Erste, unsichere Schritte am Kabuler Flughafen. Das erwartete Militär-Großaufgebot bleibt aus. Stattdessen zerbeulte Minibusse mit Fahrern, die auf Reisende einreden, um sie ins Stadtzentrum zu fahren. Etwas weiter, auf dem Parkplatz für Diplomaten, hält ein US-Army-Kommando in kugelsicheren Schutzwesten und mit obligatorischen Sonnenbrillen vor einem Militärjeep die Stellung.
Ich steige zu Fahrer Zahir in den weißen Toyota ein. „Die meisten Check-points siehst du nicht, die umfahren wir“, sagt meine Freundin Adrienne. An uns vorbei fliegen Straßenzüge einer Stadt wie im Belagerungszustand. Viele Gebäude befinden sich hinter hochgezogenen Mauern und Stacheldraht. „Das ist das Botschaftsviertel. Es ist hermetisch abgeriegelt.“ Hinter steinernen Barrieren und Militärjeeps stehen schwer bewaffnete Soldaten, die grimmig gucken.
Schon wenige Straßen weiter, hinter dem Diplomatenviertel, sind einige Häuser noch hinter Mauern, aber Check-points gibt es keine mehr. Stattdessen laufen Menschen kreuz und quer über die Fahrbahn, Autos hupen ungeduldig, eine Frau in hellblauer Burka huscht zwischen die Blechlawinen. Abends höre ich Blackhawk-Hubschrauber der US-Streitkräfte bedrohlich niedrig über die Dächer kreisen. „Wegen der Wahlen fliegen sie derzeit wieder häufiger“, klärt mich Adrienne auf.
Am Morgen geht es ins Büro in die Kabuler Innenstadt. Wir müssen mit Fahrer Zahir zwei Sicherheitsschranken passieren. Die Wachen stehen mit Maschinengewehren im Anschlag. „Die Stiftung liegt in einer relativ gut gesicherten Straße.“ Meine Gastgeberin, Adrienne Woltersdorf, leitet seit über zwei Jahren das Afghanistan-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die größte politische Stiftung Deutschlands, die den Sozialdemokraten nahesteht. Als wir ankommen, herrscht ausgelassene Stimmung. Gewerkschafter, junge Seminaristen, Mitarbeiter laufen aufgeregt durcheinander. Am Tag zuvor war in Kabul die erste Mai-Demonstration seit über 30 Jahren marschiert. Über tausend Protestler waren gekommen. Frauen und Männer aus dem Putzsektor, Fabrik- und Minenarbeiter. Ein Riesenerfolg. Die Behörden hatten den Veranstaltern, die Nationale Union der Afghanischen Arbeiter und Angestellten (Nuawe), zuvor noch eine Konferenz an Stelle des Protestmarschs angeboten. Aber die Gewerkschafter blieben hartnäckig und setzen beides durch: Demo und Konferenz.
Am Tag nach der Demo versammeln sich hunderte Gewerkschaftsvertreter auf der ersten überregionalen Konferenz zum Internationalen Arbeitstag. Die Eingangsrede hält Arbeitsministerin Amina Afzali. Ihre ersten Worte gelten den Toten und Verletzten, die in der nordostafghanischen Provinz Badachschan von einem Erdrutsch verschüttet wurden. Dann spricht sie über Herausforderungen bei der Ausbildung und im Arbeitsrecht. Afzalis Anwesenheit hat vor allem Symbolwert, ihre Regierung wird nur noch wenige Wochen im Amt sein. „Sie können uns nicht mehr ignorieren“, sagt Nuawe-Gewerkschaftschef Marouf Qaderi zufrieden. Er fordert die Regierung auf, mehr zum Schutz der Arbeiter zu tun. Zwei Tage zuvor waren bei einem Minenunglück in der Nordprovinz Samangan 24 Arbeiter ums Leben gekommen.
Die afghanischen Gewerkschaften sind im Aufwind. 140 000 Mitglieder soll die Nuawe zählen, ein Drittel davon Frauen. 300 000 Mitglieder möchte die Gewerkschaft in den nächsten Jahren rekrutieren. „Das ist optimistisch“, bremst Sultan Amini zu hohe Erwartungen. Der Deutsch-Afghane ist Vertreter der IG Metall, die die Nuawe seit Jahren unterstützt und für sie Weiterbildungskurse organisiert. Noch gibt es viel Aufbauarbeit zu leisten. Aber diese Woche wurde die Nuawe im Internationalen Gewerkschaftsbund Ituc aufgenommen. „Das verleiht ihnen zusätzliche Glaubwürdigkeit“, freut sich Amini.
