Einer der ersten, die sich am Sonntag öffentlich zum Referendumsergebnis äußerten, war Michel Wolter. „Wenn Herr Bettel Ehrgefühl hat und den Willen des Volkes respektiert, bietet er noch heute Abend seinen persönlichen Rücktritt an“, twitterte der Käerjenger député-maire und frühere CSV-Präsident. Damit gab er für die CSV den Ton vor. Denn ihre Kammerfraktion sollte sich erst um 17 Uhr, 22 Minuten nach dem Wolter-Tweet, treffen und das weitere Vorgehen besprechen.
Doch Neuwahlen, wie Parteipräsident Marc Spautz sich anderthalb Stunden später auf einer Pressekonferenz verstehen lassen konnte, verlangte die CSV am Ende doch nicht. Spautz hatte die Parallele zu 2005 gezogen, als CSV-Premier Jean-Claude Juncker sein Amt in die Waagschale für ein Ja zum EU-Verfassungsvertragsentwurf geworfen hatte. „Der damalige LSAP-Vorsitzende Alex Bodry“ habe gesagt, schlage das Referendum fehl, reiche ein Rücktritt Junckers nicht. Dann müsse es Neuwahlen geben. Spautz fand es „völlig unverständlich, dass nun alles weitergehen soll, als sei nichts gewesen“. Das fand später am Abend auch CSV-Fraktionsvorsitzender Claude Wiseler in der „Elefantenrunde“ im RTL-Fernsehen. Allerdings mochte er nicht einmal ganz offen Xavier Bettels Rücktritt fordern und wiederholte nur, „wenn ich Premier wäre, wüsste ich was ich zu tun hätte“. Was sich anhörte, als habe der Oppositionsführer im Parlament es gar nicht eilig, Bettel abzulösen.
Aber 2015 ist nicht 2005. Weder hatte der DP-Premier sein politisches Schicksal vom Ausgang des Referendums abhängig gemacht, noch hatte die DP/LSAP/Grünen-Koalition versprochen, die Mehrheitsbeschlüsse der Wähler bedingungslos auszuführen. Auch CSV und ADR hatten sich nicht bereiterklärt, sie bedingungslos auszuführen. Das Referendum vom 7. Juni war nur beratend. 2005 dagegen hatte die Abgeordnetenkammer den EU-Verfassungsvertragsentwurf in erster Lesung schon angenommen und die zweite Lesung an das Referendum delegiert. Hätten die Wähler vor zehn Jahren die CSV/LSAP-Regierung desavouiert, wären Neuwahlen nicht allein davon abhängig gewesen, ob die CSV einen Juncker-Ersatz hätte aufbieten und die LSAP ihn hätte akzeptieren können, sondern womöglich verfassungsrechtlich unumgänglich. Das hatte Bodry damals gemeint.
Diesmal sind die „Konsequenzen“ aus dem Referendum eine Frage politischen und öffentlichen Drucks. Weil Wiseler noch einen Tag vor der Volksbefragung in einem Streitgespräch mit LSAP-Außenminister Jean Asselborn im Luxemburger Wort erklärt hatte, die Wähler hätten „über die drei Fragen zu entscheiden, über sonst nichts“, kann die größte Oppositionspartei selbst angesichts von 80 Prozent Nee, nee, nee nicht ohne Weiteres mehr tun, als sich laut vorzustellen, „was wäre, wenn“. Ihr Fraktionspräsident aber lief am Dienstag in der Debatte nach dem Referendum zu Hochform auf. Die Regierung habe dem Volk den Spiegel vorhalten wollen. Stattdessen habe „das Volk Bettel den Spiegel vorgehalten“. Für die „Spaltung der Gesellschaft“ und die „Spaltung“ der Gemeinschaften von Luxemburgern und Ausländern machen CSV aber auch die ADR, vor allem den Premier verantwortlich.
Das funktioniert deshalb so gut, weil die von den vielen Nein-Stimmen geschockte blau-rot-grüne Koalition nach dem Referendum vorerst nichts anderes zu sagen weiß, als das Resultat nun doch „bedingungslos zu respektieren“, aber kaum Fehler einräumt. Erst gegen Ende der Parlamentsdebatte stöhnte Bettel, „wir haben natürlich auch Fehler gemacht“, fand aber kaum andere als den, die Wähler „von Anfang nicht genug in die Debatte eingebunden“ zu haben. Zuvor hatten LSAP-Fraktionschef Bodry und der grüne Justizminister Félix Braz das Mantra vom Analysieren-Müssen heruntergebetet und der DP-Fraktionsvorsitzende Eugène Berger verglich ein Referendum mit „einer Runde Freibier“: Nicht einmal für so etwas gebe es „hundert Prozent Zustimmung“.
