Vor über zwanzig Jahren wurde in Luxemburg die erste Fachberatungsstelle für überschuldete Verbraucher gegründet (1991)1. Auslöser waren die rasante Verbreitung der Verbraucherkredite, die zunehmende Komplexität der privaten Verschuldungsproblematik und die damit einhergehende Überforderung traditioneller sozialer Einrichtungen, den überschuldeten Verbrauchern eine adäquate Beratung zukommen zu lassen. Hinzu kam, insbesondere nach der Umsetzung der zweiten EU-Bankenrichtlinie (1989), eine Intensivierung der grenzüberschreitenden Kreditaufnahmen durch die im Großherzogtum Luxemburg wohnhaften Verbraucher. Aus einer im Jahre 1995 durchgeführten Analyse von 200 luxemburgischen Schuldnerakten der Inter-Actions (Faubourgs) Beratungsstelle, die im Auftrag der Europäischen Kommis[-]sion durchgeführt wurde, ging hervor, dass in 120 Akten, mindestens, eine Forderung eines nicht in Luxemburg beheimateten Gläubigers vorlag.2 Eine Untersuchung jüngeren Datums des CEPS-Instead3 zeigt, dass eine Mehrheit (61 Prozent) der luxemburgischen Haushalte Darlehensrückzahlungsverpflichtungen hat, sei es im Rahmen von Hypothekendarlehen und/oder aufgrund von Verbraucherkrediten. Nach dieser Studie sollen drei Prozent der Haushalte überschuldet sein.
Überschuldungprobleme stehen keineswegs ausschließlich mit Krediten oder, wie manchmal behauptet, mit leichtsinnigem Verbraucherverhalten im Zusammenhang. In Luxemburg leben 15 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Gegenüber 2003 verzeichnet dieser Anteil eine deutliche Zunahme. Je nach Haushaltszusammensetzung liegt der Netto-Mindestlohn (SSM) unter dieser Grenze und gewährleistet, trotz regelmäßigem Erwerbseinkommens, nicht unbedingt ein Leben ohne konkretes oder diffuses Armutsrisiko. Obgleich die sogenannte Armutsverschuldung lange Zeit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit und der Sozialpolitik verschwunden war, tritt sie nun wieder vermehrt in Erscheinung.
Angesichts eines massiven Anstiegs der Privatüberschuldung als Folge der globalen Rezession Ende der 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind immer mehr europäische Gesetzgeber dazu übergegangen für den hoffnungslos überschuldeten Verbraucher Lösungen zu entwickeln. In Luxemburg wurde mit dem Gesetz vom 8.12.2000 eine kollektive Schuldensanierungsprozedur ins Leben gerufen, die jedoch mit Schwachstellen behaftet ist. Genannt seien hier die Ausklammerung mittelloser Schuldner (in erster Linie so genannte Armutsschuldner) und das Fehlen einer Restschuldbefreiung.
Bis zum Gesetz vom 8.12.2000 beruhte die Praxis der Schuldnerberatung ausschließlich auf der Vermittlung zwischen Schuldnern und Gläubigern, ohne gesetzlichen Rahmen (Media[-]tion). Darüber hinaus war die Schuldnerberatung kaum theoriegeleitet und in erster Linie technisch-pragmatisch ausgerichtet. Die analytische Kompetenz, das soziale Engagement und die Vermittlungskompetenz der SchuldnerberaterInnen bildeten die wichtige Grundlage des Erfolgs, dieser neuen Form der sozialen Arbeit. Nach langem Drängen der Beratungsstellen, erfolgte im Jahr 2000 die Verabschiedung der Loi sur le surendettement, womit die Schuldnerberatung, zum einen eine formale Anerkennung4 und zum anderen, durch die kollektive Sanierungsprozedur, die Verfügung über ein unterstützendes Instrumentarium erhielt, das ihr die praktische Arbeit erleichterte5.
