Zu den Fehlentwicklungen einer Nationalbibliothek

Munter drauflos experimentiert

Die Baustelle der neuen Nationalbibliothe in Luxemburg-Kirchberg
Foto: Romain Hilgert
d'Lëtzebuerger Land vom 22.06.2018

Bei politisch unbedeutenden Artikelkommentaren in Gesetzentwürfen hieß es früher „sans observations“. Heute steht dort „sans commentaire“. Genauso wurden hierzulande fast alle bibliotheksspezifischen Artikel in rechtlichen Vorarbeiten gekennzeichnet. Bibliotheken, insbesondere die der wissenschaftlichen Art, galten als gesellschaftlich notwendig. Gründungen geschahen jedoch meistens diskret, in politischer Gleichgültigkeit. Bibliotheksverwalter teilen dieselbe öffentliche Geringschätzung. Dabei verrichten sie die intellektuell sehr stimulierende Tätigkeit der richtigen Klassifizierung von Wissen. Eine seit etwa 150 Jahren existierende Bibliothekar-Ausbildung wird, ähnlich wie die Ägyptologie, bis heute als Orchideenfach angesehen.

Und nun wird diesem klischeebehafteten Außenseiterberuf von hoher Stelle her auch noch das Ende prophezeit: Der Bibliothekar sterbe aus, so eine launische und von keinerlei Sachkenntnis getrübte Aussage eines Staatsministers (RTL Radio Lëtzebuerg, „Background am Gespréich“, 16.12.2017). Man stelle sich vor: Sämtliche Bibliothekar-Ausbildungsstätten der Welt hätten daraufhin ihre Tore geschlossen. Sie taten es seltsamerweise nicht. Vielleicht wäre es besser, es gäbe hierzulande nicht nur mehr Bibliothekare, sondern vor allem die der qualifizierten Art, besonders in Leitungspositionen. Die Budgetverbrennungsersparnis wäre beachtlich, wie folgende Analyse zeigt.

Fehlentwicklungen

Einer nationalen Tradition zufolge – ein Land, eine Institution – beschränken wir uns geistig brav beschränkt auf eine einzige Bibliothek. Als gäbe es nur eine: die Bibliothèque nationale, national im historischen Sinne von staatlich („propriété de l’État“, Staatsratsgutachten, 21.10.1898). Deshalb kam sie per Budgetgesetz vom 28. März 1899 (Art. 167ter) zu ihrem Namen. „Bibliothèque de l’État“ (Staatsbibliothek) klang wohl schon Endes des 19. Jahrhunderts nicht hip und trendy genug. Ein weiser Entschluss, rückblickend betrachtet.

In der BNL – falsch: der Bibliothèque nationale de [la Ville de] Luxembourg (Nationalbibliothek der Stadt Luxemburg) wird munter drauflos experimentiert, nach dem Anti-Branding-Motto: „Luxembourg, let’s make SHit happen!“ Was läuft schief?

A) Der letzte Umzug mit über 600 000 Büchern, verteilt auf vier Depots, dauerte sechs Jahre, von 1967 bis 1973. Am 15. November 1972 stellte ein Parlamentsbericht fest: „Le travail de contrôle et le classement de toute cette masse étaient énormes.“ Demnächst steht wieder ein Umzug an, diesmal sind es rund 1,5 Millionen Print-Bücher und sieben Depots. Logischerweise kann, entgegen der offiziellen Propaganda, Ende 2018/Anfang 2019 nur eine Fassade der neuen Nationalbibliothek eingeweiht werden. Die Eröffnung einer „Galerie nationale d’art luxembourgeois“ (Gnal) und die Einrichtung von „Sonstigem“, was gerade irgendeiner politischen Laune entspringt, im mehr als 300 Jahre alten intellektuellen Zentrum unseres Landes wird sich deutlich verzögern.

B) Der BNL-Neubau ist laut aktueller architektonischer Faustregel nur für 30 Jahre ausgelegt. Warum aber konnten entsprechende Neubauten in Frankreich für 50 Jahre und in Deutschland für 100 Jahre geplant werden? Entspricht eine Langfristigkeit-Maßeinheit à la luxembourgeoise etwa 30 Jahren? Dann wird die historische Existenz dieses Staates wahrhaftig eine kurze sein.

