Als die Endergebnisse der Volksbefragung am Sonntagabend gerade zwei Stunden alt waren, warf CSV-Fraktionssprecher Claude Wiseler der Regierung vor, mit dem Referendum „die Gesellschaft gespalten“ zu haben. Parteipräsident Marc Spautz machte nach der Sitzung des CSV-Nationalvorstands am Montag die Regierung für „einen Riss in der Gesellschaft“ verantwortlich, der vor allem durch die Frage über das Ausländerwahlrecht entstanden sei.
Um jeden Preis den Schein der gesellschaftlichen Harmonie, einer einmütigen, gottesfürchtigen Volksfamilie zu wahren, war schon immer ein wichtiges Anliegen der Christlich-Sozialen. Doch das Referendum, mit dem die Regierung die CSV bei der Verfassungsrevision unter Druck setzen wollte, spaltete nicht. Es legte, ebenso wie das Referendum von 2005 über den Europäischen Verfassungsvertrag, nur bestehende Risse bloß. Weil Referenden nur die Wahl zwischen Ja und Nein, zwischen Schwarz und Weiß lassen, bleibt kein Platz für Grautöne. So werfen sie einen Augenblick lang ein ungewohnt grelles Licht auf die sonst so gerne übersehenen und vertuschten Interessenkonflikte und gesellschaftlichen Risse.
Die entschiedensten Befürworter Es genügt, sich die 20 Gemeinden anzusehen, in denen am Sonntag am meisten mit Ja zum Ausländerwahlrecht gestimmt wurde, bis zu zehn Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt: Es sind weitgehend die Hauptstadt und die Zentrumsgemeinden in ihrer Umgebung. Der für den Pisa-Test errechnete Internationale sozioökonomische Index des beruflichen Status (ISEI) zeigt, dass es jene Gemeinden sind, wo laut dem vom Erziehungsministerium veröffentlichten Bildungsbericht Luxemburg 2015 die reichsten und die gebildetsten Leute wohnen.
Laut einer kurz vor dem Referendum durchgeführten Meinungsumfrage von TNS-Ilres verfügten jene Befragten, die überdurchschnittlich oft für das Ausländerwahlrecht, die Senkung des Wahlalters und die Befristung der Mandatsdauer von Regierungsmitgliedern waren, über Haushaltseinkommen von 6 000, 7 000 Euro und mehr und hatten zwei oder vier Jahre lang eine Universität besucht. Überdurchschnittlichen Zuspruch fanden die drei Regierungsvorschläge auch bei Wählern unter 24 oder 34 Jahren. Jene Zentrumsgemeinden, wo am häufigsten mit Ja zu den drei Fragen gestimmt wurde, sind auch jene, wo beim Referendum 2005 am massivsten für den Europäischen Verfassungsvertrag gestimmt wurde und die bei den Kammerwahlen 2013 am häufigsten liberal wählten.
Der Typus des Befürworters einer Senkung des Wahlalters, des Ausländerwahlrechts und einer Befristung der Mandatszeit von Regierungsmitgliedern war am Sonntag der liberale, weltoffene, proeuropäische Angehörige der oberen Mittelschicht und Oberschicht. Er identifiziert sich mit dem Bild, das Luxembourg for Finance weltweit über Luxemburg zu vermitteln versucht und ist ein Produkt davon: „The Grand Duchy of Luxembourg, and in particular its capital, offers a truly cosmopolitan environment. Out of a population of some 511 000, 43% are foreign residents while no less than 60% of residents in Luxembourg City come from 143 different countries.“
Er ist in der Privatwirtschaft berufstätig, etwa rund um den exportorientierten Finanzsektor. In seinen Reihen fehlen die Beamten, die Alten und die Rentner, deshalb will er mit schlankem Staat, Rentenmauer und impliziter Staatsschuld am öffentlichen Dienst und an den Renten sparen. Er sieht die europäische Integration in einer globalisierten Welt als Chance, nicht als Bedrohung. Er oder sie ist sprachgewandt und tolerant, empfindet aber allzu viel Demokratie als Hindernis für die Durchsetzung des ökonomischen und technischen Fortschritts. Er erwartet von der DP/LSAP/Grünen-Regierung gesellschafts- und wirtschaftsliberale Reformen, vielleicht mehr, als sie bringen kann, und sieht deren Sparpolitik so, wie sie heißt, als Zukunftspak.
Weil die Wertvorstellungen dieser liberalen, weltoffenen, proeuropäischen Angehörigen der oberen Mittelschicht und Oberschicht sich mit den Interessen des herausragenden Wirtschaftszweigs, des Finanzsektors, decken, sind sie nicht nur in der DP, sondern in fast allen Parteien kulturell hegemonial. Auch in den Volksparteien, auch in der LSAP und der CSV: Die Regierung habe ihre Legitimation verspielt, um dringend nötige Reformen vorzunehmen, klagte Claude Wiseler am Dienstag im Parlament.