Die erstarkenden Gewerkschaften sind nicht die einzige Erfolgsgeschichte, die es von Afghanistans aufblühender Zivilgesellschaft zu erzählen gibt. Mit den Jahren sind viele kleinere und größere Projekte entstanden, in denen Afghanen und Ausländer Seite an Seite am Wiederaufbau des von Krieg und Armut gebeutelten Landes arbeiten, sei es in der Bildung, im Gesundheitswesen, in den afghanischen Medien.
Davon erfährt der Westen aber nur selten etwas. In den Medien dominieren Berichte zu Terrorismus und Drogen. Wie andere Mitarbeiter der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auch erhält die FES-Leiterin jeden Morgen einen Lagebericht vom Risk Management Office. Nach Sektoren unterteilt, bewertet der Dienst die Sicherheitslage täglich neu, Zwischenfälle werden akribisch aufgelistet. Oft sind es kleinere Scharmützel, die nicht immer von den Taliban ausgehen, sondern teils von Kriminellen. Abends kontrolliert der Dienst, ob alle sicher in ihrer Unterkunft eingetroffen sind. „Das ist beruhigend, obwohl es keine hundertprozentige Sicherheit gibt“, sagt Adrienne Woltersdorf realistisch. Die ehemalige Journalistin will sich trotz Terrorwarnungen nicht zu sehr einschränken. Sie geht auch ohne Kopftuch vor die Tür. Das Kopftuch ist in der islamischen Republik nicht gesetzlich vorgeschrieben, obwohl fast alle afghanischen Frauen wenn keine blaue Burka so doch Kopftuch tragen.
Für diplomatische Bedienstete besteht, anders als für die NGOs, wegen der Wahlen seit Wochen Ausgangssperre. Dann wird sich allenfalls im gepanzerten Wagen durch die brodelnde Sechs-Millionen-Stadt bewegt. Sicherheitsbedenken und die Unkenntnis der Redaktionen daheim erklären die einseitige Berichterstattung vieler westlicher Medien. Nur noch wenige Journalisten trauen sich aus der Haupstadt hinaus, oft übernehmen Springer die gefährliche Arbeit in den Regionen. Das sind afghanische Kollegen, die für ihren Einsatz nicht selten einen hohen Preis zahlen. Bei einem Taliban-Anschlag im März auf das Luxushotel Serena in Kabul, unter Ausländern beliebt, starben der afghanische AFP-Journalist Sardar Achmad und seine Familie.
Wir sind unterwegs nach Murad Kahne. In dem Viertel hat 2006 die britische Stiftung Turquoise Mountain ein ambitiöses Projekt ins Leben gerufen. Mit Hilfsgeldern aus den USA und Kanada wurde hier ein Teil der Altstadt mit viel Liebe zum Detail rekonstruiert. In den verwinkelten Lehmhäusern bekommen Besucher eine Ahnung, wie Kabul vor dem Krieg ausgesehen hat. Handwerksmeister aus allen Teilen des Landes bringen Studenten bei, wie sie die berühmten Holzschnitzereien und Schmuck aus Edelsteinen anfertigen. In der oberen Etage sitzen Männer und Frauen über islamische Kalligraphie gebeugt. Mit feinen Pinselstrichen schreiben sie „Allah ist groß“. Die Inschriften seien Teil einer 600 000-US-Dollar-Großbestellung eines Fünf-Sterne-Hotels in Mekka, erzählt die 19-jährige Werkstattleiterin Samira stolz.
Bildung ist ein zentrales Thema in Afghanistan – neben den Wahlen. Rund 70 Prozent der Afghanen können weder lesen noch schreiben. An Straßen hängen überdimensionale Plakate, auf denen ausländische Weiterbildungsinstitute mit Abschlüssen locken. Sogar Frauen mit Bachelor-Hut sieht man darauf. „Die Gebühren sind für die meisten Afghanen viel zu hoch“, klagt Fahrer Zahir.
