Ob der Bauer heute kommt? Die Frage stellt der Präsident der Gesundheitskasse CNS sich neuerdings vor jeder Sitzung seines Vorstands. Der Bauer ist der Delegierte der Landwirtschaftskammer, der im Direktorium der CNS die Interessen der Landwirte vertritt. Weil die ihren eigenen Betrieb führen, zählt ihr Vertreter zu den Arbeitgeber-Delegierten an der CNS-Spitze. Kommt er zu den Vorstandssitzungen, ist die Runde beschlussfähig, weil wenigstens einer vom Patronat da ist. Denn die in der UEL, der Union des entreprises luxembourgeoises, zusammengeschlossenen Unternehmerverbände von der ABBL über die Fedil bis zur Handwerkerföderation betreiben seit vier Monaten eine Politik des leeren Stuhls im CNS-Vorstand.
Dass darüber bisher öffentlich noch nicht geredet wird, ist durchaus erstaunlich. Denn wenn der Bauernvertreter verhindert ist, dann ist die CNS an ihrer Spitze handlungsunfähig. Wie zuletzt am Mittwoch vergangener Woche. Da sollten unter anderem Änderungen der umstrittenen Poliklinikgebühr beschlossen werden. Doch da der Delegierte der Bauern erkrankt war und der Ersatz-Delegierte nicht rechtzeitig eintraf, fiel die Abstimmung aus.
Es leuchtet ein, dass Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) das Problem lieber diskret behandelt. Sonst sähe es so aus, als gebe es im Gesundheitswesen nach der Reform vom Dezember links und rechts Probleme, während Parteien, Unternehmerverbände und Gewerkschaften sich schon warmlaufen für die Pensionsreformdebatte.
Überraschender ist, dass die Gewerkschaften das Tun der UEL nicht als verantworgungslos anprangern. Doch die Delegierten von OGB-L, LCGB, CGFP und Landesverband im CNS-Vorstand dürfte es arrangieren, wenn die UEL fehlt. Womöglich könnten sich mit dem Bauernvertreter Entscheidungen durchsetzen lassen, die die UEL kaum mittragen würde. Am 10. November, als über den Haushalt der Gesundheitskasse für dieses Jahr abgestimmt wurde, hatte der Delegierte der Landwirtschaftskammer nicht mit der UEL gestimmt. So kam es auch zu jener Erhöhung des Kassenbeitrags, gegen die sich die UEL sechs Jahre lang gewehrt hatte. Das war der Auslöser ihrer Boykottaktion.
Die jedoch ist mehr als eine Trotzreaktion wegen um einen Promillepunkt erhöhter Beiträge. Es hat schon seinen Grund, dass die UEL ausgerechnet den CNS-Vorstand boykottiert, während sie neue Vertreter ins Centre commun de la Sécurité sociale ebenso entsandt hat wie in die Ständige Krankenhaus-Kommission. In der kleinen Tripartite vor drei Wochen deutete sie überdies an, wieder im Wirtschafts- und Sozialrat mitzuwirken.
Mit ihrem CNS-Boykott will sie den Sozialminister dazu bewegen, in eine Grundsatzdiskussion über die Verwaltung der Gesundheitskasse und die Stimmengewichtung an der CNS-Spitze einzuwilligen. Dazu hatte die UEL im September schon ein kurzes Papier veröffentlicht.
Derzeit hat der CNS-Vorstand 13 Mitglieder; sechs von der Arbeitgeber- und sechs von der Arbeitnehmerseite sowie einen dem Sozialminister unterstehenden Präsidenten. Zuständig ist der Vorstand für alle Fragen von Strategiebildung, Organisation und Tagesgeschäft. Ginge es nach der UEL, würde er durch einen Aufsichtsrat und eine Exekutiv-Direktion ersetzt. Während Letztere nur für das Tagesgeschäft zuständig und nicht von den Sozialpartnern besetzt wäre, träfe der Aufsichtsrat strategische und finanzielle Entscheidungen und kontrollierte deren Einhaltung. Angehören würden ihm, wie dem heutigen Vorstand, Vertreter von Staat, Unternehmern und Versicherten.
