EU-Energiekommissar Günther Oettinger ist einer von der schnellen Truppe und macht seinem Titel damit alle Ehre. Bereits vier Tage nach dem Erdbeben in Japan hat er Vertreter der europäischen Energieunternehmen und Atomanlagenbauer, der na-tionalen Atomaufsichtsbehörden sowie der Mitgliedstaaten zu einem Meinungsaustausch nach Brüssel geladen. Er verfolgt damit drei Ziele: Er will eine gemeinsame Überprüfung aller 143 in der EU betriebenen Atomkraftwerke durchsetzen, seine eigenen Kompetenzen erweitern und Dampf aus der Atomenergiediskussion ablassen, die durch das Reaktorunglück in Japan in der Folge von Erdbeben und Tsunami europaweit aufgeflammt ist, bevor dieser zu einem gefährlichen öffentlichen Überdruck führen kann. Am 21. März folgte eine außerordentliche Sitzung des Energieministerrats und am 24./25. März soll der Europäische Rat seinem Vorhaben, so Oettinger wörtlich, „eine entscheidende Beschleunigung geben“.
Das hört sich dynamischer an, als es ist. Oettinger kaschiert mit seinem Aktivismus, dass die Europäische Union in der Atompolitik so gut wie nichts zu sagen hat. Das verwundert den unbedarften Beobachter doppelt: Zum einen, weil Radioaktivität eine Strahlung ist, die vor kaum etwas halt macht, schon gar nicht vor Landesgrenzen. In der Mitte der Woche konnte man in Europa beispielsweise Radioaktivität feststellen, die sich in Fukushima, Japan, auf ihren langen Weg um die Erde gemacht hatte. Zum anderen stand eine gemeinsame europäische Atompolitik Pate bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958. Die gemeinsame europäische Atomforschung ist sogar die Keimzelle der heutigen europäischen Forschungs- und Technologiepolitik. Euratom, die Zwillingsschwester der EWG, existiert immer noch als eigenständige internationale Organisation. Sie teilt lediglich alle Organe (Kommission, Rat, Parlament) mit der EU.
Die vordringliche Aufgabe von Euratom war die schnelle Bereitstellung der Atomtechnologie und des notwendigen Brennstoffs für die Entwicklung einer Nuklearindustrie „zur Hebung des Lebensstandards“. Dahinter stand ein ganz massives Interesse Frankreichs, das Mitte der 50-er Jahre noch hoffte, mit Hilfe der Atompolitik seine verlorene Großmachtstellung wiedergewinnen zu können, das aber allein nicht die finanziellen Mittel für die dafür notwendige Forschung aufbringen konnte. Die gemeinsame Forschung und die Teilung der Kosten ließ sich Frankreich noch gefallen, über die Verwertung der Erkenntnisse wollte es, wie die anderen Länder auch, auf jeden Fall alleine bestimmen.
Dabei ist es bis heute geblieben. Auch Kommissar Oettinger machte auf seiner Pressekonferenz keinen Hehl daraus, dass alles Einvernehmen der 27 Mitgliedstaaten, gemeinsam mit der Kommission und den nationalen Atomaufsichtsbehörden unter Mitwirkung der Atomindustrie einen europäischen Prüfkatalog für Atomkraftwerke zu entwickeln, reine Absichtserklärung bleibt. Er hofft, dass an der von ihm anvisierten Sonderprüfung im Licht der Ereignisse in Fukushima „möglichst alle 14 Länder, in denen Atomkraftwerke stehen, teilnehmen“.
Oettinger will alle 143 europäischen Atomkraftwerke nach sieben Gesichtspunkten bis zum Jahresende untersuchen. Es geht, in dieser Reihenfolge, um Erdbebengefahr, Überflutung, um die Kühlsysteme und die Sicherung ihrer Stromzufuhr, um das Alter und den Typ der Anlagen sowie um Notfallpläne und besondere Gefahren wie Flugzeugabsturz, Cyber- und Terrorangriffe. Man muss zugeben: Der Mann hat an alles gedacht.
Zusätzlich will der Energiekommissar die 2009 erstmals beschlossene Kernenergiesicherheitsrichtlinie der EU schon bald verschärfen, obwohl diese erst bis Juli dieses Jahres in nationales Recht umgesetzt werden muss. Es geht bei der Richtlinie um die Einführung gemeinsamer europäischer Standards, Prüfverfahren und einer einheitlichen Kontrolldichte. Praktisch bestehen diese gemeinsamen Standards allerdings schon, es sind die Sicherheitsrichtlinien der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Der Sinn der Übung kann also nur in einer europäischen Verschärfung dieser Richtlinien liegen. So schlecht können die aber nicht sein, hatte die IAEA Japan doch beizeiten auf den ungenügenden Erdbebenschutz gerade auch in Fukushima hingewiesen.
Oettinger selbst sieht die Atomenergie keinesfalls am Ende und rechnet auch 2030 noch mit einen erheblichen Anteil an Atomstrom. Vom Berliner Tagesspiegel auf einen möglichen deutschen Ausstieg bis 2017 angesprochen, antwortete er: „Wenn man beliebig Schulden aufnimmt, beliebig die Kosten erhöht und den Energieverbrauch massiv senkt, ist alles vorstellbar. Aber es ist wirtschaftlich und politisch nicht wahrscheinlich und deshalb auch kein Ziel einer realistischen Politik.“