Was auffällt an der Referendums-Nachlese: Kaum jemand stellt das Resultat in den Zusammenhang der Politik der Regierung und deren erklärtes Ziel, das Land „modernisieren“ und „wettbewerbsfähiger“ machen zu wollen. Bettel hat vermutlich Recht, wenn er der Behauptung der CSV widerspricht, das Referendumsergebnis habe dem Ansehen Luxemburgs im Ausland geschadet. Denn das internationale Medienecho ist eher anerkennend. Die bloße Fragestellung nach einem Ausländerwahlrecht für Parlamentswahlen in einem Referendum wird als das gesehen, was sie war: eine Pioniertat in einem Land mit ziemlich einzigartiger Zusammensetzung der Bevölkerung. Doch von den allermeisten politischen Parteien über die Salariatskammer und die Plattform Migration et intégration bis hin zu betroffenen Kulturschaffenden heißt es nun, die Herausforderung für die nächste Zeit bestehe darin, auf „anderem Weg“ für mehr politische Partizipation von Ausländern zu sorgen. Am Dienstag im Parlament sprach nur der Lénk-Abgeordnete David Wagner von der „offensichtlichen Unzufriedenheit in der Bevölkerung“ und dass deren Ursachen ergründet werden müssten. Der Soziologe Fernand Fehlen von der Uni Luxemburg hatte Recht, als er am Montag in einer Sondersendung von Chamber TV meinte, man beschwöre Brüche zwischen Luxemburgern und Ausländern, blende andere Brüche in der Gesellschaft, etwa soziale, stattdessen aus und „ethnisiere“ so die Politik.
Denn was tatsächlich fehlt, ist das Eingeständnis, dass das Resultat der Volksbefragung auch etwas zu tun haben dürfte mit dem Unmut über „Gambia“. Mit der bisher nicht existenten Wohnungsbaupolitik, den Zerwürfnissen zwischen Bildungsminister und Lehrern, der Streichung von Familienzulagen, der Sparpolitik mit dem Zukunftspak. Dass nicht nur bei der Globalisierung Zukurzgekommene, sondern auch erbitterte Lehrer und erzürnte Hausfrauen am 7. Juni in jedem Feld Nein ankreuzten, um ein Zeichen zu setzen, ist überhaupt nicht abwegig und den jungen liberalen Ministern Xavier Bettel, Etienne Schneider und Félix Braz sicherlich klar. Was nun Not täte, wäre ein État de la nation bis, eine offene und ehrliche Ansprache an das Volk, die genau erklärt, was die Regierung mit „Zukunft“ meint. Doch weil Xavier Bettel das schon in seiner Erklärung Anfang Mai nicht sagen konnte, wüsste er es vielleicht auch heute nicht zu sagen.
Deshalb griff die CSV Bettel persönlich an und lässt den Facebook-Liebling von einst nicht nur so aussehen, als habe er sich weit vom Volk entfernt, sondern kenne auch seine Dossiers nicht und habe vielleicht zum Hauptstadt-Bürgermeister getaugt, aber sei auf keinen Fall ein Regierungschef vom Format von CSV-Landesvätern. Dabei ist der CSV natürlich klar, dass eine Reform-Agenda von ihrer Seite finanz- und wirtschaftspolitisch kaum anders aussähe als die der Regierung. Klar ist ihr auch, dass unter CSV-Premiers nie ein Referendum stattfand, in dem Grundsatzfragen zur Verfasstheit des Landes gestellt wurden – dann wäre auch dem CSV-Staat ein anderer Spiegel vorgehalten worden als bei der Abstimmung über die EU-Verfassung vor zehn Jahren. Nicht eilig mit dem Machtwechsel hat die CSV es einerseits, weil schon am Sonntag auf Neuwahlen zu drängen, Luxemburg zwei Wochen vor Beginn seiner EU-Präsidentschaft in eine Krise gestürzt hätte. Andererseit kann es der CSV nicht schaden, die Regierung noch die eine oder andere Reform in Angriff nehmen zu lassen, die man selber auch für nötig hält, aber aus der Opposition zuzuschauen, wie Blau-Rot-Grün sich daran verhebt.
Dass dadurch die Lage der Nation instabiler werden könnte, scheint nicht zuletzt das Unternehmerlager zu beunruhigen, das die Idee des Ausländerwahlrechts seit 2013 entscheidend nach vorn gebracht hatte: Der Dachverband UEL wünschte sich in einer kurzen Mitteilung nach dem Referendum nicht nur, dass die Debatte um mehr Ausländerpartizipation nun „auf anderem Wege neu“ begänne. Er kündigte auch an, seine Anstrengungen zu „verdoppeln“, um die Interessen seiner Mitglieder durchzusetzen. Das ist wohl eine realistische Einschätzung. Zumindest im Moment sieht es so aus, als könne jede politische Bewegung der geschwächten liberalen Koalition in den sozialen Netzwerken nicht nur hitzig debattiert werden, sondern vielleicht sogar eine unberechenbare Gegenbewegung von dort her kommen.
Weil an so etwas nicht nur der Regierung kaum gelegen sein kann, sondern der gesamten politischen Klasse nicht, versuchen nun alle zur Tagesordnung überzugehen. Die CSV und ihr Oppositionsführer haben ihren Auftritt gehabt, die ADR hat sich ereifert, aber nun lassen erst einmal auch sie das Referendum aussehen wie eine Runde Freibier und versuchen die Wogen zu glätten: Im parlamentarischen Institutionenausschuss war man sich am Mittwoch nicht nur einig darüber, dass die Bürger in die Verfassungsreform besser eingebunden werden müssten; wie die Dinge liegen, wird das Verfassungsreferendum womöglich nicht kurz vor den Gemeindewahlen 2017 stattfinden, weil das „kon-traproduktiv“ wäre, sondern erst Anfang 2018.
Für die Regierung wiederum werden am heutigen Freitagnachmittag Landesplanungsminister François Bausch (Déi Gréng) und die offenbar reaktivierte Wohnungsbauministerin Maggy Nagel (DP) die neue Wohnungsbaupolitik auf dem Kirchberg erläutern. Das war ursprünglich erst für den Herbst geplant, aber seit vergangenen Sonntag läuft der Regierung die Zeit davon.