Seit 2009 liegt nun ein Gesetzesprojekt vor6, das die im Laufe der vergangenen Jahre gemachten Erfahrungen berücksichtigen soll. Eine wesentliche Neuerung besteht in der Einführung einer zusätzlichen „phase de la procédure de rétablissement personnel“, wodurch zukünftig, unter bestimmten Voraussetzungen, die Restschuldbefreiung ermöglicht und für manchen Schuldner die Chance eines finanziellen, sozialen und, gegebenenfalls, eines beruflichen Neubeginns („fresh start“7) eröffnet würde. Allerdings ist das Verfahren in der aktuellen Fassung derart kompliziert und, voraussichtlich, von außerordentlich langer Dauer (über 14 Jahre), dass das Prinzip eines Neubeginns ad absurdum geführt wird. Eher ist davon auszugehen, dass der überschuldete Verbraucher, falls er bis zum Ende der Prozedur durchhält, psychisch am Ende seiner Kräfte sein wird. Dagegen liegt im Nachbarstaat Deutschland ein Gesetzentwurf vor, in dem die Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens von derzeit sechs auf drei Jahre verkürzt werden soll.8
Nicht erst seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und der so genannten Eurokrise, stellt man Europaweit einen Vertrauensrückgang der Bürger- und Bürgerinnen in die politische Gestaltungsfähigkeit der Regierenden fest. Slogans wie „mehr Flexibilität“ beziehungsweise „Flexicurity“, „mehr Eigenverantwortung“, „selektive soziale Unterstützung für die richtig Bedürftigen“9 undsoweiter verstärken diese Tendenz. Eine längerfristige Lebensplanung, besonders für die Lohn- und Gehaltsempfänger im privaten Sektor, ist zunehmend erschwert. Konkrete Tatsachen untermauern dies:
- Eine Zunahme der Arbeitslosigkeit,
- eine Zunahme der Teilzeitarbeit,
- eine Zunahme diskontinuierlicher Arbeitsbiographien10,
- die Erhöhung des Rentenalters
- und schließlich die jüngste Index-reform.
Hinzu treten strukturelle Veränderungen im Familienbereich, durch Trennungen und Scheidungen, durch eine Zunahme von Einzelperson-Haushalten und dem Anstieg Alleinerziehender.
Mit dem Hinweis auf die öffentlichen Haushalte und auf deren unumgängliche Sanierung werden von der Regierung Sparmaßnahmen eingeleitet, die voraussichtlich zum Aufleben der Armutsverschuldung führen werden. Angesichts dieser Entwicklung wird die Schuldnerberatung zukünftig vor ganz neue Herausforderungen gestellt werden.
Die Arbeitslosigkeitsquote hat in Luxemburg, trotz mancher Gesetzesüberarbeitungen und irreführender Bezeichnungen, wie Loi contribuant au rétablissement du plein emploi11 ungekannte Ausmaßen erreicht und liegt heute bei fast sieben Prozent. Davon sind Tausende Arbeitsuchende der Altersgruppe zwischen 26 und 60 betroffen. Nicht wenige von ihnen fallen in die Kategorie der Langzeitarbeitslosen (über 12 Monate arbeitslos). Der sichere Arbeitsplatz und die berufliche Kontinuität, wie man sie aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kannte, gehört, für immer mehr Beschäftigte, zur Ausnahme. An dessen Stelle tritt zunehmend die diskontinuierliche Erwerbsbiografie mit häufigem Stellenwechsel und Perioden von Arbeitslosigkeit. In den meisten Fällen führt diese Entwicklung zu Einkommenseinschnitte, die eine Lebensplanung mittelfristig beeinträchtigen beziehungsweise verhindern wird. Es bedeutet aber auch, dass längerfristig eingegangene finanzielle Verpflichtungen nicht immer eingehalten werden können und gegebenenfalls kurzfristige Überbrückungsmaßnahmen erforderlich werden. Diese Entwicklung stellt neue Herausforderungen an die Schuldnerberatung. Zum einen, werden die Beraterinnen und Berater zusätzlich mit einer neuen Klientel konfrontiert, deren Verschuldungspro[-]blematik zwar akut ist, aber nicht unbedingt längerfristiger Maßnahmen bedarf. Zum anderen, dürfen für den Klienten keine längeren Wartezeiten bis zum Beratungsgespräch entstehen und müssen kurzfristig Lösungsstrategien erarbeitet werden. Auch die So[-]zial[-]ämter werden sich auf diese Entwicklung einstellen müssen.
Im Zuge der weiteren Liberalisierung der Wirtschaft und der damit einhergehenden Proletarisierung von gro[-]ßen Teilen der Mittelschicht wird der Anteil Letzterer an den Ratsuchenden bei den Sozialämtern, besonders im Zusammenhang mit Primärschulden (Miete, Energie undsoweiter), und bei Schuldnerberatungsstellen steigen. Nach Aussagen der Abgeordneten und Escher Sozialschöffin Vera Spautz lässt sich diese Entwicklung bereits heute in Esch/Alzette feststellen.12
Ein besonderes Problem stellt die hohe Arbeitslosenrate bei den Jugendlichen dar. „Die Aufnahme einer Erwerbsarbeit ist (…) der entscheidende Schritt ins Erwachsenenalter. Wird er nicht gewährt, entziehen wir Jugendlichen das soziale Fundament für das „Erwachsenwerden“.13 In vielen Fällen handelt es sich hierbei um Jugendliche ohne eine abgeschlossene Ausbildung, deren gesellschaftliche Integration und Konsumentensozialisation gefährdet ist. Sie sind allerdings umgeben von den Verführungen einer ausgeprägten Konsumgesellschaft und riskieren für die Zukunft eine neue Generation überschuldeter (weil arbeitsloser) Verbraucher zu bilden.