Die Wertvorstellungen dieser liberalen, weltoffenen, proeuropäischen Bessergestellten dominieren auch in den Medien, in den Unternehmerverbänden und selbst in diffuserer Form in den Gewerkschaften, so dass abweichende Standpunkte als rückständig, fortschrittsfeindlich und populistisch niedergemacht werden.
Diese Schicht ist kulturell so hegemonial, dass sie numerisch stärker erscheint, als sie ist. Am Wahltag war nicht Zahltag, sondern Zähltag. Da kam sie auf 20 Prozent der Wählerschaft, einschließlich der Ausländer vielleicht auf 25 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Ein Indiz für die kulturelle Hegemonie dieser Schicht und ist die große Diskrepanz zwischen den Meinungsumfragen und dem Ergebnis des Referendums. Laut der letzten von RTL und Luxemburger Wort vor dem Referendum veröffentlichten Umfrage sagte TNS-Ilres im April voraus, dass 28 Prozent der Befragten eine Senkung des Wahlalters befürworteten, am Sonntag stimmten aber bloß 19 Prozent der Wähler dafür, ein Drittel weniger. Auch waren im April angeblich 46 Prozent der Befragten für eine Befristung der Regierungsmandate, beim Referendum waren es nur 30 Prozent der Wähler, wiederum ein Drittel weniger. Für das Ausländerwahlrecht waren laut TNS-Ilres im April 40 Prozent der Befragten, am Sonntag waren es nur 22 Prozent der Wähler, die Hälfte weniger.
Sogar eine auf 48 Stunden vor dem Referendum datierte, aber entsprechend dem Wahlgesetz nicht mehr veröffentlichte Umfrage zeigte beim Ausländerwahlrecht eine Abweichung von fast einem Drittel und bei der Senkung des Wahlalters noch von einem Viertel. Dabei sind Wahlprognosen bei Referenden weit einfacher als bei Kammerwahlen, da weniger Stimmen abgegeben werden und die Unwägbarkeiten des Panaschierens und der Restsitzverteilung entfallen.
Die entschiedensten Gegner Die 20 Gemeinden, wo dagegen am häufigsten mit Nein auf die drei Vorschläge der Regierung geantwortet wurde, bis zehn Prozentpunkte unter dem nationalen Durchschnitt, liegen vor allem im Norden des Lande. Es sind dünnbesiedelte, ländliche Gegenden, in denen laut Internationalem sozioökonomischem Index des beruflichen Status (ISEI) im Bildungsbericht Luxemburg 2015 die ärmsten und am wenigsten gebildeten Leute wohnen. In ihnen wird oft konservativ gewählt, und selbst wenn die DP präsent ist, sind es Vertreter eines rechten Agrarliberalismus, denen die Bettel, Schneider und Braz in der Hauptstadt nicht geheuer sind.
Laut der kurz vor dem Referendum durchgeführten Meinungsumfrage von TNS-Ilres sprachen sich vor allem Leute aus Haushalten mit einem Einkommen unter 4 000 Euro gegen die Senkung des Wahlalters aus. Das Ausländerwahlrecht lehnten am meisten Leute aus Haushalten mit einem Einkommen von 3 000 bis 4 000 und von 7 000 bis 8 000 Euro ab, wobei es sich bei der letzten Einkommensgruppe wohl um Beamtenfamilien handelte.
Die entschiedenste Ablehnung der Regierungsvorschläge scheint demnach am Sonntag von Wählern gekommen zu sein, die antiliberal eingestellt sind, weil sie sich wegen ihrer niedrigen Qualifikation nicht in der Lage fühlen, im Konkurrenzkampf mit anderen um Arbeit und Einkommen zu bestehen, oder sich bisher durch ihr Beamtenstatut vor solcher Konkurrenz geschützt fühlen. In dieser Lage erwarten sie sich kaum noch Gutes von der zunehmenden europäischen Integration und sind eher auf den Schutz einen paternalistischen Staats als auf liberale Reformen angewiesen.
Doch selbst wenn sie diesen Schutzanspruch mit den patriotischen Weihen von Nation und Sprache aufzuwerten versuchen, fühlen sie sich angesichts der kulturellen Hegemonie der liberalen, weltoffenen und proeuropäischen, Politik und Medien dominierenden Oberschicht kulturell in die Defensive gedrängt und zum Schweigen verurteilt. Auch die CSV stellt sich nur so lange als ihre Fürsprecher dar, wie sie in der Opposition ist. Die Linke und die ADR versuchen es, wohl ohne größeren Erfolg als 2005, von links beziehungsweise von rechts.