C) Versierte BNL-Katalogbenutzer staunen: Neueste Asterix-Bände und billigste Trivialliteratur finden sich seit Kurzem in den BNL-Beständen. Baut der Staat hier etwa einer (bestimmten) Gemeinde eine Stadtviertelbibliothek auf (Lëtzeburger Journal, 7. Dezember 2012)? Mögen andere Kommunen sofort ebenfalls derartige Forderungen stellen! Staatliche Stadtbibliotheken – und staatlich kontrollierte Medien – für alle! (d’Land, 14/2018)

D) „De Site ass net ideal“ (d’Land, 30/2013): Eine wie so oft rein politische Standortentscheidung wird insbesondere die Zukunft der doch aktuell so identitätsfimmelmäßig hochgeschätzten Luxemburgistik-Forschung auf Jahrzehnte belasten. Studenten (Acel) und Bibliothekare (Albad) hatten es 2013 vorausgesagt. Niemand wollte zuhören. Mit dem Universitätsumzug nach Esch/Belval im September 2015 fielen die BNL-Benutzungsstatistiken dramatisch. Wer nicht hören will, muss fühlen, und zwar wie viele jahrzehntelange Folgekosten diese Entscheidung generieren wird.

E) Das Internet führt dazu, dass allgemeine Nachschlagewerke immer weniger benutzt werden. Die luxemburgischen Flohmärkte sind voll von Brockhaus & Co.; für einen Euro gibt es ein Kilo Bücher, äußerst praktisch zur Stubendekoration. Eine BNL, eine non-fiction library par excellence, müsste theoretisch sofort umdenken und würde keinen überdimensionierten Lesesaal benötigen.

F) Zumindest in Europa wird die BNL die erste Institution ihrer Art mit Bücherbusgaragen. Im Klartext: In einer Demokratie ist es keineswegs üblich, dass ein Regierungsbus mit Regierungsbüchern, ausgewählt von Regierungsbeamten, durch anscheinend autonome Gemeinden fährt (Tageblatt, 20. Mai 2017).

Lösungsansätze

Um eine neue Nationalbibliothek des Landes Luxemburg (richtig übersetzt: Bibliothèque nationale du [pays de] Luxembourg) doch noch auf einen vernünftigen Weg zu bringen, hier einige wissenschaftlich fundierte Vorschläge, basierend auf Geschichte und aktueller Forschung:

Ad A) Wird es zu einem Stillstand der Luxemburgistik-Forschung kommen, weil weltweit einzigartige Dokumente für mehrere Monate gesperrt werden? Zuzutrauen ist das unserem Kleinhirnstaat durchaus. Denn einen Vorgeschmack gab es bereits vor kurzem („La recherche se repose“, d’Land, 08/2018). Ein professionelles Vorgehen während des Umzugs, wie auswärts üblich, bedeutet einen Aufbau von zwei Ausleihstationen (am alten und am neuen Standort), mit einem tadellos funktionierenden Bestandsnachverfolgungssystem und so weiter. So käme man jeden Moment an seine Quellen, was eigentlich normal wäre.

Ad B) Alles zu digitalisieren geht nicht, solange ein internationales Urheberrecht existiert. Papierlose Nationalbibliotheken bleiben eine Utopie. Die Bestände der Nationalbibliotheken in Paris und Frankfurt/Leipzig wuchsen schneller als erwartet; heutige Planungsrechnungen gehen von mindestens 20 Jahren weniger aus als vorgesehen. Print is still king. Zum Beweis: Der weltweite Buchhandlungskiller Amazon eröffnet zurzeit erste Print-Buchhandlungen. Und was sagt unsere Geschichte? Im Jahre 1976, drei Jahre nach Eröffnung der BNL, ging ihr Leiter wegen Platzmangels auf die Suche nach einem ersten Ausweichdepot. Lösung A): Sofort auf Depotsuche gehen! (vielleicht das Ex-BNL-Gebäude?) Lösung B): Die BNL auf ihre primäre Aufgabe (Luxemburgensia) beschränken und somit Spielraum für 50 Jahre schaffen.

