Die europäische Integration war schon immer zu wichtig, um sie den Unwägbarkeiten demokratischer Prozeduren auszuliefern. Nannte man das einst in Osteuropa Demokratischer Zentralismus, so herrscht in Westeuropa eine Art bürokratischer Cäsarismus. Seit der Banken- und der Schuldenkrise wurde dieser dramatisch verschärft: Die mächtigsten Regierungschefs und die Europäische Zentralbank geben nunmehr alleine den Ton an, das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, die Regierungschefs kleinerer Staaten, die nationalen Parlamente und eine halbe Milliarde sonstiges Publikum dürfen zusehen.
Das machte die Europawahlen vor 14 Tagen zu einer unsinnigen Veranstaltung. Weshalb die europäischen Abgeordneten und ihre Parteien ihnen verzweifelt einen Sinn einzuflößen versuchten. So kamen sie auf die Idee, europaweite Spitzenkandidaten ins Schaufenster zu rücken, um die Veranstaltung für die Wähler haptischer zu machen. Einer dieser Spitzenkandidaten war der gerade gestürzte Jean-Claude Juncker, der vor zehn Jahren auf das Amt des Kommissionspräsidenten verzichtet hatte.
Jean-Claude Juncker war nicht der Traumkandidat, nicht einmal der seiner eigenen Europäischen Volkspartei. Von 812 Delegierten wählten ihn Anfang März in Dublin nur 382 zu ihrem Spitzenkandidaten. die Mehrheit wählte Gegenkandidat Michel Barnier oder enthielt sich. Dabei hatten die Parteien bis vor den Wahlen sogar versprochen, dass der Spitzenkandidat der erfolgreichsten Partei Kommissionspräsident werden sollte. Denn das Europaparlament verfügt neuerdings über ein Mitspracherecht bei dessen Ernennung. Zwei Tage vor den Wahlen verbreitete die Europäische Volkspartei noch über Twitter: „Angela Merkel: ‚Wir wollen das Amt des Kommissionspräsidenten mit @JunckerEU besetzen.’"
Das war selbstverständlich eine Lüge. Denn nach den Wahlen will niemand mehr Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident. Seine eigene Europäische Volkspartei am allerwenigsten. Sie will weder das Prinzip, dass ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident wird, noch will sie Jean-Claude Juncker. Seine parteipolitischen Gegner wollen Jean-Claude Juncker natürlich auch nicht, aber wenigstens das Prinzip.
Der Konkursverwalter der ruhmreichen Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, ereiferte sich vergangene Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wenn diese Runde wirklich eine andere Person als einen der beiden Spitzenkandidaten vorschlagen sollte, würde sie das europäische Projekt ins Herz treffen. Denn fortan wäre keinem Bürger die Beteiligung an einer Europawahl mehr zuzumuten. Ich halte einen solchen Akt mutwilliger Zerstörung aus rechtlichen und verfassungspolitischen Gründen einstweilen für ausgeschlossen.“ Bisher wurde die Demokratie in der Europäischen Union bloß als Defizit beschrieben. Nun soll Jean-Claude Juncker auch noch zu ihrem Märtyrer gemacht werden.
Dabei war Jean-Claude Juncker, wie alle großen Märtyrer, öfters vom Teufel versucht worden. „Also ich schließe völlig aus, dass ich für die Europäische Volkspartei als Spitzenkandidat zur Europawahl antrete – völlig ausgeschlossen,“ hatte er im November in der Schweizer Fernsehsendung NZZ-Standpunkte beteuert. „Denn man soll nicht 2014 etwas tun, was man 2004 hätte machen können“, nämlich Kommissionspräsident werden. Vier Monate später ließ er sich dann in Dublin zum Spitzenkandidaten wählen.
Aber er hatte anfangs ebenso kategorisch die Idee eines ständigen Ratspräsidenten abgelehnt, weil dies bloß ein weiteres Manöver der britischen Regierung sei, um den Kommissionspräsidenten zu schwächen. 2009 kandidierte er dann angestrengt, aber erfolglos um das gerade geschaffene Amt des Ratspräsidenten.
In Wirklichkeit war Jean-Claude Juncker vergangenen Monat nicht einmal Spitzenkandidat. Denn der Spitzenkandidat der Konservativen war der einzige Spitzenkandidaten der nirgends kandidierte – nicht einmal zuhause auf der CSV-Liste. Stattdessen wurde er als Phantom-Spitzenkandidat in einer von der Europäischen Volkspartei möglichst lieblos und sparsam durchgeführten Wahlkampagne wochenlang im blauen Wahlkampfbus herumgefahren oder hinterhergeflogen. Manchmal sah es eher wie ein Gefangenentransport aus. Er hielt in allerlei Fremdsprachen Reden, gab abgekämpft Interviews und nahm an Podiumsdiskussionen teil, begleitet von seinem aus dem Luxemburger Wort ins Staatsministerium und vom Staatsministerium in die CSV-Fraktion übernommenen Kofferträger und seinem vom Staatsministerium übernommenen Leibwächter. Er trat in fast anderthalb Dutzend Staaten auf, in manchen zweimal, in Deutschland fünfmal, obwohl auch dort keine Wahlkampfplakate von ihm hingen. Er war nicht der Kandidat der europäischen Konservativen, sondern ihre Galionsfigur.
