Eine Minute und 42 Sekunden brauchte Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem am Mittwoch, um nach der Telefonkonferenz der Finanzminister der Eurogruppe mitzuteilen, man habe von den beiden Briefen der griechischen Regierung Notiz genommen, in denen sie einerseits sagte, die Bedingungen der Geldgeber-Troika zur Verlängerung des zweiten Hilfsprogramms mit wenigen Ausnahmen anzunehmen, und andererseits um ein drittes Hilfsprogramm samt neuerlichem Schuldenschnitt bat. Der Chef der Eurogruppe trage seinen grauen Anzug für schlechte Nachrichten, bemerkte ein Brüsseler Journalist. „Wir sehen derzeit keinen Anlass für neue Gespräche“, so Dijsselbloem. „Wir warten jetzt einfach das Ergebnis des Referendums ab und ziehen das Ergebnis in Betracht.“
Damit dürfte bis Sonntag erst einmal Pause sein in der Griechenlandkrise. Denn kurz nach Dijsselbloem meldete sich ein Sprecher der Europäischen Zentralbank (EZB) zu Wort; sie werde die griechischen Banken weiter mit Notfallliquiditäten (ELA) versorgen. Für die griechische Bevölkerung heißt das, dass die Kapitalkontrollen nicht aufgehoben werden, sie bis auf Weiteres nur 60 Euro täglich von ihren Konten abheben darf. Damit die Banken im Land wieder öffnen könnten, müsste die EZB mehr Liquiditäten zur Verfügung stellen, als sie derzeit gewillt ist. Dennoch: Dass die EZB dem griechischen Bankensystem noch ELA gewährt und die Garantiebedingungen dafür nicht verschärft hat, ist ein gutes Zeichen für die Griechen, die im Euro bleiben wollen. Weil es ein Hinweis darauf ist, dass die Zentralbank nicht die Verantwortung für einen technischen Ausschluss des Landes aus der Eurozone übernehmen will.
Das Schwarze-Peter-Spielen, wer nun für die neuerliche Krise verantwortlich sei, erreichte am Mittwoch einen vorläufigen Höhepunkt. Der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gab im Bundestag die Schuld für die Verschlechterung der Lage der linken Regierung in Athen. Im Luxemburger Parlament tat es ihm Finanzminister Pierre Gramegna (DP) gleich. Man habe viel Zeit verloren in den vergangenen Monaten, ärgerte sich Gramegna, der den Griechen vorwarf, nur unvollständige Informationen geliefert zu haben und damit schließlich eine Entscheidung über eine Ausweitung ihres Hilfsprogramms unmöglich gemacht zu haben. Während laufender Verhandlungen habe die griechische Regierung das Referendum angekündigt und sich damit unilateral zurückgezogen.
Das ist die offizielle Geschichte der Geldgeber, wie sie auch am Montag bereits EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (EVP) in Brüssel erzählt hatte, um zu verstehen zu geben, dass die Griechen selbst Schuld an der eigenen Misere seien. Um zu verdeutlichen, wie unverständlich das Vorgehen von Athen sei, fügte Gramegna am Mittwoch hinzu, dass Griechenland nun, nach der Ende des zweiten Hilfsprogramm am Dienstag, noch nicht einmal in den Genuss der Geldtranchen kommen werde, die darin noch vorgesehen waren; insgesamt 18 Milliarden Euro standen noch zur Verfügung. Vorsorglich hatte die EU-Kommission das letzte Angebot der Geldgeber veröffentlicht, das auf dem Verhandlungstisch lag, als die griechischen Unterhändler sich am vergangenen Freitag erhoben: Die Liste der prioritären Maßnahmen, die Griechenland hätte ergreifen müssen, um eine weitere Verlängerung des zweiten Hilfsprogramms zu erwirken, bevor es am Dienstag endete. „Ein großzügiges Angebot“, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) es vor dem Gipfel vergangene Woche genannt hatte.