Ob der Sozialminister darüber mit der UEL in letzter Zeit tatsächlich so „positive Gespräche“ geführt hat, wie er sagt, scheint nicht so sicher: Zwar ist zumindest das, was zu dem UEL-Ansatz seit Herbst öffentlich kursiert, noch wenig konkret. Klar scheint aber, dass die Gesundheitskasse durch eine solche Umgestaltung ihrer Führungsorgane mehr Autonomie gegenüber dem Staat erhielte.
Paritätisch selbstverwaltet ist die Krankenversicherung schon heute. Überdies entscheidet laut Gesetz ihr Vorstand über Beitragserhöhungen genauso wie über Patienten-Eigenbeteiligungen und Leistungskürzungen. Das gleiche gilt für die Honorare und Budgets der mit der Kasse vertraglich gebundenen Dienstleister, von Ärzten über Physiotherapeuten bis hin zu Krankenhäusern. Doch falls ein Aufsichtsrat verpflichtet würde, die Erfüllung seiner eigenen Strategieentscheidungen zu überwachen, dürfte das nicht zuletzt die Verbindung zwischen dem Minister und dem ihm unterstehenden Kassenpräsidenten schwächen. Dass der Minister mitentscheiden kann, in welche Richtung die CNS zu marschieren hat, indem er dem Präsidenten vorgibt, bald mit der Gewerkschafts-, bald mit der Patronatsseite zu -stimmen, wäre dann viel schwerer möglich.
Die Autonomie der CNS zu stärken, entspricht eigentlich auch einer Gewerkschaftsforderung. So dass der Arbeitgeberverband die von ihm gewünschte Diskussion im Grunde einfacher hätte haben können als durch einen Boykott. Fragt sich nur, ob UEL und Gewerkschaften mit „mehr Autonomie“ dasselbe meinen.
Schon heute wären die Sozialpartner, würden sie sich einig im Vorstand der Kasse, kaum zu schlagen gegenüber dem Staat. Arbeitgeber und Gewerkschaften können durch eine Beitragsentscheidung Einfluss auf den Staatshaushalt nehmen. Steuert der Staat mit 40 Prozent doch den größten Teil der Einnahmen der CNS zu den Gesundheitsleistungen bei, und mit jeder Änderung des Beitragssatzes ändert sich der vom Staat zu überweisende Betrag automatisch mit. Noch immer erzählt man sich, wie 1991 während der Auseinandersetzungen um die große Krankenkassenreform unter Mady Delvaux-Stehres (LSAP) der junge Finanzstaatssekretär Jean-Claude Juncker von der CSV mit Gewerkschafts- und Patronatsvertretern stritt. Ob gegen Beitragsentscheidungen von ihrer Seite der Finanzminister wirklich kein Einspruchsrecht haben sollte, war die Frage. Man werde sich schon einigen gegen den Staat, meinten die Sozialpartner mit grimmiger Zuversicht.
Stattdessen aber setzen sich seither die großen wirtschafts- und sozialpolitischen Konflikte an der Spitze der CNS fort. Während die Unternehmervertreter um jeden Preis höhere Beiträge vermeiden wollen, geht es den Gewerkschaftsvertretern darum, das Maximum für die Versicherten herauszuschlagen und sie vor Sozialabbau zu schützen.
Dazu passte dann auch, dass Handels- und Handwerkskammer im Dezember in ihrem Gutachten zum Gesundheitsreformentwurf zwar beklagten, wie groß der Einfluss des Staates auf die CNS sei. Dennoch fanden sie, die Regierung könne mit ihrem Reformgesetz Ärzten und anderen Leistungserbringern ruhig noch höhere Sanierungsopfer abverlangen, obwohl das eigentlich die CNS zu beschließen hätte. Und dass ausnahmsweise von Staats wegen eine Beitragserhöhung verordnet werden sollte, kritisierten beide Kammern nicht als Einmischung in die Autonomie der Kasse, sondern als fahrlässige Erhöhung der Lohnnebenkosten.
