Trotz aller Beteuerungen von Politikern, stets nur das Wohl der Allgemeinheit und der Nation im Auge zu haben, vertreten Gewählte zuerst die Interessen ihrer eigenen gesellschaftlichen Gruppe, sei es bewusst als Lobbyisten oder beinahe unbewusst, weil ihr politisches Verhalten von ihrer Erziehung, ihrem Bekanntenkreis und ihrem Einkommen geprägt ist. Wenn in einem Gemeinderat über sozialen Wohnungsbau diskutiert wird, verhält sich ein Geschäftsmann, der seine Einkünfte in Immobilien investiert, anders als ein zur Miete wohnender Arbeiter. Ein Landwirt, für den die Natur ein Produktionsmittel ist, entscheidet anders in Fragen des Umweltschutzes als ein Studienrat, dem sie zur Erbauung und Erholung dient. Das Urteil, ob eine Taxenerhöhung um zehn Euro zumutbar ist, wird von der eigenen Kaufkraft beeinflusst.
Die soziale Zusammensetzung des Parlaments und auch vieler Gemeinderäte spiegelt die Zusammensetzung der Bevölkerung nur verzerrt wider. Weil ganze Gesellschaftsklassen aus der politischen Diskussion und der öffentlichen Darstellung verschwinden, wurde sicherheitshalber vor zwei Wahlgängen die Wahlsoziologie aus den vom Parlament in Auftrag gegebenen Wahlanalysen gestrichen, wird sich monomanisch auf das Geschlecht und die Staatsbürgerschaft der Politiker konzentriert.
Im Vergleich zu den Kammerwahlen wirken die Gemeindewahlen nächsten Monat beinahe sozial repräsentativ und demokratisch. Weil insbesondere Gemeinden, wo nach dem Mehrheitswahlrecht abgestimmt wird, kleiner und übersichtlicher sind und Kandidaten sich nicht in einer Partei hocharbeiten müssen, um auf eine Liste zu kommen. Aber auch, weil sich sechs Mal so viele Leute, rund 3 600 gegenüber 540 bei den Legislativwahlen, für die 1 133 Mandate in 105 Gemeinderäten bewerben.
Die größte Berufsgruppe unter der Wohnbevölkerung wie auch unter den Kandidaten am 8. Oktober sind die Angestellten der Privatwirtschaft. Rund 500 aktive und pensionierte Angestellte, Privatbeamte aus Banken, Versicherungen und anderen Unternehmen, kandidieren. Hinzu kommen 47 Buchhalter und Finanzberater, 30 Volkswirte und Ökonomen, 40 Sekretärinnen, elf Journalisten und weitere Angestellte.
Die Angestellten verfolgen keine einheitlichen Interessen. Die Berufsgruppe reicht von Mindestlohnbeziehern, die sich, trotz Einheitsstatut, bemühen, nicht in die Arbeiterklasse abzurutschen, über ein breites Kleinbürgertum bis hin zu Spezialisten der Finanzindustrie mit sehr hohen Einkommen. Entsprechend unterschiedlich sind auch ihre politischen Ansichten und Prioritäten, was sie als gesellschaftliche Gruppen sprachlos macht.
Teilweise in der Privatwirtschaft, teilweise im öffentlichen Dienst arbeiten 98 Ingenieure, 29 Informatiker, 72 Techniker und andere Kandidaten, deren Berufswahl nicht selten auf eine positivistische Gesinnung zurückzuführen ist, die oft auch ihre politischen Ansichten prägt.
Die Beamten und öffentlichen Angestellten, die beim Staat, bei Gemeinden und europäischen Institutionen arbeiten, aber auch neun Polizisten und sechs Zöllner, sind die zweitgrößte Berufsgruppe unter den Kandidaten. Weitgehend zu den Beamten zählt auch die drittgrößte Berufsgruppe, die von 257 Lehrern in den Grundschulen und im Sekundarunterricht gestellt wird. 142 Kandidaten sind Erzieher, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, 83 Krankenpfleger, deren Statute dem öffentlichen Dienst verwandt sind. Ähnliche Arbeitsbedingungen haben auch rund 100 Eisenbahner, die für Gemeinderatsposten kandidieren, 27 Beschäftigte der Post, vier Feuerwehrleute....
