Hamid Nourzai wollte den vergangenen Samstag ungestört zusammen mit seiner 12-köpfigen Familie in seiner Zweizimmer-Wohnung in Karte Seh verbringen. Es war Wahltag. Die Taliban drohten, massiv zu stören. Seit Wochen gab es jeden Tag Anschläge, Dutzende Tote und Nourzai wusste nicht, wann und wo die Taliban wieder zuschlagen würden. Draußen war es ihm schlicht zu gefährlich.
Also hat er sich vor dem Fernseher bequem gemacht. An freie Wahlen und den Wert der Demokratie glaubte er sowieso nicht mehr. Er war unter den Kommunisten aufgewachsen. Die Islamisten hatten das Land in die Katastrophe hineinmanövriert. Das System, das in den letzten Jahren als Demokratie verkauft wurde, hatte nur Wahlbetrug mit sich gebracht. Die Politiker waren immer noch dieselben und waren immer noch korrupt.
Doch dann sah er am Bildschirm alte, sehr alte Menschen, die ihre Wahlzettel in die Wahlurnen warfen. Männer und Frauen. Sie waren umgeben von sehr vielen jungen Männer und Frauen. Die Alten sprachen in die Mikrofone der Journalisten. Ihre Aussage war immer dieselbe: „Ich gehe für meine Enkel wählen, denn ich möchte nicht, dass sie das gleiche schlechte Leben leben müssen wie ich.“ Nourzai schaute so lange zu, bis ihm sein eigener Pessimismus peinlich wurde. „Nimm unsere Wählerausweise“, sagte er zu seiner Frau, „wir gehen wählen.“
Millionen von Afghanen fühlten am Tag der Präsidentschaftswahlen in Afghanistan ähnlich wie Nourzai. Am Ende gaben über sieben Millionen Wähler ihre Stimmzettel ab – ein Rekord. Die Wahlbeteiligung liege über 60 Prozent, berichtete die Unabhängige Wahlkommission des Landes und damit mehr als doppelt so hoch als bei der vergangenen Präsidentschaftswahl.
Afghanistans Wählerinnen und Wähler trotzten den Taliban-Drohungen. Sie umarmten auf der Straße die Polizisten und Soldaten, die jede Straßenecke in den Großstädten sicherten. Manche schenkten ihnen aus Dankbarkeit Blumen. Die Stimmung im Land heiterte sich mit jeder friedlich gebliebenen Stunde weiter auf. Als sich der Wahltag dem Ende zuneigte, beglückwünschten sich die Menschen gegenseitig zu ihrem Mut, ihrer Entschiedenheit und ihrer Friedfertigkeit.
Die Sicherheitskräfte arbeiteten vorbildlich. Selten sind afghanische Polizeibeamten höflich und zuvorkommend zu ihren Landsleuten. Am 5. April demonstrierten sie, dass sie dazu durchaus fähig sind. Gleichzeitig waren sie an anderen Orten unnachgiebig, meistens in entfernteren Landesteilen, an denen die Taliban die Wahl doch noch in Blut zu ertrinken versuchten. Die Sicherheitsbilanz des Tages: Die Taliban versanken im eigenen Blut. Sie verloren über 80 ihrer Kämpfer und schafften es nicht einmal in die Nähe der Wahlurnen – weder in den Städten, noch auf dem Land. Kein Wähler wurde Opfer eines Anschlags. Neun Sicherheitsbeamte verloren ihr Leben.
Den eigentlichen Erfolg des Tages fasste der Leiter der EU-Wahlbeobachtermission, der holländische EU-Abgeordnete Thijs Berman, wie folgt zusammen: „Wir wissen noch nicht, wer die Wahlen gewonnen hat“, sagte er am Montag bei einem Pressekonferenz im Garten der EU-Vertretung in der Hauptstadt Kabul, „aber die Taliban haben verloren.“
Offensichtlich analysieren die Taliban-Führer die Lage genauso. Denn von den Herren im Turban, die jeden Tag im Nachbarland Pakistan die Ereignisse in Afghanistan kommentieren und ihre Meinung sehr medial in Szene zu setzen verstehen, ist seit dem Wahltag nichts mehr zu hören.Ihr Schweigen lässt die Menschen in Afghanistan entspannen. Die extrem nervöse Stimmung im Vorfeld der Wahl ist einem vorsichtigen Optimismus gewichen.
