden.
Das ist ärgerlich und bedauerlich zugleich: Je älter die Daten werden, desto geringer wird ihre Aussagekraft. Außerdem hat das Gesundheitsministerium eine günstige Gelegenheit verpasst, den ganzheitlichen Ansatz der Schulmedizin mit Zahlen zu untermauern und eine nationale Jugend-gesundheitsstudie dauerhaft zu etablieren. Die Vorgängerstudie von 2002 hatte neue, zum Teil beunruhigende Fakten über Ernährung, Schulklima, Leistungsstress oder sexuelle Belästigung in der Familie zutage gefördert. Dieser breite Ansatz soll, geht es nach den Schulmedizinern, auch in der Reform zum Tragen kommen. Doch der Gesetzentwurf, der dem Parlament vorliegt und von der zuständigen Gesundheitskommission diskutiert wird, ist mit einer Seite sehr dünn ausgefallen und regelt zudem nur Technisches. Außer einer sprachlichen Anpassung ans neue Grundschulgesetz und dem Verweis auf zwei Règlements grand-ducaux, die „le contenu et la fréquence des mesures et des examens de médecine scolaire“ präzisieren sollen, ist von einer Neuerung nicht viel zu erkennen. Die Empfehlung des Staatsrats, „la cour d‘école est, par ailleurs, l‘endroit idéal et universel pour faire bouger les jeunes“, klingt alles andere als innovativ und erinnert eher an Freiluftübungen im Stile eines Turnvater Jahn.
Dabei liegt ein gemeinsam von Schulmedizinern aus dem Ministerium, aus den Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen ausgefeiltes Konzept schon seit 2009 vor. Mit bunten Powerpoint-Präsentationen, im Handbuch zur Sozialarbeit, auf der nationalen Gesundheitskonferenz setzen sich dessen Autoren für eine integrierte und Fachdisziplinen übergreifende Gesundheitserziehung, eine bessere Früherkennung und mehr Vorsorge ein. „Wenn wir unseren Kindern ein gesundes Leben im Sinne der WHO sicher wollen, bedeutet das vor allem, alle Akteure besser zu vernetzen“, so Yolande Wagener.
Erste Schritte in diese Richtung wurden in der ersten Amtsperiode von Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo (LSAP) veranlasst: In der Drogenbekämpfung, bei der Psychia-trie-Reform und eben auch bei der Schulmedizin sitzen Vertreter aus verschiedenen Ministerien an einem Tisch und beraten gemeinsam über ihr Vorgehen. Für die Kampagne Gesond iessen, méi bewegen kamen Vereine, Schulen und Gemeindeverantwortliche zusammen, um den Aktionsplan zu koordinieren, auch wenn dieser zunächst nur ohnehin geplante Veranstaltungen und Aktivitäten auflistete. Die Betroffenen sehen das gleichwohl als ein Erfolg. „Vernetzung ist kein roter Knopf, auf den man drücken kann“, sagt Wagener. Es gelte, Vorbehalte abzubauen, Kompromisse zu finden, andere Sichtweise und Arbeitsmethoden zu akzeptieren. All das brauche Zeit.
Gegen mehr gesundheitliche Vorsorge und kostensparende Synergien hat zumeist niemand etwas. Schwierig wird es bei politisch delikaten Themen wie der Kinderarmut – oder wenn es um konkrete finanzielle Zusagen geht. Als US-Präsident Barack Obama für den Kampf gegen falsche Ernährung eine Milliarde US-Dollar versprach, rechnete jemand im Gesundheitsministerium flugs um: rund eine Million Euro würde der gleiche Aufwand für Luxemburg bedeuten. Geld, das der Haushaltsentwurf für 2010 nicht vorsieht. Die Kampagne Gesond iessen, méi bewegen muss laut Ministerium dieses Jahr mit 120 000 Euro auskommen, rund zehn Prozent weniger als 2009. Und das ist nicht die einzige Sparmaßnahme. Insider beziffern die Einsparungen im Bereich der Gesundheitsvorsorge auf bis zu 20 Prozent. Keine gute Ausgangslage, zumal in der Abteilung für Schulmedizin außer der Leiterin und der Sekretärin keine Fachkraft da ist, um eine so umfassende Reform stemmen zu können.
Zwar sehen die Reformvorschläge vor, die Frequenz der Schuluntersuchungen zurückzufahren – von fünf auf drei Jahre in der Grundschule und von drei auf zwei Jahre in der Sekundarschule – und einen stärkeren Akzent auf die Gesundheitserziehung und koordinierte Vor- und Nachsorge zu legen. Auch die Dokumentation und statistische Erfassung sollen professionalisiert werden. Das wiederum geht nicht ohne Weiterbildungen. Eine engere Koordination und Konzertation der Akteure – vom Arzt, über Schulpsychologen und Lehrer bis hin zu den Eltern – soll zudem dazu beitragen, Risikokinder besser erkennen und ihnen und ihren Familien helfen zu können. Das geht nicht ohne zusätzliche Mittel, die nicht vorgesehen sind: Der Posten im Budgetsentwurf 2010 für die „mise en route de la réforme de la médecine scolaire au niveau national“ sieht 5 000 Euro vor.