In Murab Kahne bekommen die Schüler nicht nur eine anerkannte Berufsausbildung. Zu dem Projekt zählen außerdem ein Krankenhaus und eine Schule sowie zahlreiche Handwerker, die in den engen Gassen ihre Handwerkskunst anpreisen. „Mit dem Erlös aus den Aufträgen finanzieren wir unseren Studenten den Weg in die Selbstständigkeit“, erklärt ein Mitarbeiter. In den Werkstätten arbeiten Frauen und Männer nebeneinander. Was für die Schüler selbstverständlich scheint, ist eine Errungenschaft. An islamischen Schulen werden Jungen und Mädchen streng getrennt unterrichtet. Nur an den ausländischen Schulen, wie dem französischen Gymnasium, lernen beide Geschlechter zusammen.
„Als ich hier zur Schule gegangen bin, war noch alles vom Bürgerkrieg zerschossen“, erzählt mir Naser aufgeregt. Es ist mittlerweile später Nachmittag. Wir stehen in der streng bewachten Eingangshalle seiner ehemaligen Schule, die mit Spendengeldern aus Frankreich renoviert wurde, und warten, dass es sich die Türen zum Festsaal öffnen: Das Institut français in Kabul hat zum Hiphop-Konzert eingeladen. Die Vorfreude meiner zwei Begleiter ist groß, schließlich tritt das Rap-Duo Farhad und Matin, kurz FM Band, auf. Als die ersten Töne erklingen, wird klar: Die afghanischen Rapper mit Baseballkappen und in Armeehosen sind bei den rund 150 jungen Frauen und Männern schwer angesagt. Der Bass scheppert, vorwiegend männliche Fans wiegen sich im Takt, F und M legen los. Mit deutlichen Worten rappen die Jungs gegen Korruption, Warlords, für die Liebe. Reimen zu Alltagsproblemen in Kabul wie marode Straßen und fehlende Kläranlagen, trotz milliardenschwerer Hilfszahlungen. Es ist Regenzeit: Binnen weniger Stunden verwandeln sich die Straßen der Hauptstadt in reißende Flüsse. Dann stinkt es überall nach Urin und Kot.
Auch zu den Wahlen rappen Farhad und Matin: „Geht wählen!“, ruft das Duo dem jungen Publikum unter großem Jubel zu. Dass die erste Tour der Präsidentschaftswahlen trotz Terrordrohungen seitens der Taliban verhältnismäßig glimpflich ablief, erfüllt viele Afghanen mit Stolz. Gerade die jüngere Generation dürstet nach Veränderung: Viele von ihnen kritisieren, dass die verbleibenden Präsidentschaftskandidaten, Abdullah Abdullah, Ex-Außenminister und Sohn eines paschtunischen Vaters und einer tadschikischen Mutter, und sein Gegenspieler, der Intellektuelle Aschraf Ghani, Warlords zu ihren Unterstützern zählen. „Wie soll sich etwas zum Guten ändern, wenn die Kriegsverbrecher in der Regierung sitzen?“, fragt Naser empört. Die Kriegslasten, die Korruption und die unsichere Zukunft treibt viele Afghanen um. Die Errungenschaften des scheidenden Präsidenten Karsai, dem Misswirtschaft vorgeworfen wird, realistisch zu bewerten, die Konflikte entlang ethnischer Linien zu verstehen, ist für Außenstehende schwierig. Meine Begleiter Jalil und Naser sind sich jedenfalls einig: „Afghanistan braucht weiter die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Sonst gefährden wir die jungen Erfolge.“ Präsident Karsai hatte sich geweigert, ein Sicherheitsabkommen mit den internationalen Truppen zu verlängern, demzufolge müssten diese Ende 2014 abziehen.
Er werde auf jeden Fall wählen gehen, sagt Jalil. Beobachtern zufolge hat Abdullah Abdullah die besseren Chancen, obwohl viele Geschäftsleute für Aschraf Ghani sind. Sie versprechen sich vom Ex-Weltbank-Ökonom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Arbeitsplätze. Damit Investoren ins Land kommen, müssen die Verhältnisse jedoch einigermaßen stabil sein. Als der Termin für die Stichwahl am 14. Juni bekannt wurde, kündigten die Taliban prompt eine Frühjahrsoffensive an. In den Provinzen häufen sich die Attacken. Die Medien melden erste Tote. Gute Nachrichten aus Afghanistan gibt es auch an diesem Tag nicht. „Sag’ deinen Freunden, sie müssen selbst herkommen und den Unterschied mit eigenen Augen sehen“, rät Jalil zum Abschied.