Was sowohl Juncker als auch Merkel, Schäuble und Gramegna unerwähnt ließen, ist, dass dies nur eines der Dokumente war, die auf dem Tisch lagen. Die restlichen fünf hat Gramegna am Mittwoch im Vorfeld der Parlamentsdebatte den Mitgliedern des Finanz- und Haushaltsausschusses zukommen lassen. Um das recht waghalsig anmutende Vorgehen der Griechen ein wenig besser zu verstehen, sind dabei vor allem zwei von Bedeutung.
Das eine ist auf den 25. Juni datiert und heißt: Greece – Financing needs and draft disbursement schedule linked to the completion of the fifth review. Es enthält den Kalender, der besagt, wie viel Geld Griechenland aus welchem Topf hätte bekommen können, wenn es sich den Anforderungen der Kreditgeber gefügt hätte und das zweite Hilfsprogramm bis November verlängert worden wäre. Darin heißt es: „...A five months extension (till end of November 2015) of the current programme is feasible during which a total of €12 bn of financial suport would be provided by the EFSF and the transfer of SMP/ANFA related profits, complemented by an assumed disbursement of the IMF of €3,5 bn. Over that period these external resources, complemented by the Greek primary surplus would allow to cover the amortisation and service of debt for a total of €14,3 bn and could cater for both arrears clearance and the reconsitution of some State buffers.“ Vereinfacht ausgedrückt: Von den 15,5 Milliarden Euro Hilfen, die Griechenland hätte erhalten können, wären 14,3 Milliarden direkt in die Bedienung der Schulden gegangen. Der Rest, so sieht es das Papier vor, wäre in Sonderfonds anzulegen gewesen; darüber hätte die Regierung in Athen auch nicht frei verfügen können. Im Klartext heißt das, dass die Hilfen, die man Griechenland „großzügig“ anbietet, ohnehin sofort wieder zurück zu den Geldgebern fließen. Griechenland ist dabei zu einer Art Durchlauferhitzer geworden, wo das Geld mit – durchaus sehr großzügigen – Laufzeiten und Zinsen versehen wird, bevor es an den Ausgangspunkt zurückkehrt.
Das zweite interessante Dokument ist ebenfalls auf den 25. Juni datiert und trägt den Titel: Preliminary debt sustainabilty analysis for Greece. Es ist von den Geldgebern vorbereitet und beinhaltet deren Einschätzung über die Entwicklung des Schuldenstands. Das ist deshalb wichtig weil die Kreditgeber im Herbst 2012 beschlossen hatten, Hilfsgelder zu geben, wenn die notwendigen Maßnahmen getroffen würden, um die öffentliche Verschuldung wieder auf ein „nachhaltiges“ Niveau zu bringen. Als „nachhaltig“ betrachteten sie damals eine Verschuldungsrate von 124 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2020, und eine Verschuldung von „wesentlich weniger“ als 110 Prozent im Vergleich zum BIP im Jahr 2022. Nun sehen die Geldgeber vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU-Kommission und der EZB drei Szenarien für die Entwicklung der griechischen Schuldenlast vor: Eines, indem Athen alle Reformen umsetzt, eines, das eine teilweise Umsetzung der Maßnahmen vorsieht, und ein drittes: das Basisszenario des IWF. „It is clear that the policy slippages and uncertainties of the last months have made the achievement of the 2012 targets impossible under any scenario. The main factors behind the deterioration of the DAS are the worsening of economic growth, the revised primary balance path, the lower privatisation revenues and possible additional finanical needs for the banking sector“, heißt es darin. Wiederum im Klartext: Sogar wenn Athen alle Forderungen der Geldgeber erfüllt, kann es die von ihnen gesteckten Ziele nicht erreichen. Dann würde die Verschuldung 2020 immer noch bei 137,5 Prozent, 2022 bei 124 und erst 2030 bei 85 Prozent im Vergleich zum BIP liegen. Im Basisszenario des IWF wären es 2020 fast 150 Prozent, 2022 noch 142,2 Prozent und 2030 immer noch 118 Prozent. Die Ziele würden weit verfehlt. In einer Notiz unter der Schuldentabelle vermerken die Geldgeber: „All scenarios assume a new 3-year programme with concessional financing. Debt ratio would be higher if additional needs for bank recapitalisation are needed.“ Dass Athen diese Woche ein drittes Hilfsprogramm und einen neuen Schuldenschnitt verlangte – nachdem der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza) seit Januar eine Schuldenkonferenz fordert –, dürfte demnach die Europartner nicht wirklich überrascht haben.
