Am Ende, nach fast fünf Stunden, lud Kongresspräsident François Biltgen am Samstag die 370 Delegierten ein, aufzustehen und die Hémecht zu singen, mit der die CSV traditionell auf die von den LSAP-Kongressen etwas unbehaglich angestimmte Internationale antwortet. Spätestens da dürfte dem einen oder anderen Christlich-Sozialen aufgefallen sein, dass der Saal im Strassener Kulturzentrum Barblé mit orangefarbenen Parteifahnen und blauen Europafahnen geschmückt war – aber die Landesfahnen fehlten. So entging die Partei wenigstens einer Entscheidung zwischen der Trikolore und dem von Parteipräsident Michel Wolter bevorzugten Roten Löwen.
Vielleicht war das im Kleinen, was Premier Jean-Claude Juncker im Großen meinte, als er zu Beginn seiner improvisierten Grundsatzrede klagte, dass wir in einer „chaotischen“ Welt lebten und auch in Luxemburg „nicht mehr alles richtig“ laufe. Was die fürchterlichsten Eingeständnisse sind, die das Oberhaupt einer konservativen Partei seinen auf Sicherheit und Beständigkeit erpichten Mitgliedern und Wählern machen kann.
Dabei zeigte das riesige Plakat hinter Juncker das Symbol des CSV-Staats, eine mannshohe, in der Parteifarbe Orange angemalte Silhouette des Groß[-]herzogtums, und versprach noch „E kloere Bléck fir eist Land“. Zum Beweis war die ganze für die Macht im Staat stehende Parteiprominenz auf der engen, mit schweren Vorhängen verhangenen Bühne aufgereiht, amtierende und Ehrenstaatsminister, der Kammerpräsident, die Minister, die Abgeordneten, die EU-Kommissarin... Zu ihren Füßen scharten sich erwartungsvoll die meist nicht mehr ganz jungen Delegierten aus allen Landesteilen in engen Sitzreihen. An den holzvertäfelten Wänden hingen überlebensgroße Schwarzweiß-Porträts von Darstellern, die eine Fotoagentur im Auftrag der Volkspartei für Menschen aus dem Volk gehalten hatte.
Der Premierminister hatte jedenfalls die Verantwortlichen für das nationale Chaos ausgemacht: die Gewerkschaften. „Auf den Wecker“ gingen ihm jene, die nur „klagen und wimmern“, die Reformen im öffentlichen Dienst, in der Schule und in der Rentenversicherung ablehnten. Nicht die Gewerkschaften, sondern „wir sind gewählt, um Entscheidungen zu treffen, wir haben die Legitimität“. Auch sei im öffentlichen Dienst die Basis weniger radikal als die Gewerkschaftsführung. Den wärmsten Applaus spendete ihm der Parteitag, als er in Erinnerung an die gescheiterte Tripartite meinte, dass „Gewerkschaften, die nicht im Saal sind, die Interessen der Leute nicht vertreten können“.
Peinlich ist, wenn auch Chaos in der Koalition herrscht, wie durch den von einem Teil der CSV initiierten Stellvertreterkrieg gegen das Rauchverbot in Gaststätten. Doch in der Koalition herrsche „kein Krieg, sondern Durcheinander“, so der Premier. Das Durcheinander könnte weiter gehen. Denn zur Sekundarschulreform soll eine von der Abgeordneten Tessy Scholtes geleitete Arbeitsgruppe bis Mitte April herausfinden, ob die CSV die LSAP-Ministerin Mady Delvaux-Stehres im Regen stehen lassen will. Sympathie brachte Präsident Michel Wolter der Pensionsreform entgegen – vorausgesetzt, die darin vorgesehenen Sparmaßnahmen werden vorgezogen, was den LSAP-Minister Mars Di Bartolomeo bei den Gewerkschaften nicht beliebter machen würde.
Noch peinlicher ist allerdings, wenn das Chaos die eigene Partei ergreift, der Eindruck aufkommt, dass „ein paar Parteien in der Partei“ existierten, die Partei als „zusammengewürfelter“ Haufen und als Partei von „Solisten“ erscheine, so Juncker. Man müsse „wieder zu den alten Tugenden zurückfinden“ und Kompromisse gemeinsam tragen, „mit einer Meinung nach außen auftreten“, mahnte Frak[-]tions[-]präsident Marc Spautz. Das war in den vergangenen Monaten anders, als die LCGB-Funktionäre Robert Weber, Marc Spautz und Aly Kaes ihren Streit in die CSV-Fraktion hineintrugen, und zuletzt die Abgeordnete Nancy Kemp-Arendt öffentlich die Erklärungen vom Parteivorsitzenden Michel Wolter zum Rauchverbot desavouierte.
