Wer wird Präsident der EU-Kommission?

Machtkampf

d'Lëtzebuerger Land du 06.06.2014

Es sagt viel über den Zustand der Europäischen Union aus, dass die großen politischen Kontroversen nicht im Europawahlkampf thematisiert wurden, sondern erst nach der Wahl. Man konnte im Europawahlkampf kaum etwas außer Sprechblasen darüber hören, was sich denn nun in den kommenden fünf Jahren in der europäischen Politik ändern müsse. Die Europabefürworter waren sich alle einig, dass Europa nicht über alle Details des täglichen Lebens bestimmen dürfe und die Europaskeptiker, dass Europa an allem Übel dieser Welt schuldig sei. Nach der Wahl ist plötzlich Feuer unterm Dach. Der Grund dafür liegt in einem Machtkampf zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat.

Möglich wird dieser Machtkampf durch den Lissabon-Vertrag. Seit November 2009 muss der Rat bei der Aufstellung des Kandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission das Votum der Europawahl berücksichtigen. Das EU-Parlament hat die Formulierung dazu genutzt, Spitzenkandidaten für die Europawahl auszurufen und schwört nun Stein und Bein, dass es nur den Sieger akzeptieren werde. Dieser Sieger ist Jean-Claude Juncker. Obwohl die EVP reichlich Federn lassen musste, ist sie immer noch die stärkste Fraktion. Abgesehen von dieser grundsätzlichen Unterstützung ist Juncker weit davon entfernt, für ein konkretes europapolitisches Programm eine Mehrheit im Parlament zu haben. Das ist so kurz nach der Wahl auch kein Wunder. Angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Parlament läuft es auf eine Koalition von Konservativen, Sozialisten, Liberalen und, meistens jedenfalls, den Grünen hinaus. Einig sind sich diese Fraktionen aber vor allem darin, dass sich die EU weiter demokratisieren muss und dass es, wenn schon nicht gleichberechtigt, dann wenigstens gleichberechtigt zum Rat werden muss. Es steckt dem Parlament noch in den Knochen, wie brutal es von den Staats- und Regierungschefs zur Seite geschoben worden ist, als es um die Rettung des Euro ging. Das soll nie wieder vorkommen. Um seine Position gegenüber dem Rat zu stärken, braucht es einen Kommissionspräsidenten von seinen Gnaden.

Ob der Europäische Rat nun für oder gegen Juncker ist, ist nicht das eigentliche Problem. Viel schwerwiegender ist es, dass die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Staats- und Regierungschefs so groß geworden sind, dass sie unüberbrückbar erscheinen. Die kolportierte Drohung David Camerons, dass mit Juncker ein Austritt der Briten aus der Union wahrscheinlicher werde, ist ein Aspekt. Ein anderer ist die gerade erst wieder erhobene alte Forderung François Hollandes, dass sich Europa ändern müsse, vor allem beim Stabilitätspakt, aber natürlich unter voller Beibehaltung der Souveränität Frankreichs. Selbst Hollande wird wissen, dass das ein Widerspruch in sich ist. Sein Verhalten ist aber symptomatisch für die Verlogenheit vieler Ratsmitglieder.

Obwohl schon seit dem Vertrag von Nizza eine qualifizierte Ratsmehrheit für die Nominierung des Kommissionspräsidenten möglich ist, ist der Kandidat bisher immer einstimmig benannt worden. Das Selbstverständnis des Rats als wichtigstes Entscheidungsgremium der EU ist durch das provokante Auftreten des Parlaments im Innersten getroffen. Hier liegen auch die Wurzeln für den Eiertanz, den Angela Merkel schon vor der Wahl mit ihrem Zögern, überhaupt einen Spitzenkandidat für die EVP zu ernennen, aufgeführt hat und dem Theater nach der Wahl, ob sie nun Jean-Claude Juncker unterstützt oder nicht. Ein Konsens ließe sich wohl nur noch herstellen um den Preis des totalen europapolitischen Stillstands in einer Vielzahl von Krisen und Herausforderungen. Ein solcher Kandidat ließe sich wahrscheinlich erst nach einem monatelangen Machtkampf mit dem Europäischen Parlament durchsetzen, was den Verlust des letzten Kapitals an Glaubwürdigkeit, über das die europäischen Institutionen noch verfügen, nach sich ziehen würde.

Der Europäische Rat steht unter starkem Druck. Die Wahlen haben die Föderalisten nicht gestärkt, im Gegenteil. Gleichzeitig steht die Union vor zahlreichen Aufgaben, die sich nicht mehr im Konsens lösen lassen. Dazu gehören eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik. Hinzu kommt, dass etwa ein Viertel aller Europäer die EU grundsätzlich ablehnt. Nicht nur für Großbritannien rückt die Stunde der Wahrheit immer näher.

Nach dem Mediengewitter, das ausbrach, als Angela Merkel nach der letzten Ratssitzung Juncker die öffentliche Unterstützung verweigerte, ist klar, dass der Rat seine überkommenen Prärogativen nicht mehr unbeschadet in die neue Legislaturperiode retten kann. Er wird lernen müssen, dass sich auch Staats- und Regierungschefs Mehrheitsentscheidungen unterwerfen müssen. Die Zeit, in der man für alles und jedes einen Kompromiss finden konnte, ist definitiv vorbei. Der Rat muss sich stärker in einen Senat verwandeln, ein Weg, den alle nationalen Staats- und Regierungschefs scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Medienspekulationen, wer denn nun was für oder gegen Juncker vorzubringen habe, führen am Kern des Problems vorbei. Im Moment sieht es so aus, als würde sich eine Ratsmehrheit für Jean-Claude Juncker aussprechen. Im Idealfall müsste sich der Rat vorher auf ein Programm für die nächsten fünf Jahre einigen. Das zu finden, dafür hat Ratspräsident Van Rompuy vier Wochen Zeit. Einen Pfifferling darauf zu wetten, dass er das schafft, wäre schon riskant.

Christoph Nick
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