Obwohl der Anteil der Beamten an der Gesamtbevölkerung mit einem Viertel geringer ist als derjenige der Angestellten, stellen sie zusammen mit den Lehrern mehr Kandidaten. Das erklärt sich dadurch, dass das Beamtenstatut wie die Wahlberechtigung größtenteils an die Staatsbürgerschaft gebunden ist. Im öffentlichen Dienst ist es auch einfacher, politischen Urlaub zu beanspruchen, und viele Beamte haben durch ihren Beruf ein größeres Staatsbewusstsein, das sich, neben einem ausgeprägten Standesbewusstsein, auch in ihren politischen Ansichten niederschlagen kann.
Obwohl die selbstständigen Kandidaten nur eine kleine Minderheit im Vergleich zu den Angestellten und Beamten stellen, sind sie politisch einflussreich. Zu ihnen gehören 87 Anwälte und Juristen, und der Beruf des Rechtsanwalts ist seit fast zwei Jahrhunderten die beste Voraussetzung für eine politische Laufbahn: Seit 1848 waren drei Viertel aller Premierminister Anwälte. Zu rund 100 Kandidaten, die sich allgemein als Selbstständige bezeichnen, kommen 60 Geschäftsleute, Gastwirte, Immobilienmakler, aber auch 40 Handwerker, Konditoren, Metzger, 19 Architekten... Ein Dutzend Apotheker kandidieren, die lange zu den Notabeln der Landstädtchen gehörten wie die Notare, von denen drei Gemeinderäte werden wollen.
Auch wenn ihre Berufsorganisation als berüchtigte Lobbyistin gilt, hat die politische Rolle, die Ärzte in der Politik spielen, abgenommen. Vielleicht auch, weil politische Ämter schwer in ihre Terminpläne passen. 39 Hausärzte, Zahnärzte, Chirurgen und Tierärzte, 22 Psychologen, Physiotherapeuten und Vertreter verwandter Berufe kandidieren nächsten Monat.
Selbstständige sind Inhaber von Kleinunternehmen und vertreten somit oft individualistische und liberale Ansichten, die von Leistungs- und Konkurrenzdenken, Steuer- und Staatsfeindlichkeit beeinflusst sind. Ähnliche Vorstellungen dürften die 87 Unternehmer, Direktoren, Geschäftsführer, leitenden Angestellten und Firmeninhaber haben, die Gemeindepolitik machen wollen.
Der politische Einfluss der Landwirte und Winzer ist auch heute noch größer als das eine Prozent vermuten lässt, das sie an der erwerbstätigen Bevölkerung darstellen – was auch mit der historischen Einteilung der Wahlbezirke zu tun hat. Bei den Kammerwahlen 2013 kandidierten sieben Landwirte, bei den Gemeindewahlen 2017 kandieren 81 Landwirte und Winzer vor allem in ländlichen Majorzgemeinden. Ihr Stand vertritt oft konservative bis rechtsliberale Ansichten.
Ein Jahrhundert nachdem erstmals ein Arbeiter ins Parlament gewählt worden war, haben die letzten als Gewerkschaftsfunktionäre das Parlament wieder verlassen, obwohl Arbeiter fast ein Fünftel der Wohnbevölkerung und damit der Wahlberechtigten ausmachen. Nächsten Monat kandidieren 70 Arbeiter der Privatwirtschaft, von Staat und Gemeinden, darunter auch fünf Putzfrauen und drei Kellnerinnen. Hinzu kommen 17 Berufsfahrer sowie 17 Verkäufer, Kassiererinnen, fünf Hausmeister. Zu den Kammerwahlen 2013 hatten vier Arbeiter und ein pensionierter Arbeiter kandidiert.
Unabhängig von der sozialen Herkunft und ihrem ursprünglichen Beruf stellen 584 Rentner die größte Einzelgruppe von Kandidaten. Sie machen 13 Prozent der Bevölkerung, aber nur zehn Prozent der Kandidaten aus. Ihnen wird in der Regel ein konservatives Sicherheitsbedürfnis nachgesagt, ebenso wie den Hausfrauen, als die sich 81 Kandidatinnen bezeichnen. Zu den nicht Erwerbstätigen gehört auch eine große Kandidatengruppe von 150 Studentinnen und Studenten, die öfters liberal bis links und umweltbewusst eingestellt sind. Unter den rund 5 600 Kandidaten ist kein einziger Arbeitsloser. Dafür sind 52 Kandidaten Berufspolitiker, vor allem Abgeordnete und Parteifunktionäre.