Nach dem Desaster beim Referendum könnte nun die ganze Verfassungsrevision in Gefahr geraten

Angst vor dem nächsten Scheitern

d'Lëtzebuerger Land vom 19.06.2015

Beim Referendum vom 7. Juni lehnten vier von fünf Wählern alle Vorschläge der Regierungsmehrheit ab. Die erste direkte Folge davon ist, dass das nächste Referendum nun aufgeschoben ist: Drei Tage nach der Volksbefragung war der parlamentarische Ausschuss der Institutionen und der Verfassungsrevision zusammengekommen und fand, dass Oktober 2017 ein sehr schlechter Zeitpunkt für ein neues Referendum sei.

Die offizielle Erklärung dafür ist, dass das Parlament die Verfassungsrevision wohl nicht rechtzeitig Anfang 2017 verabschieden kann, und außerdem Ausschussvorsitzender Alex Bodry (LSAP) das Referendum über den neuen Verfassungstext am selben Sonntag wie die Gemeindewahlen organisieren wollte, um den Wählern einen zusätzlichen Weg in die Wahlkabine zu ersparen und Organisationskosten zu sparen. Doch jetzt fand die CSV heraus, dass die Diskussion über die Verfassungsrevision dann während des Gemeindewahlkampfs stattfinden würde, was für eine derart komplizierte Angelegenheit hinderlich wäre. Außerdem trüge es nicht zur Glaubwürdigkeit bei, wenn die Parteien sich im Gemeindewahlkampf bekämpften und gleichzeitig wie aus einem Mund die Wähler für die Ratifizierung der Verfassungsrevision zu überzeugen versuchten.

Der tiefere Grund für den Aufschub des nächsten Referendums aber ist, dass die Angst vor einem Scheitern der gesamten Verfassungsrevision wächst. Denn seit die CSV in der Opposition ist, hat das Risiko deutlich zugenommen, dass durch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien die für eine Verfassungsrevision nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament verfehlt wird. Während der vorherigen Legislaturperiode fehlte der Regierungsmehrheit von CSV und LSAP bloß eine Stimme zur Zweidrittelmehrheit, diesmal hat eine einzige Partei, die CSV, mehr als ein Drittel der Mandate und damit eine Sperrminorität. Im Falle eines Referendums wird die Glaubwürdigkeit der Verfassungsrevision aber wesentlich von der öffentlichen Unterstützung durch die CSV abhängen.

Die Regierungsmehrheit baut derzeit darauf, dass der bisherige Ausschussvorsitzende Paul-Henri Meyers (CSV) die Verfassungsrevision als sein Lebenswerk ansieht und sie damit unbedingt zu einem glücklichen Ende bringen will. Aber spätestens seit dem Referendum vom 7. Juni dürfte die CSV der Regierung nichts schenken. Schon gibt es Stimmen, die Ausschusspräsident Alex Bodry vorwerfen, seinen Vorgänger unnötig zu brüskieren und mit der vor einem Monat beschlossenen Umbenennung des Revisionsvorschlags und den dazu gehörenden, weitgehend auf Vorschläge des Staatsrats zurückgehenden 69 Änderungsanträgen aus einem Meyers-Text einen Bodry-Text machen zu wollen.

Denn die langwierige Prozedur ist inzwischen in einer neuen Runde: Nach jahrelangen Geheimverhandlungen im parlamentarischen Ausschuss wurde der erste Textvorschlag im April 2009 im Parlament hinterlegt. Ziel der Revision ist es, die Verfassung präziser zu formulieren und an die Rechtspraxis anzupassen, damit Luxemburg nicht mehr länger den Anschein einer halbfeudalen Monarchie hat. Der Interpretationsspielraum der Gerichte soll eingeschränkt und die Anpassung an europäisches Recht vereinfacht werden.