Vielleicht ist das Chaos in der Partei aber auch bloß Ratlosigkeit. Weil sie immer wieder die Entscheidung aufschieben muss, wie die CSV von morgen aussehen wird. Nach dem Scheitern von Jean-Claude Junckers europapolitischen Karriereplänen symbolisieren er und sein designierter Thronfolger Luc Frieden zunehmend zwei Parteien in der Partei, eine gewerkschaftsfreundliche, sozialkonservative und eine unternehmerfreundliche, rechtsliberale. Bisher war ein Kompromiss zwischen den beiden Parteiflügeln von Joseph Bech und [-]Pierre Dupong möglich, indem mit allerlei Transfers die sozialen Kosten verstaatlicht wurden, die bei der Rentabilitätssteigerung der Unternehmen entstanden. Doch nach der geplanten Verstaatlichung der sozialen Kosten einer Mindestlohnsenkung droht das Geld für weitere Kompromisse auszugehen. Für eine Volkspartei ist es aber entscheidend, dass die sozialen Widersprüche in der Partei ungelöst bleiben, sonst hört sie auf, Volkspartei zu sein. Was sich rasch im Wahlergebnis bemerkbar machen kann.
Deshalb wird Frieden ungeduldig, Juncker klagte am Montag in Brüssel, dass er wieder unter Nierensteinen leide, und die CSV darf sich nicht entscheiden. Die „befreundete Presse“, das von Friedens Betrachtungen über Index, Mindestlohn und Arbeitsmarkt während der Journée de l’ingénieur beeindruckte Luxemburger Wort, hatte noch am Samstag dem Kongress den freundschaftlichen Rat erteilt, „sich eingehend mit den Eckpunkten zu beschäftigen, die Luc Frieden kürzlich in Sachen strategische Ausrichtung des Landes publik gemacht hat“. Doch das tat die Partei lieber nicht.
Da konnte Jean-Claude Juncker nur ankündigen, dass er gegen Austerität und für „iwwerluechte Rigueur“ sei, konnte sich nur mit wortgewaltigen Rundumschlägen gegen das internationale Finanzkapital verteidigen, als dessen hilfloser Büttel „Mister Euro“ zunehmend erscheint.
In staatsmännischem Ton warb Juncker für die geplante Reform des Beamtenstatuts, die Renten- und die Sekundarschulreform. Aber die Delegierten, darunter viele Beamte und Rentner, bekamen keine Gelegenheit, ihre Sympathie oder ihr Unbehagen mit den Reformen zu äußern.
Obwohl sich Parteipräsident Wolter ohne Gegenkandidat um eine Erneuerung seines Mandats bewarb, drückten ihm nur 313 von 375 Delegierten ihr Vertrauen aus, während der diskrete Schatzmeister und Chefbuchhalter des Sankt-Paulus-Verlags, Georges Heirendt, auf 368 Stimmen kam. Der grobschlächtige Ex-Minister schätzte, „dass wohl nicht jeder mit der Art und Weise einverstanden ist, wie ich die Sache mache“.
So war das Spannendste, das der CSV-Kongress zu bieten hatte, die Wahl eines neuen Generalsekretärs. Marc Spautz gab das Amt auf, weil er im Oktober die Nachfolge von Lucien Thiel als Fraktionssprecher antrat. „Eine Arbeit, für die ich dich nicht beneide“, meinte Wolter in Erinnerung an seine eigene, nicht sehr erfolgreiche Zeit an der Spitze der Fraktion. Im Parteisekretariat weint kaum jemand Spautz und seinen rüden Umgangsformen eine Träne nach.
Spautz’ Nachfolger wurde der von der Parteiführung bevorzugte Bettemburger Bürgermeister Laurent Zeimet. Er erhielt 238 Stimmen, sein Widersacher, der ehrgeizige CSJ-Vorsitzende, ehemalige Fraktionsangestellter und neue Abgeordnete Serge Wilmes, brachte es immerhin noch auf 135 Stimmen.
Eine politische Entscheidung war das nicht. Auch wenn Zeimet in der Tradition der christlich-sozialen Jugend steht, die zu „Jonker wiele Juncker“ aufrief und Jean-Claude Juncker bei dem Versuch unterstützte, einen „frischen Wind“ in die CSV zu bringen, ohne die christliche Soziallehre vollends der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu opfern. Zeimet arbeitete in der Anwaltskanzlei des ehemaligen CSV-Fraktionssprechers Jean-Louis Schiltz und als innenpolitischer Redakteur des Luxemburger Wort. Dank des großzügigeren politischen Urlaubs für Bürgermeister in einer Stadt wie Bettemburg gehört er jetzt zu einer neuen Generation von Politikern, die sich auf die Kommunalpolitik und nicht mehr auf das Parlament stützen, um Berufspolitiker zu werden.
Laurent Zeimet hatte sich als derjenige Kandidat empfehlen können, der zuletzt das Rahmenwahlprogramm der CSV für die Gemeindewahlen verfasst hatte. Auch wenn die CSV im Oktober wieder nicht ihr Wahlziel erreichte und sich mit Rechenkunststücken zur Siegerin erklären musste. Der neue Generalsekretär soll gleich mit der Organisation des Wahlkampfs für 2014 beginnen, darunter auch mit den Vorarbeiten zum einem Wahlprogramm für unsichere Zeiten.