„Die Kompensation der Mindestlohnerhöhung und der Erhöhung der Krankenkassenbeiträge sind keine Lösungen. Es handelt sich lediglich um Schadensbegrenzung.“ So bewertete der Präsident der Chaux de Contern und des ehemaligen Industriellenverbands Fedil, Robert Dennewald, die Einigung, die Regierung und Unternehmerverbände am 15. Dezember getroffen hatten. Michel Wurth, Generaldirektor von Arcelor-Mittal und Präsident des Unternehmerdachverbands UEL packte das leicht diplomatischer ein und meinte, es sei „kein strukturelles Abkommen“, aber ein „nützlicher Fortschritt“ herausgekommen.
Über 200 Unternehmer, Vertreter großer Industrien, internationaler Banken und kleiner Handwerksbetriebe, Firmeninhaber und leitende Angestellte, vor allem Männer mittleren Alters in grauen Anzügen, einige jüngere Frauen im professionellen Tailleur, hatten sich am Dienstag in der Handelskammer auf Kirchberg eingefunden. Der Neujahrsempfang war in den großen, holzvertäfelten Konferenzsaal im Untergeschoss verlegt worden, zugleich als Arbeitssitzung, um den Verbandsmitgliedern das Dezember-Abkommen vorzustellen, und als Saalkundgebung. Hinter dem Pult fragte ein Powerpoint-Projektion: „Sortie de crise: Comment poursuivre nos efforts?“ Die Vorsitzenden und Funktionäre der Branchenverbände demonstrierten, allen Unkenrufen zum Trotz, gut gelaunte Geschlossenheit und wollten vor allem der Regierung zeigen, dass sie nun nicht mehr locker lassen wollen.
Denn die Tripartite-Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die Regierung nicht lange zögert, um mit dem Scheckheft den sozialen Frieden zu kaufen, aber dass sie regelmäßig abblockt, wenn es um die von den Unternehmern geforderten Strukturreformen geht. Nicht zuletzt, weil der OGB-L ziemlich erfolgreich die LSAP unter Druck setzt und neuerdings auf die Unterstützung von LCGB und CGFP zählen kann. „Wir haben uns Ruhe bis nach den Gemeindewahlen gekauft“, meinte der Bäckermeister und Vorsitzende des Handwerkerverbands, Norbert Geisen, beim Neujahrsempfang der Handwerker wenig später.
Michel Wurth formulierte das anders: „Die Tripartite gewährte ein Jahr Zeit, um Strukturreformen in Angriff zu nehmen.“ Und warnte die versammelten Unternehmer: Ohne einen „neuen Sozialpakt“ gebe es keinen Ausweg aus der Krise.
Nach Meinung der UEL ist die Tripartite im Frühjahr daran gescheitert, dass die Gewerkschaften die wirtschaftliche Lage anders einschätzten als Regierung und Unternehmer. Wenn man sich aber nicht über den aktuellen Ist-Zustand einigen kann, so überlegte die UEL, ist es vielleicht leichter, sich auf einen künftigen Soll-Zustand zu einigen. Die Tripartite solle sich makroökonomische Ziele vorgeben, wobei die zehn von der UEL vorgeschlagenen Ziele weitgehend den Wettbewerbskriterien entsprechen, welche die UEL dem Fontagné-Bericht Une paille dans l’acier von 2004 entnommen hatte, um einen eigenen Wettbewerbsindikator aufzustellen.
Danach soll die Tripartite künftig zuerst festlegen, um wie viel Prozent das Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren wachsen soll. Wobei die UEL in ihrem Annuaire de la compétitivité 2010 die Ansicht vertritt, dass jährlich sechs Prozent Wachstum nötig seien, um die Staatsfinanzen und die Krankenversicherung wieder ins Lot zu bringen sowie die Arbeitslosigkeit abzubauen. Daneben sollen sich Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer darauf einigen, welchen Anteil die einzelnen Branchen an der Volkswirtschaft haben sollen, um so die Abhängigkeit vom Finanzplatz zu verringern.