Auch die Salariatskammer beschwerte sich in ihrem Gutachten zur Reform, dass die Regierung die Autonomie der CNS immer wieder untergrabe. Doch 2009 hatte der Sozialminister sich alten Ideen der Gewerkschaften angeschlossen, als er die nach der Finanz- und Wirtschaftskrise entstandenen Einnahmenausfälle der CNS durch eine Senkung der gesetzlichen Reserve ausgleichen wollte. Im Vorstand der Kasse gab es daraufhin keine Haushaltsdiskussionen mehr. Ihre Einigkeit erklärten Mars Di Bartolomeo und OGB-L am 6. Oktober 2009 in einer Pressemitteilung unmittelbar vor der Krankenkassen-Quadripartite. Dass OGB-L und LSAP-Minister noch erklärten, „darüber hinaus“ stelle sich allein die Frage „zusätzlicher Einnahmen“, war für die UEL erwartungsgemäß ein Affront.
Weil die Auseinandersetzungen über die großen Fragen, die auch mit Geld zu tun haben, an der Spitze der CNS bisher regelmäßig damit endeten, dass die eine Seite der anderen die Schuld gibt, und je nachdem auch dem Präsidenten, konnte bisher noch nicht der Beweis angetreten werden, dass „reelle Selbstverwaltung nur gegeben“ sei, „wenn die Präsidentschaft von den Sozialpartnern ausgeübt wird“. Das hatte in einem Tageblatt-Interview am 9. Juli 2003 OGB-L-Exekutivmitglied René Pizzaferri behauptet. Dreieinhalb Jahre später bestand die Möglichkeit zum Praxistest, als sich abzeichnete, dass der Präsident der damaligen Krankenkassenunion krankheitsbedingt monatelang abwesend sein würde. Nicht nur hätte ein Vizepräsident der Sozialpartner das Amt übernehmen können. Der Staat hätte überdies keinen Vertreter in der Kasse mehr gehabt und es hätte Stimmenparität geherrscht. Diese Gestaltungsfreiheit mochte zumindest der OGB-L nicht nutzen und setzte sich bei der Regierung dafür ein, dass durch einen Erlass der nächsthöhere Beamte der Kasse zum kommissarischen Präsidenten ernannt wurde.
Was andeutet, dass die Gewerkschaften einen „unternehmensähnlichen“ Umbau der CNS-Führung durchaus als Versuch verstehen könnten, sie strategisch zu schwächen. Ein „politischer“ Präsident, der dem Sozialminister untersteht, nutzt vor allem den Gewerkschaften. Dabei muss der Minister gar nicht der dem OGB-L nahestehenden LSAP angehören; auch ein Liberaler denkt an die Wähler.
Daran liegt es vielleicht, dass die UEL ihren CNS-Boykott noch immer aufrecht erhält: Diese Woche signalisierte der Sozialminister ihr seine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft über eine Führungsreform der CNS, aber auch nicht mehr. Folglich müssten die Sozialpartner unter sich abmachen, worüber verhandelt würde, und das würde schwer.
Je länger der Boykott aber dauert, desto prekärer wird die Lage an der CNS-Spitze. Wer weiß schon, wie lange der Bauer bereit ist, den Gesamt-Patron zu spielen und ob er nicht noch ein paar Mal fehlt zu den Vorstandssitzungen? Dann aber müsste der Sozialminister, wie es das Gesetz vorsieht, den CNS-Vorstand ermahnen, seine Arbeit zu machen. Klappt das nach zwei Ermahnungen noch immer nicht, müsste er die Krankenversicherung unter Zwangsverwaltung durch die Generalinspektion der Sozialversicherung stellen.