Auf die Frage, was ihn am meisten am Wahlkampf gestört habe, antwortete CSV-Präsident François Biltgen Anfang Juni dem Luxemburger Wort: „Das Ausmaß partikularer Wahlprüfsteine. Diese zu beantworten ist enorm zeitintensiv. Hinzu kommt, dass die allgemeine Logik und der Zusammenhalt der in langen Arbeitssitzungen erarbeiteten Programme immer mehr in den Hintergrund rückt.“
Die Wahlen sind gelaufen, aber des Mannes Kummer dürfte noch kein Ende haben. Denn nach den oft mit Copy-Paste aus den Wahlprogrammen beantworteten Wahlprüfsteinen geht die Lobbyarbeit weiter. Noch nie waren Koalitionsverhandlungen so intensiv von Lobbyisten umringt. Es vergeht kaum eine der öffentlich angekündigten Sitzungen von CSV und LSAP im Arbeitsministerium ohne Aufmarsch der einen oder anderen Berufsgruppe oder Umweltschutzvereinigung im Rousegäertchen. Wenn die Parteien gerade nicht tagen, veröffentlichen Kulturfunktionäre und Freidenker in Pressemitteilungen und während Pressekonferenzen Bittschriften an Formateur Jean-Claude Juncker.
Der Oberste Nachhaltigkeitsrat gab am 17. Juni eine Stellungnahme zum „nächsten Regierungsprogramm“ ab. Darin wünscht er sich, dass das Regierungsprogramm der „ökologischen Fußspur“ des Landes Rechnung trägt. Jeder Gesetzentwurf soll Angaben über seine Nachhaltigkeit enthalten, und der zuständige Minister soll „transversale Kompetenzen“ erhalten.
Am 24. Juni versammelten sich nach einem Aufruf von fünf Gewerkschaften 250 Gemeindebeamten der Stadt Luxemburg im Rousegäertchen. Sie warnten vor der Liberalisierung der Energieversorgung, und verlangten, dass die neue Regierung den Gesetzentwurf zurückzieht, nach dem Gemeindepersonal den privatisierten Strom- und Gasversorgern überlassen werden kann. Am 26. Juni wandte sich die Bauernzentrale mit einem 25-Punkteprogramm an die künftige Regierung. Sie verlangte, dass landwirtschaftliche Betriebe bei der Teilumstellung auf Biolandwirtschaft unterstützt werden sollen und der Handel mit Milchquoten eingestellt werde. Vor allem schlug sie vor, dass angesichts der aktuellen Krise Milchbauern dieselben staatlichen Überbrückungskredite und Garantien erhalten, die im Konjunkturpaket für Industrie- und andere Unternehmen vorgesehen sind. Die geschäftsführende Regierung kam den Milchbauern diese Woche entgegen.
Am 29. Juni entrollten Umweltschutzaktivisten im Rousegäertchen Listen mit 2 700 Unterschriften, die Umwelt- und Drittweltvereine in einer „Petition an die künftige Luxemburger Regierung“ gesammelt hatten. Darin wird festgestellt, dass Luxemburg seine Verantwortung beim Klimaschutz übernehmen müsse, woraus seine Volkswirtschaft Nutzen ziehen könne. Das kommunale Klimabündnis schickte der künftigen Regierung inzwischen einen ähnlichen Forderungskatalog.Einen Tag später versuchten die Berufsvereinigungen EPES, APEL und APEG, die für nächste Woche vorgesehenen Diskussionen von CSV und LSAP über eine Gehälterreform beim Staat zu beeinflussen. Habe die alte Regierung die Lehrergehälter deutlich erhöht, sei es an der neuen Regierung, endlich auch die Gehälter der Erzieher und Sozialpädagogen unter Berücksichtung ihrer Studiendauer anzupassen.
Auf höchstem Niveau meldeten sich dann in den letzten Tagen auch die beiden größten Berufskammern zu Wort. Die Handelskammer klotze mit einer gleich 90-seitgen Broschüre Entreprise Luxembourg 2.0, in der sie ihre kurz-, mittel- und langfristige „Empfehlungen an die künftige Regierungskoalition“ auflistete, um gestärkt aus der Krise zu gehen. Dazu gehören ebenso, die Zahl der Ministerien auf ein halbes Dutzend große Themen der staatlichen Funktionen zu beschränken, wie die Ablehnung jeder Erhöhung der Solidaritätssteuer und der Sozialversicherungsbeiträge, die Vereinfachung der Verwaltungsprozeduren, die Beschränkung der Indexanpassungen auf den anderthalben Mindestlohn und die Senkung der Anfangsgehälter im öffentlichen Dienst auf das Niveau der Privatwirtschaft. Der Unternehmerdachverband UEL will in den nächsten Tagen noch ein Papier über die Rentenversicherung nachschießen.
Darauf antwortete diese Woche die Salariatskammer mit einer ebenso langen Studie über Compétitivité vs cohésion sociale. Sie versucht darin den Nachweis zu erbringen, dass die Schwierigkeiten der Staatsfinanzen konjunktureller und nicht struktureller Natur seien. Was die Wettbewerbsfähigkeit anbelangt, so seien die Lohnstückkosten unterdurchschnittlich, die Sozialausgaben im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt niedrig, die Produktivität überdurchschnittlich und die Gewinnspannen „golden“, das heißt weit höher als in den Nachbarländern. Der die Salariatskammer dominierende OGB-L hatte CSV und LSAP gleich nach den Wahlen die „rote Linie“ vorgegeben, bis wohin sie am Sozialen sparen dürfen.
Während Jahrzehnten waren Koalitionsverhandlungen Geheimtreffen zwischen zwei Parteien. Erst neuerdings liefern die Formateure Zwischenberichte über den Stand der Gespräche, wird nicht nur das Regierungsprogramm, sondern auch das Koalitionsabkommen veröffentlicht. Trotzdem sind CSV und LSAP, die bis Ende des Monats ihre Wahlprogramme auf den gemeinsamen Nenner eines Regierungsprogramms bringen sollen, alles andere als begeistert darüber, wie sich die „Zivilgesellschaft“ uneingeladen mit an den Verhandlungstisch setzen will.