Weitere Ziele sollen die Entwicklung der Lohnstückkosten und der Inflationsrate im Vergleich zu den Konkurrenten, das heißt zuerst den Nachbarstaaten, vorgeben. Die UEL warnt, dass die Lohnstückkosten seit 2008 zwei bis drei Prozentpunkte über denjenigen des gesamten Euro-Raums liegen, und weist vor allem auf den Haupthandelspartner Deutschland, der seit Jahren eine drastische Deflationspolitik auf Kosten der Binnennachfrage betreibt. Ähnliches gilt für die Inflationsrate, wobei die Unternehmerverbände vor allem die automatische Indexanpassung für die in letzter Zeit wieder überdurchschnittliche Inflationsrate verantwortlich machen. Außerdem soll der Unternehmeranteil an den Sozialabgaben unverändert bleiben, wie es die Regierung im Dezember bis zum Ende der Legislaturperiode versprochen hat.
Vorgegeben sollen auch die Arbeitslosenrate und die Wachstumsrate der Beschäftigtenzahl werden. Der Statec erwartet für diese Jahr eine Zunahme der Beschäftigtenzahl um 1,5 Prozent und eine Arbeitslosenrate von 6,5 Prozent. Auch das Ausbildungsniveau der Wohnbevölkerung, beispielsweise der Anteil der Berufs- und Hochschulabschlüsse, soll festgelegt werden.
Schließlich soll die Tripartite das Haushaltsdefizit des Zentralstaats und der öffentlichen Verwaltung beschließen sowie die Staatsverschuldung einschließlich der „versteckten Staatsschuld“, das heißt der künftigen Ansprüche gegenüber der nach dem Umlageverfahren organisierten Rentenversicherung. Die Regierung hat sich vorgenommen, die öffentlichen Finanzen bis zum Ende der Legislaturperiode ins Gleichgewicht zu bringen; dabei bliebe aber der Staatshaushalt defizitär.
Mit ihrem Vorschlag, dass die Tripartite makroökonomische Ziele, vom Wachstum bis zur Arbeitslosigkeit, beschließen soll, setzen sich die sonst eher liberal gesinnten Unternehmerverbände selbstverständlich dem Vorwurf aus, ihr Heil in der Planwirtschaft zu suchen. Doch in Wirklichkeit fühlen sie sich im Einklang mit der Europäischen Kommission, die derzeit die „wirtschaftlichen Herausforderungen“ für Luxemburg in einem Jahreswachstumsbericht festlegt, der als Maßstab zur Aktualisierung des nationalen Stabilitäts- und Konvergenzprogramms während des „europäischen Semesters“ dienen soll. Auch der Spielraum der Tripartite innerhalb der einheitlichen Wirtschaftspolitik im Euro-Raum ist folglich begrenzt.
Die Herausforderung für die Tripartite bestünde aber weniger in der Festlegung makroökonomischer Ziele – wer wird sich schon gegen hohes Wachstum und niedrige Arbeitslosigkeit aussprechen? – als in der Wahl der Mittel, um sie zu erreichen. Denn sie führen mehr oder weniger zwingend zu den strukturellen Reformen, die bisher von den Unternehmen gefordert, von den Gewerkschaften abgelehnt wurden und an denen die Regierung sich vorbeidrückte. Und die Luxemburg in den nächsten Jahren wohl auch von der einheitlichen Wirtschaftspolitik im Euro-Raum vorgeschrieben bekommen dürfte.
Während der Tripartite vergangenes Jahr war eine Begrenzung der Indextranchen „unter den Tisch fallen gelassen worden“, die Flexibilisierung der Arbeitszeit „war tabu“, nannte Handwerkerpräsident Norbert Geisen am Dienstag die beiden Stichwörter, die ihm zu den Strukturreformen als erste einfallen. Aber am Ende könnte in einer globalisierten und liberalisierten Welt wohl der Abschied vom Sozial- und Steuerstaat stehen, wie er aus den Goldenen Nachkriegsdreißigern und der Blütezeit des Finanzplatzes bekannt war.
Sollten die Gewerkschaften in der Tripartite aber Mittel wie weitere Indexmanipulationen, Kürzungen der Sozialtransfers, Lockerung des Mindestlohns und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse ablehnen, um die planwirtschaftlichen Ziele zu erreichen, „ist es an der Regierung, die politische Verantwortung für die anzunehmenden Maßnahmen zu übernehmen“, meinte Michel Wurth. Vorausgesetzt, die Regierung bringt eine politische Mehrheit dafür zusammen. Was im vergangenen Frühjahr bekanntlich nicht geklappt hatte.