Auf diesen zwei Seiten in den Arbeitsunterlagen also geben die Geldgeber zu, was sie in der Öffentlichkeit, wo sie betonen, die Programme dienten nicht der Bestrafung des griechischen Volkes, verschweigen: dass ihre Programme nicht funktionieren. Dass ein weiters Programm – hier ist von drei Jahren die Rede – notwendig ist. Und implizit auch, dass es ohne weiteren Schuldenschnitt nicht gehen wird. Angesichts ihrer eigenen katastrophalen Prognosen müssten die Geldgeber Kampagne für das „Nein“ beim Referendum am Sonntag machen. Dass sie versuchen, dafür Syriza verantwortlich zu machen – „policy slippages of the past months“ –, muss Athen wie blanker Hohn vorkommen. Denn in ihren Prognosen, wie hilfreich die Hilfsprogramme für Griechenland seien, haben sich die Geldgeber ohnehin geirrt. Im Mitarbeiterbericht des IWF über den Hilfsantrag 2010 gehen die Experten davon aus, dass die griechische Wirtschaft lediglich 2010 und 2011 stark schrumpfen würde, um danach wieder „in a V-shape“ zu wachsen: „The frontloaded fiscal contraction in 2010–11 will suppress domestic demand in the short run; but from 2012 onward, confidence effects, regained market access, and comprehensive structural reforms are expected to lead to a growth recovery. Unemployment is projected to peak at nearly 15 percent by 2012.“ So kam es bekanntlich aber nicht. Ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos und die Wirtschaft ist bis 2014 um ein Viertel geschrumpft, bevor Griechenland wenige Monate Wachstum verzeichnen konnte. Das alles geschah, bevor Syriza die Regierungsgeschäfte übernahm. Ein Beobachter kommentierte diese Entwicklung wie folgt: „Als Deutschland das letzte Mal ein derartige Depression mitmachte, kam Hitler an die Macht.“
Im Vergleich dazu erscheint die amateurhafte Verhandlungsführung von Syriza vergleichsweise harmlos. Im Ergebnis aber hat sie dazu geführt, dass die griechische Regierung völlig isoliert dasteht. Sie hat die anderen Euroländer gegen sich. Und zunehmend auch die eigene Bevölkerung. Die neueste Umfrage am Mittwochabend zeigte, dass 47 Prozent der Wähler beabsichtigen, am Sonntag mit „Ja“ zu stimmen. Die Isolation Griechenlands in der Eurozone nur auf das mangelnde Verhandlungsgeschick von Syriza zurückzuführen, wäre vielleicht ein wenig zu kurz gegriffen. Dies ständige Witzelei über die fehlenden Krawatten der griechischen Minister ist nicht nur Spaß, sondern auch der Verbildlichung des Antagonismus, in dem sich die Verhandlungspartner gegenüberstehen: Auf der einen Seite die Vertreter einer jüngeren Generation, die die in der EU vorherrschende neoliberale Logik grundsätzlich ablehnt und Alternativen fordert. Motorradfahrende Punks in den Augen der alten grauen Männer, die auf der anderen Seite an den Marktregeln festhalten und von denen der einzige, der auf Rädern unterwegs ist, Rollstuhl fährt.
Zu welcher Gruppe EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gehört, machte er am Montag zweifelsfrei deutlich. Brüsseler Journalisten, die ihn ansonsten kaum zu Gesicht bekommen, wunderten sich über seinen 35-minütigen Auftritt, während dem er die Griechenland-Krise zu einer ganz persönlichen und emotionalen Sache machte. Er habe alles Mögliche getan, um eine Lösung zu finden, er, der an das Europa der gemeinsamen Interessen glaubt – der deshalb besonders frustriert sein dürfte, der EU-Kommissionspräsident zu sein, unter dessen Führung die EU-Integration auch wegen Großbritanniens bröckelt –, der das griechische Volk liebt, war tieftraurig. Deshalb forderte er es kurzum auf, mit „Ja“ zu stimmen. Ein Vorgehen, das Luxemburger Wähler sehr gut kennen, schließlich hatte er ihnen 2005 mit Liebesentzug gedroht, falls sie beim Referendum gegen die Europäische Verfassung stimmen würden. Damals sprachen viele, wie heute der griechische Regierungschef Alexis Tsipras, von Erpressung.