Ad C) Erneut liefert ein Blick in die Geschichte die Antwort: 1962 sonderte ein überaus kluger BNL-Leiter, Joseph Goedert (*1908-†2012), die Unterhaltungsliteratur aus, um einer über Jahrzehnte hinweg fälschlich entstandenen Volksbibliothek ein Ende zu bereiten. Wenn auch bis heute kein BNL-Leiter fachlich qualifiziert war, beziehungsweise ist: Goedert handelte richtig! Heute müsste angesichts der Masse eine zu bildende Aussonderungskommission eine wissenschaftliche Bestandsqualität wiederherstellen. Zu entfernende Medien, von der Allgemeinheit immerhin finanziert, sind nicht sinnlos zu zerstören, sondern anderen Bibliotheken zu schenken, wie das 1962 geschah. Bemerken wir, dass die Präsenz einer staatlichen wissenschaftlichen Universalbibliothek auf einem Gemeindeterritorium diese Gemeinde nicht von ihrer Volksbibliothekenaufbauverpflichtung (inklusive Zweigstellenbibliotheken) entbindet.

Ad D) Dokumente zwischen Luxemburg und Esch-sur-Alzette hin und her zu transportieren, ist kostenintensiv und nicht nachhaltig. Riskant ist es auch, denn dabei kann es zum Verlust von Unikaten kommen. Eigentlich ist der Aufbau einer zweiten Nationalbibliothek innerhalb der Belvaler Universitätsbibliothek vorprogrammiert (Tageblatt, 24. Januar 2014). Allerdings: Sollte ein unter permanentem Minderwertigkeitskomplex leidendes Großherzogtum nicht mindestens zwei Universitäts-, ja gar zwei Nationalbibliotheken besitzen dürfen? Wie das große Deutschland? Eigentlich nicht, wo doch Geldverschwendung ein gesellschaftliches Gräuel darstellt. Doch angesichts des Parlamentsvotums vom 21. März 2013 ist dies unvermeidlich. Shit happens!

Ad E) Nationalbibliotheken besitzen naturgemäß ein Buchmuseum, wo sie doch sämtliche im Nationalstaat veröffentlichte Drucke aufbewahren. Für diesen Zweck kann ein überproportionierter Lesesaal als Ausstellungsfläche herhalten. Um sich vom nationalen Literaturarchiv (CNL) in Mersch abzugrenzen, das die BNL literaturwissenschaftlich um Jahrzehnte abgehängt hat, bleibt einer Nationalbibliothek nur eine Fokussierung auf die Buchwissenschaft übrig. Wenigstens handelt es sich um ein nationales Feld mit einem gigantischen Potenzial, Pionierarbeit zu leisten. Was übrigens jede zusätzliche Personalaufstockung der BNL überhaupt rechtfertigen würde.

Ad F) Der weltweite Trend des Fahrbibliotheksaussterbens seit den 1970er Jahren (d’Land, 31/2001) wird nicht vor der Insel Luxemburg halt machen. Lernen wir vom (nahen) Ausland! Ersetzen wir die staatlichen mobile libraries endlich durch ein effizientes Dorfbibliotheksaufbauprogramm, das nebenbei die kommunale Autonomie, ergo die Demokratie, allgemein stärkt. Lohnt sich das? Das nahe Ausland, Lothringen etwa, beweist es sehr anschaulich und schon seit 30 bis 40 Jahren. Und bitte: Schluss mit drittklassigen Bücherschränken! (d’Land, 17/2017)

Fazit

Zum Lieblingssport der Luxemburger gehört es, jeden Tag das Rad neu zu erfinden. Jedoch wird dieser stete vermeintliche Innovationsdrang überwiegend durch mangelnde historische Kenntnisse und Ignoranz von Trends durch Nicht-Lesen aktueller Fachliteratur bestimmt. Wie aber kann der ahnungslose Laie die Spreu vom Weizen trennen? Wie werden Schnapsideen allgemein am besten entlarvt? – Wie hier oft erwähnt, durch folgende Fragestellung: Warum haben ähnliche Denkergebnisse im Ausland nichts bewirkt? Kurzgefasst: Warum klappte es anderswo nicht? Eine in der Regel darauffolgende Ratlosigkeit bedarf keines weiteren Kommentars.

Jean-Marie Reding ist Bibliothekar.

Jean-Marie Reding
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