Im Laufe der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat die Zahl der Ehescheidungen ständig zugenommen, um sich um die Wende zum 21. Jahrhundert zu stabilisieren. Während die finanziellen Konsequenzen einer Scheidung für Männer in der Regel begrenzt sind oder sogar eine Erhöhung ihres Lebensstandards zur Folge haben, führt eine Ehescheidung bei Frauen meist zu einer erheblichen Senkung ihres Lebensstandards und zu einem deutlichen Anstieg des Armutsrisikos14.
Ein-Eltern-Haushalte stellen mit zehn Prozent einen kleinen Anteil an der Gesamtzahl der Haushalte mit Kindern15 in Luxemburg dar. Allerdings, verzeichnet deren Armutsrisiko in den letzten Jahren eine dramatische Zunahme. Hiervon sind in erster Linie Frauen (und deren Kinder) betroffen.
Ferner lässt sich eine drastische Zunahme der Einperson-Haushalte feststellen, deren Anteil von 16 Prozent (1970) auf 30 Prozent (2001) zugenommen hat. Dieser Haushaltstyp16 ist, besonders bei kritischen Lebensereignissen, wesentlich armutsanfälliger als Haushalte mit zwei Erwachsenen, mit bis zu zwei Kindern.
Die Entwicklung am Arbeitsmarkt dürfte mittel- bis längerfristig zu einer Zunahme der Altersarmut führen. Arbeitslosigkeit und unterbrochene Erwerbsbiografien werden nicht ohne Folgen für das spätere Rentenniveau bleiben. Dazu kommt der Vorbehalt vieler Arbeitgeber im Bezug auf die Einstellung älterer Arbeitnehmer. Wahrscheinlich wird zukünftig der Anteil derjenigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die vor Erlangung des Rentenalters endgültig aus dem Erwerbsleben scheiden, zunehmen. Ihre Rentenansprüche werden damit entsprechend geringer ausfallen. Diese Tatsache könnte eine weitere Verstärkung durch eine, kürzlich vom Finanzminister Luc Frieden angesprochene Herabsetzung des Mindestlohnes erfahren.
Insbesondere Angehörige verschiedener Berufsgruppen, die aufgrund eines körperlichen oder physischen Verschleißes vorzeitig ihren Beruf nicht weiter ausüben können beziehungsweise erwerbsunfähig sind, riskieren im Alter eine erhebliche Einschränkung ihres Lebensstandards. Die von den Befürwortern der Heraufsetzung des Rentenalters angeführten Argumente der gestiegenen Lebenserwartung ist nur bedingt gültig, da die durchschnittliche Lebenserwartung weniger geschulter Arbeitskräfte und von Geringverdienern schon heute unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt beziehungsweise entgegen dem allgemeinen Trend sogar sinkt.17
Zur Aufrechterhaltung eines gewissen Lebensstandards im Alter, der nicht allzu große finanzielle Abstriche erzwingt, wird eine individu-elle Vorsorge immer aktueller. Diese Teilprivatisierung der Altersvorsorge belastet nicht nur das Einkommen während des aktiven Erwerbslebens, sondern erfordert ein Minimum an Finanzkompetenz beim Versicherungsnehmer.
In diesem Zusammenhang sei auf den, seit mehreren Jahren in politischen Reden und Stellungnahmen, populären Begriff der „Eigenverantwortung“ hingewiesen. Dabei liegt die Betonung auf „eigen“. Durch Zufügung des Adverbs „mehr“ entsteht daraus die beliebte Losung „mehr Eigenverantwortung“. Der verstärkte Appell an die Eigenverantwortung des Bürgers stimmt misstrauisch, da er besonders im Zusammenhang mit dem Abbau sozialer Errungenschaften steht. Er wird hier nicht im Sinne von mehr Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gebraucht, sondern es handelt sich um eine Aufforderung an den Bürger, sich selbst mehr um eigene, individuelle Lösungen für gesellschaftlich erzeugte Probleme zu bemühen. Im Rahmen einer rein ökonomischen Logik werden existentielle Risiken immer mehr zu einer Privatangelegenheit umdefiniert.