Nun steht Jean-Claude Juncker im Mittelpunkt eines Machtkampfs zwischen europäischen Staaten und Institutionen, der in dem cäsaristischen System weitgehend über seinen Kopf hinweg ausgetragen wird. Er versucht mitzumischen, indem er sich unter Berufung auf den Wählerwillen mit seinen parteipolitischen Gegnern, unter anderen seinem sozialdemokratischen Konkurrenten Martin Schulz, gegen seine christlich-konservativen Parteifreunde Angela Merkel und Ratspräsident Herman Van Rompuy verbündet, die ihn bloß noch los werden wollen.
Mit diesem riskanten Manöver will er doch noch den europäischen Spitzenposten erhaschen, dem er seit mehr als einem Jahrzehnt hinterherhastet. Den Kommissionsvorsitz oder, wenn er aus gesundheitlichen Gründen darauf verzichtet, wie ihm seine Parteifreunde nahelegen, als Trostpreis den gemütlicheren Ratsvorsitz, den er vielleicht lieber hätte.
Als Angela Merkel ihn bei der Besetzung des Ratsvorsitzes 2009 fallen gelassen hatte, um es nicht mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zu verderben, war Jean-Claude Juncker schon einmal als geschlagener Soldat aus Brüssel zurückgekehrt und musste als Premierminister weitermachen. Die Niederlage hatte ihn politisch so geschwächt, dass er sein Regierungsmandat nicht zu Ende bringen konnte, über die gescheiterte Tripartite stolperte und dann über seinen hysterisch gewordenen Geheimdienst hinfiel. Diesmal müsste er als Präsident der CSV-Fraktion heimkehren.
Nach dem Gipfeltreffen im Anschluss an die Europawahlen watschte ihn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel öffentlich ab: „Die ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen durchgesetzt werden.“ Doch seine Kollegen halten das noch für zu viel des Lobs. Niemand nennt ihn den dynamischen, charismatischen Führer, der mit seiner Weitsicht die Europäische Union aus der Krise führen und im globalen Wettbewerb an die Spitze bringen kann.
Jean-Claude Juncker war schon einmal das Opfer einer systematischen Demontage. Als Sprecher der Eurogruppe war ihm vorgeworfen worden, mit unbedachten Aussagen den Euro zu destabilisieren. Nach dem Dementi eines Finanzministertreffens in Senningen nannte ihn der Wiener Standard „Meister der Lügen“ und das Düsseldorfer Handelsblatt „Pinocchio des Tages“. Hierzulande begannen ehemalige Geheimdienstagenten, ihn mit der Verbreitung von Enthüllungen bis zu seinem Sturz vor einem Jahr zu destabilisieren. Noch als er sich anschließend um die EVP-Spitzenkandidatur für die Europawahlen zu bewerben begann, traten sie nach und veröffentlichten einen Bericht, der beschrieb, wie er vor seinen Beamten sturzbetrunken das Recht auf sexuelle Eskapaden beansprucht hatte. Laut dem Hamburger Spiegel vom Montag drohte der bristische Premierminister David Cameron bereits, erneut „Junckers Schwächen im kleinen Kreis der Mächtigen offen anzusprechen“.
Doch selbst von jenen, die verlangen, dass Jean-Claude Juncker unbedingt Kommissionspräsident werden muss, behauptet niemand, dass er der geeignetste Kandidat sei, um ein Heer von 33 000 Beamten anzuführen. Sie beharren bloß auf dem Prinzip, dass der Wählerwille respektiert werde.
Aber selbstverständlich ist auch das Unfug. In Wirklichkeit will bloß ein Teil des der Europaparlamentarier den Regierungschefs ihren Willen aufzwingen, um die Machtverhältnisse im bürokratischen Cäsarismus zu ihren Gunsten zu verschieben. Denn sie leiden darunter, dass die Befugnisse des Europaparlaments jenen des Luxemburger Ständeparlaments unter König-Großherzog Wilhelm I. vor der Revolution von 1848 entsprechen. Und die Regierungschefs wollen als gute König-Großherzoge auf keinen Fall einen Kommissionspräsidenten von des Europaparlaments Gnaden, der durch Europawahlen demokratisch legitimiert scheint.
Vor der großen Krise gab Deutschland noch nicht alleine den Ton in der Europäischen Union an, so dass manchmal Kompromisskandidaten aus Zwergstaaten ihren Zweck erfüllten. Damals sah es so aus, als wäre Jean-Claude Junckers historische Rolle diejenige des Helden von Dublin gewesen, des Dolmetschers zwischen Frankreich und Deutschland. Nun will ausgerechnet der britische Premier David Cameron seine historische Rolle ungleich bedeutender machen: Er will zur Erbauung seines heimischen Publikums die Europäische Union vor die pathetische Entscheidung zwischen Jean-Claude Juncker und dem Vereinigten Königreich stellen. Ein ganzes Königreich für einen einzigen Junker.