Denn nicht nur das Verhandlungsvorgehen der Griechen ist fragwürdig. Die Gläubiger verbesserten vergangene Woche Griechenlands Reformvorschläge mit dem Rotstift wie einen Schulaufsatz und feilschten darum, ob die Griechen nun zweieinhalb Jahre früher oder später mit 67 in die Rente müssen. Dabei bekräftigen sie öffentlich, wie gut ihre Reformen in Portugal, Irland und Spanien gewirkt hätten, während sie in ihren Unterlagen heimlich zugeben, dass die Situation in Griechenland damit nicht in den Griff zu bekommen ist. Deshalb verwunderte es nicht, dass der linke Abgeordnete Gregor Gysi am Mittwoch im Bundestag der deutschen Regierung vorwarf: „Sie wollen die linksgerichtete Regierung in Griechenland beseitigen.“ Das ein Regimewechsel erwünscht ist, gibt der konservative Regierungschef im erfolgreich reformierten Spanien, Mariano Rajoy, ziemlich unverblümt zu. Am Dienstag sagte er in einem Interview, ein Regierungswechsel in Athen, nachdem die Griechen am Sonntag mit „Ja“ abstimmen würden, sei eine „willkommene“ Sache. „Wir könnten mit einer neuen Regierung verhandeln.“ In Italien äußerte Regierungschef Matteo Renzi sinngemäß, die Italiener hätten keine Rentenreform durchgeführt und das Renteneintrittsalter angehoben, damit die Griechen ihres nicht anheben müssten. Hatte Griechenland mit der Solidarität der anderen „Eurorandstaaten“ gerechnet, hat es sich verrechnet. Dort scheint ein Durchkommen Athens eher unerwünscht. Die eigenen Wähler könnten sonst wohl auf die Idee kommen, dass es Alternativen zur Rosskur gegeben hätte, der man sie unterzogen hat.
So wird am Sonntag ganz Europa auf Athen schauen, wo ein Referendum stattfindet auf Basis des letzten Angebots der Gläubiger. Alexis Tsipras fordert die Wähler auf, gegen das Angebot zu stimmen, wobei er den anderen Euroländern in der Zwischenzeit mitgeteilt hat, dass er es mit Abstrichen annehmen würde. Wenn die Griechen mit „Ja“ abstimmen, ist Rajoys Szenario nicht ganz unwahrscheinlich – eine neue Regierung, gebildet von den Parteien, die Griechenland mit ihrer getürkten Buchführung erst in den Euro, dann in die Schuldenkrise geführt haben, unter denen die vielbeklagte Korruption grassieren konnte, die aber seit 2010 bewiesen haben, dass sie den Befehlen Brüssels zumindest auf dem Papier besser gehorchen als Syriza, könnte zum Verhandlungspartner der Gläubiger werden.
Folgen die Wähler dagegen Tsipras Aufruf, gegen die Gläubigervorschläge zu stimmen, so glauben er und sein Finanzminister Yanis Varoufakis gestärkt in neue Verhandlungen gehen zu können. Die Frage wäre allerdings, ob mit ihnen noch jemand reden will. Egal wie, viel Zeit bleibt nicht. In drei Wochen muss Griechenland der EZB 3,5 Milliarden Euro fällig werdende Schulden zurückzahlen. Lässt Griechenland die Zahlung verstreichen, wird es EZB-Chef Mario Draghi immer schwerer fallen, die Lage so zu interpretieren, dass die Zentralbank keine Staatenfinanzierung betreibt, wie es ihr laut Mandat verboten ist. Der 20. Juli ist der neue 30. Juni.