Ausgehend von der Erwartung eines weiteren Rückzugs des „Sozialstaates“ und zunehmender Armut vieler Bürger und Bürgerinnen werden auch in Luxemburg neue Formen von Verbraucherkrediten in Erscheinung treten. Es geht dabei um Kleinstkredite mit verhältnismäßig langer Laufzeit und hohen Zinssätzen, wie man sie zum Beispiel seit längerem aus dem Vereinigten Königreich und Italien kennt. Sie ermöglichen zwar Niedrigeinkommensbeziehern, notwendige Bedarfsgüter zu erwerben oder zu ersetzen, drängen sie jedoch in ein Sondersegment des Verbraucherkredites.18 Eine Fahrt über die Grenze ist hierzu nicht erforderlich, da die Kreditangebote einfach über das Internet beziehbar sind und die Abwicklung per Post stattfindet.
Für die Schuldnerberatungsstellen hat dies zur Folge, dass die Gläubiger sich zunehmend internationalisieren werden und dies einen erhöhten Arbeitsaufwand bei der Bearbeitung von Schuldnerakten mit sich bringen dürfte.
Mit der Multi-Ethnizität der Gesellschaft ist darüber hinaus die unterschiedliche kulturelle Praxis bei der Verschuldung zu berücksichtigen. So ist die Freundeshilfe bei den Angehörigen der Balkanstaaten stärker ausgeprägt, als dies in den Westeuropäischen Staaten der Fall ist. Das bedeutet, dass in Überschuldungslagen, neben den „üblichen“ Gläubigern oft Forderungen aus privaten Arrangements auftreten. Die Bewertung dieser Schuldenarten stellt eine besondere Herausforderung für die Berater und Beraterinnen dar.
Angesichts vorgenannter Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung, lässt sich folgendes vorläufiges Fazit formulieren:
Die Schuldnerberatungsstellen werden im Laufe der nächsten Jahre immer mehr mit den Effekten wachsender Armut und sozialer Ungleichheiten konfrontiert werden. Der Anteil der Liberalisierungsverlierer und mittellosen Schuldner an der Gesamtzahl der Ratsuchenden könnte erheblich steigen. Da letztgenannte Gruppe kaum über die erforderlichen Mittel verfügt, um im Rahmen eines Sanierungsplanes ihre Gläubiger zu befriedigen, wird eine Schuldensanierung in vielen Fällen nur möglich unter der Voraussetzung eines teilweisen oder gänzlichen Forderungsverzichts von Seiten der Gläubiger. Zur Lösung dieser Probleme sind jedoch nicht nur die Schuldnerberatungstellen, sondern auch die Commission de médiation und nicht zuletzt der Gesetzgeber besonders gefordert.
Die Entlastung des „Sozialstaates“ wird dazu führen, dass dem Einzelnen, in zunehmendem Maße, die Sorge für private Lebensrisiken übertragen wird. Dies bedeutet auch, dass kritische Lebensereignisse, die zur Auslösung von Überschuldungsproblemen führen, und insofern diese nicht bereits im Vorangegangenen implizit erwähnt sind, in Zukunft kaum abnehmen. Da die Geschichte der modernen Verbrauchersozialisierung inzwischen über ein halbes Jahrhundert alt ist, und der Konsum als „Mitgliedsbeitrag für die Gesellschaft und der Kampf um die Mitgliedschaft (…) eine nicht enden wollende Aufgabe (…)“19 beinhaltet, der sogar zur Bürgerpflicht erklärt wurde, bleiben den Beratungsstellen auch weiterhin die Klienten, deren Verbraucherverhalten außer Kontrolle geraten ist, erhalten.
Von den Verbrauchern werden immer mehr Entscheidungen abverlangt, die in einem zunehmend komplexen wie komplizierten Umfeld, eine steigende Planungs- und Finanzkompetenz erfordern. Für die Schuldnerberatungsstellen hat dies einerseits, höchstwahrscheinlich, einen steigenden Beratungsbedarf zur Folge, und andererseits muss die Frage nach der Beratungsfunktion gestellt und beantwortet werden. Kann die Beratung sich angesichts steigender Lebensrisiken weiterhin auf die Betreuung bereits überschuldeter Klienten und die Sanierung ihrer Schulden beschränken oder müssen die BeraterInnen im Vorfeld eventuell einzugehender Verpflichtungen zum Beispiel im Zusammenhang mit privaten Vorsorgeentscheidungen (Zusatzversicherungen, private Rentenversicherung undsoweiter) aktiv werden können? Jedenfalls darf es nicht so sein, dass die „Vorsorgeberatung“ in finanziell existen[-]tiellen Fragen ausschließlich kommerziellen Anbietern überlassen wird.