Danach dauerte es mehr als drei Jahre und allerlei Verhandlungen hinter den Kulissen, bis der Staatsrat nach der Regierung und der Justiz sein Gutachten vorlegte. Auf dieser Grundlage überarbeitete der parlamentarische Ausschuss wiederum fast drei Jahre lang seinen Vorschlag Artikel für Artikel, bis er dem Staatsrat nun Mitte Mai seine Änderungsanträge zustellte. Zu den strittigen Punkten gehörten alte, wie die Entmachtung des Großherzogs nach dem Streit um die Euthanasie und die Reform der Justiz, aber auch neue, wie die Prozedur zur Auflösung des Parlaments nach der Regierungskrise von 2013, der Stellenwert der Religionen nach der Konvention der Regierung mit dem Erzbistum und der Übergang von der alten zur neuen Verfassung. Die Probleme werden nicht dadurch einfacher, dass die Verfassungsrevision eine ganze Menge Gesetzesänderungen nötig macht, die möglichst zeitgleich verabschiedet werden und in Kraft treten müssen.

Sicher überlegen es sich alle großen Parteien zweimal, ob sie all diese jahrelangen Vorarbeiten aufs Spiel setzen wollen. Aber gegen politische Unwägbarkeiten und Krisen, wie 2013, sind sie nicht gefeit. Noch unberechenbarer sind allerdings die Wähler, die erstmals in der Landesgeschichte aufgerufen werden sollen, eine Verfassung durch eine Volksbefragung zu legitimieren. Artikel 114 der heutigen Verfassung sieht vor, dass eine Verfassungsrevision zweimal binnen drei Monaten vom Parlament gutgeheißen werden muss. Das zweite Votum kann aber durch ein Referendum ersetzt werden.

Ein solches Verfassungsreferendum hatten CSV und DP schon 1999 im Koalitionsabkommen abgemacht, und 2009 schrieben CSV und LSAP es auch in ihr Programm. Doch bereits 2010 begann die CSV, von Jean-Claude Juncker bis Paul-Henri Meyers, die Idee anzuzweifeln, und versuchte, an einem Referendum vorbeizukommen. Nach dem knappen Ausgangs des Referendums über den Europäischen Verfassungsvertrag stellte sich die LSAP ihr nicht in den Weg. Die Argumentation war einfach: Nur wenn eine alte durch eine neue Verfassung ersetzt werde, solle diese durch ein Referendum legitimiert werden, nicht aber eine Serie von Änderungen an der bestehenden Verfassung. Aus diesem Grund musste der Revisionsvorschlag bis vor drei Monate den bescheidenen Titel „portant modification et nouvel ordonnancement de la Constitution“ tragen. Erst seit das Verfassungsreferendum beschlossene Sache ist, heißt es nun stolz „portant instauration d’une nouvelle Constitution“.

Tatsächlich sind die Unwägbarkeiten eines Referendums nicht zu unterschätzen. Denn es ist möglich, dass sich spontan eine große Koalition kleiner Minderheiten bildet: fünf Prozent der Wähler, die die Verfassung ablehnen, weil in ihren Augen der Tierschutz zu kurz kommt, plus fünf Prozent, die sie ablehnen, weil ihnen der Stellenwert der Luxemburger Sprache unzureichend scheint, plus fünf Prozent, die wollen, dass der Staat die Priestergehälter weiterzahlt... Die politische Konjunktur zum Zeitpunkt des Referendums ist unabsehbar, aber wie am 7. Juni kann zudem ein ansehnlicher Teil der Wähler das Referendum nutzen, um seinen Überdruss mit der Regierung auszudrücken.

Gegen diese Risiken hilft es nur wenig, das Referendum aufzuschieben. Wenn nämlich verhindert wird, dass die Referendumsdebatte im Herbst 2017 in den Gemeindewahlkampf fällt und auf Frühjahr 2018 aufgeschoben wird, läuft sie Gefahr, in den beginnenden Parlamentswahlkampf zu fallen. Im Oktober 2018 sind Kammerwahlen, und weil es um eine mögliche Rückkehr der CSV an die Macht geht, könnte der Wahlkampf früh beginnen und stürmisch werden. Ein Verfassungsreferendum einige Monate zuvor könnte also zu einer Art Generalprobe für die Kammerwahlen werden.