So drückt die in den vergangenen Wochen in den Mittelpunkt vieler Debatten gerückte Sakralisierung der Luxemburger Sprache als Voraussetzung der Staatsbürgerschaft nicht nur das Bedürfnis aus, sich gegen die Konkurrenz der Sprachgewandten zu schützen, sondern auch die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden: Wenn nur noch Luxemburgisch geredet würde, kämen endlich die zu Wort, für die Fremdsprachen eine Qual sind.
Nichts als Nein Anders als das Ja war die Ablehnung beim Referendum aber so massiv und weit verbreitet, dass sie nicht auf eine gesellschaftliche Klasse, auf eine Einkommens-, Bildungs- oder Altersschicht beschränkt war. Der liberalen, weltoffenen, proeuropäischen Oberschicht und wohl auch einer Mehrheit der Ausländer stand eine Volkspartei der schweigenden Mehrheit gegenüber. Erstmals seit hierzulande Volksbefragungen durchgeführt werden, fielen am Sonntag die Abstimmungsergebnisse landesweit in allen Gemeinden gleich aus.
Bei der Abstimmung über die Staatsform 1919 gab es immerhin zwei Arbeitergemeinden, die mehrheitlich für die Republik statt für die Großherzogin stimmten. Bei der gleichzeigen Befragung über ein Wirtschaftsbündnis stimmten ein halbes Dutzend Ostgemeinden und Clerf für Belgien statt für Frankreich. Beim Referendum 1937 stimmten viele konservative Landgemeinden mehrheitlich für das Maulkorbgesetz. Und beim Referendum 2005 stimmten eine Reihe Südgemeinden mehrheitlich gegen den Europäischen Verfassungsvertrag.
Doch diesmal gab es keine einzige Gemeinde im ganzen Land, wo auch nur eine der drei Fragen mehrheitlich mit Ja beantwortete wurde. Den 50 Prozent am nächsten, wenn auch nicht einmal annähernd, kam die Gemeinde Kopstal mit der liberalen Vorstadtsiedlung Bridel, wo 37,11 Prozent der Wähler für eine Begrenzung der Regierungsmandate stimmten.
Bei den Referenden von 1919 zur Staatsform und 2005 zum Europäischen Verfassungsvertrag gab es eine linke Minderheitsposition in den Südgemeinden und einigen anderen Arbeiterortschaften. Diesmal ist die Minderheitsposition, das Ja, nicht links, sondern liberal. Mit der bemerkenswerten Ausnahme von Esch-Alzette stimmte keine der linken Südgemeinde überdurchschnittlich für die Regierungsvorschläge: Laut Vorwahlumfrage von TNS-Ilres waren 59 Prozent der DP-Wähler, 61 Prozent der grünen Wähler, aber nur 54 Prozent der LSAP-Wähler für das Ausländerwahlrecht. Bei den anderen Fragen war der Vorsprung auf die LSAP-Wähler noch größer, und am Ende erwies sich auch das noch alles als Bluff.
Doch das Wahlergebnis im Südbezirk ist für die Gewerkschaften eine weit größere Blamage als für die LSAP: Sie warben nur halbherzig für das Ja und waren als Pannendienste im Berufsalltag politisch nicht mehr in der Lage, das Votum zugunsten des Ausländerwahlrechts als einen Akt der Solidarität darzustellen, um die Arbeiterklasse durch die Ausweitung ihres Wahlrechts zu stärken, wie es ihre Pioniere vor hundert Jahren forderten.
Vor einem Jahr hatte es noch ausgesehen, als ob vielleicht eine der drei Referendumsfragen mehrheitlich mit Ja beantwortet würde. Vielleicht diejenige zur Befristung der Regierungsmandate, weil sie dem allgemeinen Misstrauen der Wähler gegenüber Berufspolitkern entgegen kam und eine willkommene Gelegenheit bot, „denen da oben“ eins auszuwischen. Vor einem halben Jahr hatte es noch ausgesehen, als ob alle drei Fragen mit einem deutlichen, aber nicht überwältigenden Nein beantwortet würden. Das nun entstandene Desaster, dass alle Fragen zu 70, 78 und 81 Prozent mit Nein beantwortet wurden, legt den Verdacht nahe, dass die Wähler nicht bloß den einen oder anderen Vorschlag zur Verfassungsänderung ablehnten. Wie bereits bei den Europawahlen wollten sie die ganze Regierung abstrafen, diese allzu selbstbewussten jungen Männer von DP, LSAP und Grünen, diese moderne Sparkoalition mit ihren verwirrenden Ankündigungen, ihrer ungeschickten Reformwut und ihrem Zukunftspak.