Wenn das keine schallende Ohrfeige ist. In seinen mit Ungeduld erwarteten Gutachten zu den sieben im Juli vergangenen Jahres vorgelegten Ausführungsbestimmungen über das Office national de l’enfance (ONE) hat das Gremium sein Verdikt gesprochen: Mehrere der Verordnungen entbehrten einer gesetzlichen Grundlage – und riskierten somit gegen die Verfassung zu stoßen.
Nachdem das Jugendhilfegesetz im Dezember 2008 verabschiedet worden war, sollte das neu geschaffene ONE eigentlich bereits im vergangenen Jahr seine Arbeit aufnehmen. Weil aber die Ausarbeitung der Bestimmungen schon fast zwei Jahre dauerte, ist die Behörde bis heute nicht startklar. Man sei bereit sofort mit der Arbeit zu beginnen, wenn die Verordnungen einmal vorlägen, hat ONE-Direktor Jeff Weitzel noch vor kurzem dem Tageblatt gesagt.
Wie es aussieht, wird er noch länger warten müssen. Denn, so schreibt der Staatsrat, die Services de coordination de projets d’intervention (CPI) seien ohne legale Basis. Die CPI-Dienste sollten als Bindeglied zwischen dem ONE und den Leistungsanbieter sowie den Klienten fungieren: Sie hätten die Fälle evaluiert und, im Auftrag des ONE, gemeinsam mit den Leistungsanbietern Hilfepläne entwickelt. Um die nötige Fachkompetenz sicherzustellen, hatte das Ministerium eigens eine Weiterbildung initiiert. Die ersten Teilnehmer haben diese abgeschlossen – und sind jetzt ohne Job?
Der Staatsrat erkennt durchaus an, dass die CPI-Dienste laut Familienministerium „eine wichtige Rolle“ zu spielen hätten, allerdings sei die ihnen zugewiesene Mission nicht durch das Jugendhilfegesetz gedeckt. Im Ausgangstext ist die Rede von „équipes multiprofessionelles“ und „agents“, aber nicht von neu zu schaffenden Diensten. Für den Staatsrat Grund genug, das Herzstück der Jugendhilfereform in Frage zu stellen. Aber das ist nicht alles: Mit den CPI-Diensten fällt auch die Arbeitsaufteilung, wonach das ONE sich vor allem um die Finanzierung, die Qualitätsentwicklung und sowie um Zulassungsfragen bei neuen Hilfsanbietern kümmern soll. Das Dispositiv des ONE sei „zu gewichtig“, so der Staatsrat, der zudem tadelt, statt der angestrebten „déjudiciarisation“ der Erziehungshilfen gebe es nun eine „übertriebene Bürokratisierung“.
Die Schelte des Rats erstaunt nicht, hatte er doch schon in seinem Gutachten zum Jugendhilfegesetz einen „Mangel an Kohärenz“ festgestellt und davor gewarnt, mit dem ONE drohe die „Vermischung“ von Funktionen. Damit das Jugendamt seine Rolle als – fachlich versierter – Koordinator von Erziehungshilfen spielen könne, sei es besser, so sein damaliger Vorschlag, Zuständigkeiten wie die der Finanzierung dem Ministerium zu überlassen.
Und wie jetzt weiter? Das Familienministerium ist, ebenso wie die Verantwortlichen im ONE, obwohl vom Land mehrfach kontaktiert, abgetaucht. Das erstaunt nicht, gerät doch mit dem Gutachten die neue Konstruk-tion der Jugendhilfe ins Wanken. Gerüchten zufolge soll der zuständige Beamte im Ministerium, Nico Meisch, selbst Probleme mit einigen Bestimmungen gehabt haben, diese, so wird im Sektor gemunkelt, seien aber vom ONE-Direktor durchgesetzt worden. Das würde vielleicht erklären, warum der Staatsrat weitere, handwerkliche Fehler moniert: etwa das wichtige Querverweise fehlten, überflüssige Details und Wiederholungen in den Bestimmungen stünden, während wichtige Präzisionen, etwa über den finanziellen Impakt der Umwälzungen ausblieben. Zwischen den Zeilen lässt sich das Gutachten so lesen: Trotz zwei Jahren Bedenkzeit und unzähligen Sitzungen mit dem Sektor mutet die Ausarbeitung der Verordnungen dilettantisch an. Déi Gréng wollen nun von Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) wissen, wie es zu dem Durcheinander kommen konnte. „Das Jugendhilfegesetz muss noch einmal gründlich überarbeitet werden“, so die grüne Abgeordnete Viviane Loschetter gegenüber dem Land.
Unabhängig davon jedoch, wer die politische Verantwortung für das Schlamassel trägt, die Geschichte ist nur dann ganz erzählt, wenn man auch die Rolle der Leistungsanbieter berücksichtigt: Der Heimträgerverband EGCA erklärte am Donnerstag in einer eilig verabschiedeten Stellungnahme, er unterstütze weiterhin die Einrichtung der CPI-Dienste: in Form eines neutralen unabhängigen Dienstes. Tatsache ist aber auch, dass etliche Heimträger der Idee eines starken ONE mit diagnostischen Befugnissen von Anfang an sehr kritisch gegenüber-standen und sich die Träger damals auf keine gemeinsame Position einigen konnten. Dass etwa die Fallevaluierung nicht dem ONE direkt übertragen, wie jetzt vom Staatsrat erneut zur Option erklärt, sondern an CPI-Dienste ausgelagert wurde, war ein nach zähen Debatten ausgehandeltes Zugeständnis gewesen. Und zwar an jene Skeptiker, die fürchteten, von einem übermächtigen ONE kontrolliert zu werden, und deshalb die CPI-Dienste lieber selbst aufbauen wollten.
Für sie ist das Urteil des Staatsrates keinesfalls ein Erfolg: Nicht nur, dass nun einige Leistungsanbieter fertig ausgebildete CPI-ler in ihren Häusern haben, die auf ihren Einsatz warten. Schlimmer ist, dass weiterhin zentrale Fragen in der Jugendhilfe ungeklärt sind. Darunter werden letztlich die Klienten, die Jugendlichen und Eltern, zu leiden haben. Familienministerin Jacobs hatte die Heimträger am gestrigen Donnerstag zu einer Dringlichkeitssitzung geladen. Das Ergebnis der Unterredung war bis Redaktionsschluss aber nicht bekannt.