Im parlamentarischen Ausschuss werden aber auch weitere Mittel diskutiert, um eine Mehrheit der Wähler für die Verfassungsrevision zu gewinnen. Wobei man sich vorgenommen hat, die öffentliche Debatte im Vorfeld des Referendums deutlich besser zu organisieren als für den 7. Juni. Premier Xavier Bettel (DP) kündigte am vergangenen Freitag an, dass er sich noch am gleichen Tag mit Experten der Universität treffen wolle, um sich über den künftigen Umgang mit Referenden beraten zu lassen. Verschiedene Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler hatten in den vergangenen Monaten die Referendumskampagne des Parlaments heftig kritisiert.

Im parlamentarischen Ausschuss denkt man daran, auf aus der Werbebranche beliebte Fokusgruppen zurückzugreifen. Sie waren bereits bei der vom Parlament bestellten Analyse der Kammer- und Europawahlen eingesetzt wurden, auch wenn Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) Fokusgruppen als Stammtischgeschwätz abtat. Mit diesen von einem Moderator geleiteten kleinen Gesprächsgruppen soll herausgefunden werden, welche der 131 Verfassungsartikel den Wählern am wichtigsten sind. Auf diese paar Themen soll sich dann der Wahlkampf konzentrieren.

Sollte sich in der öffentlichen Debatte herausstellen, dass einzelne der vorgeschlagenen Artikel missverstanden oder von politischen Gegnern falsch ausgelegt werden, plädiert Ausschusspräsident Alex Bodry dafür, die entsprechenden Texte ohne falsche Scheu zu ändern. Aber nach der Verabschiedung des Verfassungstextes durch das Parlament verlangt Artikel 114 der Verfassung, dass der Text „dans les mêmes termes“ in zweiter Lesung oder durch ein Referendum angenommen wird.

Unklar bleibt weiter der Umgang mit den Revisionsvorschlägen, die Privatpersonen auf der Web-Seite des Parlaments einreichen können (d’Land, 5.6.2015). Auch wenn referendum.lu bisher eher als konstitutionelle Spielwiese für Tierfreunde abgetan wurde, will der parlamentarische Ausschuss nun um keinen Preis den Eindruck erwecken, dass er sie nicht ernst nehme. Nachträglich will er sogar eine Prozedur für den Umgang mit diesen inzwischen 70 Meldungen erfinden.

Zu klären bleibt auch, welcher Platz in der öffentlichen Debatte möglichen Gegnern der Verfassungsrevision eingeräumt werden soll, die offen aufrufen, mit Nein zu stimmen. Während der Kampagne für das Referendum vom 7. Juni waren die im Parlament vertretenen Parteien streng unter sich geblieben.

Aber alle diese Überlegungen drücken vor allem die Hilflosigkeit im Umgang mit dem geplanten Referendum aus. Und an den Plan B für den Fall, dass das Referendum über die Verfassungsrevi­sion 2018 so ausgeht wie das Referendum über drei Reformvorschläge am 7. Juni, will derzeit niemand denken. Er liefe wohl darauf hinaus, dass das Parlament den Traum einer großen Gesamtrevision begrübe und einige für unverzichtbar gehaltene Schlüsselelemente des gescheiterten Textes nach den Wahlen in zwei parlamentarischen Lesungen ohne Referendum guthieße – schließlich wäre es keine Gesamtrevision mehr. Dann hätten die Konservativen in der CSV Recht behalten, die sich so lange gegen eine Gesamtrevision und eine Änderung von Verfassungsartikel 114 gesträubt hatten, der erst eine solche Gesamtrevision ermöglicht. Damit die Kirche im Dorf bliebe.

Romain Hilgert
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