Doch dieser erfolgreiche Schritt, der allein den afghanischen Bürgern zu verdanken ist, reicht in dem kampferprobten, aber mit politischen Fallen übersäten Land am Hindukusch nicht aus. Denn die Präsidentschaftswahl ist nicht zu Ende. Jetzt kommt es auf die Politiker und vor allem die Präsidentschaftskandidaten an, ob dieser erste Sieg der Demokratie nachhaltig wirkt. Denn sie sind es, die nun jenen alten Trick sein lassen, keinen Wahlbetrug begehen und am Ende das Ergebnis akzeptieren müssen. Gewiss, auch sie stehen nach dem außerordentlichen und unerwarteten Erfolg des ersten Wahlgangs unter Druck. Sie wissen, das Volk hat ihnen die Verantwortung auferlegt. Dennoch könnten sie mit skeptischen Äußerungen über den Auszählungsprozess wieder einen dunklen Schatten auf die Wahl werfen.
Erste Reflexe gehen bereits in diese Richtung. Zalmay Rassoul, der heimlich vom amtierenden Präsidenten Hamid Karsai unterstützt wurde, warnte schon am Wahlabend vor Betrug. Aus den Lagern der beiden aussichtsreichsten Kandidaten Aschraf Ghani Ahmadzai und Abdullah Abdullah war, wenn auch ganz vorsichtig, Protest gegen angeblich stattgefundenen und natürlich nur gegen sie selbst gerichteten Wahlbetrug zu vernehmen.
Auch die EU-Wahlbeobachter sind vorsichtig. Sie wissen, wie schnell sich der Erfolg in eine politische Katastrophe umwandeln kann, wenn nicht der gesamte Wahlprozess akzeptabel für jeden abläuft. „Wir bleiben bis zum Ende hier in Afghanistan“, versicherte Bermans Stellvertreterin Maria Espinosa, „notfalls einen Monat nach einem eventuellen zweiten Wahlgang. Wir sind in der Lage, jeden Schritt aus der Nähe zu verfolgen.“
Aber in der afghanischen Hauptstadt sind sich sämtliche in- und ausländische Beobachter einig: Es werde höchstwahrscheinlich keinen zweiten Wahlgang mehr zwischen den beiden Kandidaten geben, die die meisten Stimmen auf sich einigen konnten. Denn die afghanische politische Tradi-tion sieht neben Wahlen auch Verhandlungen vor. Ein europäischer Diplomat erklärt, er gehe davon aus, dass niemand mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen habe und die beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, sich in den kommenden Wochen auf eine Art Machtteilung einigen würden.
Glaubt man afghanischen Medienberichten, sind diese Kandidaten Abdullah und Aschraf Ghani, und zwar in dieser Reihenfolge. Das deckt sich mit dem Eindruck vieler ausländischen Beobachter. Ein Diplomat, der nach den Wahlen sowohl mit den Kandidaten, als auch dem amtierenden Präsidenten Hamid Karsai gesprochen hatte, berichtete, sowohl Abdullah, als auch Aschraf Ghani wüssten mittlerweile, dass sie es im ersten Wahlgang nicht geschafft haben. Auch die Unterstützung des drittstärksten Kandidaten Rassoul reiche nicht aus, eine Entscheidung herbeizuführen.
Da lacht ein vierter afghanischer Politiker, der nicht mehr kandidieren durfte, aber gerne weiterhin mitregieren will: der bisherige Präsident Hamid Karsai, der seit Ende 2001 regiert und zuletzt immer stärker in der Kritik stand. Denn nur er wäre dann in der Lage, die entscheidende Unterstützung für einen der beiden Kandidaten zu organisieren. Dann könnte Karsai sozusagen als Königsmacher sogar die Bedingungen für die neue Regierung diktieren.