Während schon heute die SchuldnerberaternInnen über grundlegende Finanz- und Vertragskenntnisse verfügen müssen, dürften die Anforderungen in dieser Hinsicht höher werden und die Kompetenzen traditionell ausgebildeter Sozialpädagogen beziehungsweise Sozialarbeiter übersteigen.
Mit der Konversion des Staates zur Ideologie der Deregulierung und Privatisierung werden weite Bereiche der Daseinsgrundfunktionen des Einzelnen von Märkten bestimmt. Das gilt für den Wohnungsmarkt, für den Bereich der Freizeit und Erholung, für wachsende Anteile der Gesundheits- beziehungsweise Altersvorsorge, für die Ausbildung undsoweiter. Für den Verbraucher beinhaltet dies die Übernahme zusätzlicher finanzieller Verpflichtungen, um dessen Marktwert oder dessen Existenz zu sichern, und somit ein erhöhtes finanzielles Risiko. Angesichts dieser Entwicklung, ist es keineswegs verwunderlich, dass das Europäische Parlament bereits 2008 einen Bericht über den Verbraucherschutz verfasst hat, wobei der Schwerpunkt auf eine bessere Aufklärung und Sensibilisierung der Verbraucher in Kredit- und Finanzfragen gelegt wurde20. In dem Bericht heißt es unter anderem: „Zum einen werden die Verbraucher mit einem immer größeren und komplexeren Angebot an Waren und Dienstleistungen konfrontiert. Zum anderen hält die Information und Beratung von Kunden nicht mit der Komplexität von Finanzprodukten Schritt. Die Verbraucher werden im Bereich der Finanzfragen immer anfälliger.“ In diesem Bericht werden wichtige Maßnahmen zum Erwerb von Finanzwissen vorgeschlagen. Besonders der Vorschlag, Finanzthemen in den Schulunterricht einzugliedern beziehungsweise die Vermittlung von Finanzwissen in die nationalen Lehrpläne aufzunehmen, sei hier betont. Ein spezifisches Fach „praktische Finanzkompetenz“ sollte verpflichtend für sämtliche Schüler und Schülerinnen in den Sekundarschulen sein.
Des Weiteren sind spezifische Konzepte für die Verbesserung der finanziellen Kompetenz von Erwachsenen besonders bildungsferner Gruppen, Menschen mit niedrigem Einkommen und Einwanderer zu erarbeiten. Ohne Zweifel dürften die Schuldnerberatungsstellen aufgrund der dort vorhandenen Expertisen bei der Erstellung genannter Konzepte einen wichtigen Beitrag leisten können.
Die Vermittlung von Finanzkompetenzen, reicht alleine jedoch nicht aus, um nachhaltige Effekte im Verbraucherverhalten zu erzielen. Wesentlich schwieriger wird es, wenn im Rahmen eines Gesamtpräventionskonzeptes versucht werden soll, dem Verbraucher mindestens ansatzweise die notwendige Einsicht zu vermitteln, in welch enormen Ausmaß seine „individuelle Fähigkeit des Wollens, Wünschens und Sehnens“21 in der Konsumgesellschaft als Folge des Konsumismus ihn von sich selbst entfremdet. Es sind die modernen Formen des Konsums, „die die Reproduktion des Systems, die gesellschaftliche Integration, die Ausbildung so[-]zia[-]ler Schichten und die Entwicklung menschlicher Individuen koordiniert und darüber hinaus eine wichtige Rolle im Prozess der Ausbildung der Identität von Einzelnen oder von Gruppen, sowie in der Auswahl und Umsetzung individueller Lebensstrategien, spielt.“22 Nur durch Reflexion und Bewusstwerdung dieser Tatsachen lässt sich innerhalb gewisser Grenzen eine Verhaltensänderung bei Verbrauchern initiieren. Dabei stößt man in der Regel auf erheblichem Widerstand, da der Einzelne nicht unberechtigt befürchtet, aus dem System herauszufallen. Diese Furcht führt dazu, dass überschuldete Personen oft lange warten, bis sie Hilfe suchen. Die Angst, real arm und somit Nicht-Konsument zu sein, nicht mehr die wichtigsten gesellschaftlichen Pflichten erfüllen zu können, verspüren sie als Makel. Denjenigen, die zum Konsumverzicht gezwungen sind, droht der gesellschaftliche Ausschluss. Für die Gesellschaft sind sie nicht notwendigerweise „totes Humankapital ohne Rendite“, wie Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, dies einmal im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit ausgedruckt hat, aber jedenfalls ohne Rendite für die Konsumgesellschaft.