Als Grenzgänger zwischen dem "Maitrank"-Universum des "Areler Land" und dem diesseits gelegenen Tal der sieben Schlösser kennt man ja das zugleich neckisch-verbindende und ebenso trennende Verhältnis zwischen Belgiern und Luxemburgern. Vor Jahren, als in Arlon noch das legendäre Goethe-Caféhaus bestand, eine mitternächtliche Anlaufstelle für Nachtfalter, die es dort bis zum Morgengrauen aushielten, pflegte der marokkanische Inhaber Momo seine Gäste mit Witzen über die Luxemburger Kundschaft zu unterhalten. Dass einem die Scherzworte oft genug bekannt vorkamen, hatte seinen einfachen und triftigen Grund: in Luxemburg erzählte man sich die gleichen Anekdoten über die belgischen Nachbarn.
Heute ist das Estaminet Goethe einer "boulangerie-pâtisserie" gewichen, Momo fährt Taxi, und die Witze sind nicht besser geworden. Aber Belgien, oder sollte man nicht besser von den vier Belgien (Wallonien, Flandern, die deutschen Ostkantone und die Hauptstadt Brüssel) schreiben, ist mit all seinen Paradoxen so einladend wie eh und je.
Seine Belgischen Eskapaden leitet der luxemburgische Autor und Redaktionsleiter des Binsfeld-Verlages Rob Kieffer mit einem Liebeskotau ein. Die Belgier seien königstreu bis ins Knochenmark, bemerkt er in seiner Einleitung, aber von einem anarchischen Geist, "wenn es darum geht, der Obrigkeit eins auszuwischen"; von ihrer "Nonchalance im Umgang mit amtlicher Bevormundung", ihrem Savoir-vivre und Bonvivantentum schreibt Rob Kieffer mit dem liebevollen Blick des Beobachters, der dem Charme der belgischen Sonderlinge hoffnungslos verfallen ist. "Dass die Belgier noch immer lieber vor einem vollen Humpen saßen, als die Nachbarn mit kriegerischen Gelüsten zu piesacken, wird besonders in ihrer Hauptstadt deutlich. In Brüssel wird nämlich keine schwerterschwingende Rachegöttin, kein sauertöpfischer Heiliger, kein medaillenüberhäufter Feldwebel in Ehren gehalten, sondern schlicht ein pinkelnder Bronzeknabe, das schelmische Manneken-Pis". Wer möchte Kieffer bei soviel gestandener Gemütlichkeit widersprechen, trotz - oder eingedenk - der Antwerpener Krawattenfaschisten und der "tueurs fous de Brabant"?
Nun ist das Wahrzeichen Brüssels zwar auch in den direkt angrenzenden Nachbarländern Belgiens ein Begriff. Aber obwohl Rob Kieffers 14 Reisereportagen jenseits des Bieräquators sich in der Hauptsache an eine österreichische Leseklientel richten - sie sind im renommierten Wiener Picus-Verlag erschienen -, führt der Autor uns mit seinen reich ausgestreuten Causerien in ein Land ein, das sich in dieser Form der Beschreibung, der Kenntnis und der Beobachtungsgabe auch der meisten seiner luxemburgischen Landsleuten entzieht. Mögen Tausende Luxemburger den volkstümlichen Flohmarkt zwischen der rue Haute und der rue Blaes bereits kennen gelernt haben, es dürfte ihnen dennoch der reiseliterarische Schlendrian und die Fixierung auf das Detail fehlen, die die unverwechselbare Qualität dieser Prosaskizzen ausmachen.
In einer rauchgeschwängerten Kneipe den "Arbeitslosen mit dem buntbemalten Gipsarm" Ellbogen an Ellbogen zum Eurokraten auszumachen, der am gleichen Tisch traumverloren in seinen soeben erstandenen Ansichtskarten aus der Belle Époque stöbert, während am Nebentisch von jenem muskulösen Pfarrer erzählt wird, der einst mit einer Riege von ebenso muskelgestählten Ministranten seine Messe gegen "rote" Freidenker und Unruhestifter verteidigte, dazu bedarf es geschulter Augen und Ohren. Zuweilen ironisch, aber nie ordinär und überheblich ist der Blick, den Kieffer auf dieses Land wirft.
Ob er über Föderalismus nachdenkt und Sprachenstreit, Brabanter Gotik und Leuwener kotmadams (dass Sie, verehrter Leser, Ihre Fantasie bei diesem flämischen Wort nicht auf abwegige Gedanken führt!), das Antwerpener Diamantenzentrum mit seinem letzten europäischen Judenghetto, Georges Simenons Hassliebe zu Lüttich und das megalomane Projekt, in den Brüsseler Himmel eine dreihundert Meter hohe Tintin-Rakete mit Restaurants, Ausstellungssälen und Boutiquen wachsen zu lassen, über des verstorbenen Königs Balduin gemutmaßte Vorliebe für Comics zum Nachteil der trockenen Lektüre von Akten und Protokollen, oder über die melancholische Todestrauer, die sich winters über das Hohe Venn legt: Rob Kieffer schreibt Reiseliteratur vom Besten und Feinsten.
Kein Wunder, dass diese Prosabrillanten in der Zeit, der FAZ und der Süddeutschen Zeitung publiziert wurden, kein Wunder auch, dass man die Textsammlung viel zu schmal geraten findet und dass man Kunstpausen zwischen den einzelnen Kapiteln einlegt, weil man das Gelesene hinauszögernd genießen will. So wie die Belgier ihre sechshundert Sorten ober- und untergärige, Geuze- und Hommel-, Lambic- und Trappisten-Biere eben auch nicht einfach hinunterstürzen, sondern degustieren.
Und wer zusammen mit der Lektüre ein synästhetisch-gastronomisches Gesamtkunstwerk und -vergnügen anstrebt, kann sich von Kapitel zu Kapitel, je nach Geschmack und korrespondierender Atmosphäre, Jacques Brel und ein belgisches Bier zu Gemüte führen. Zu der Brüsseler Stadtführung durch das ehemals anrüchige und heute mit Istanbuler Flair kokettierende Viertel der Marollen passt, klaro, ein Faro, von dem böse Zungen behaupten, es sei mit Brüsseler Abwasser gebraut; zum Brüggener Ausflug gehört eine Brugse Tripel, die Inspektion der Hasselter Genever-Destillerien lässt sich hervorragend mit einer La Wambrechies begleiten, die Beschreibungen der flämisch-bukolischen Mysterienspiele rufen nach einer Duwel ("Teufel"), und die schubertianische Winterreise ins Hohe Venn nach einer Super des Fagnes. Ach, darf Lesen schön sein!
Rob Kieffer: Büsser, Bürokraten und Bierologen - Belgische Eskapaden, Picus-Verlag, Wien 2000, 132 S. ca. 550 Fr.