Klamm tritt beschwingt und leichtfüßig in den Klassenraum, vor die Schüler ans Pult. Ein fröhliches „Guten Mooooooorgen“ wartet auf Erwiderung durch die Schülerschaft. Unter dem rechten Arm hält er einen Karton mit Arbeiten und Zeugnissen, in der linken Hand trägt er eine weiße Kaffeetasse. Doch Klamm ist Deutschlehrer und damit darf – Achtung: Klischee! – ein gelber Reclam-Band von Goethes Faust nicht fehlen. Klamm ist ferventer Vertreter der klassischen Bildung und wird Goethes Drama mehrfach dramaturgisch relevant zitieren. Wissen ist ihm ein hohes Gut. Die Noten seiner Schüler manipuliert er mal aus Sadismus, mal aus Unsicherheit. Zudem wird Klamm als Alkoholiker enttarnt, der Flachmann wird erst späterhin unter dem Sakko hervorgezogen. Es mögen so manche Eigenarten an Kai Hensels Hauptfigur im Verlauf der 55-minütigen, gekürzten Handlung von Klamms Krieg ihre dramaturgische Rechtfertigung finden: Worin liegt etwa der Alkoholismus begründet? Welchen Werdegang hat diese zerrüttete Seele hinter sich? In den ersten 30 Minuten jedoch besteht Klamm in seinem Porträt lediglich als karikiertes Klischee. In den ersten 30 Minuten erleben wir eine überaus unterhaltsame, aber eben naturgemäß überzeichnete Karikatur einer entstellten Lehrerpersönlichkeit.
Dass Klamm, dem die Schuld am Suizid eines Schülers aus der eigenen Klasse in die Schuhe geschoben wird, erst in der zweiten Hälfte vom pädagogischen Sadisten und Zyniker zur in sich zerrissenen Psyche mutiert, unterstreicht vor allem eins: Klamms Krieg überzeugt nicht als glaubwürdige Problematisierung einer kommunikationsgestörten Schulwelt. Dazu ist Klamm zu extrem, nicht im entferntesten repräsentativ. Klamms Krieg überzeugt auf höherer Ebene: Ungeachtet des berufsspezifischen Kontexts ist Hensels Bühnenstück das Psychogramm eines Menschen in extremer Lage. Er wird sich selbst zum Prüfstand. Klamm hat um sich herum Prinzipien- und Schutzwälle errichtet, die in sich zusammenbrechen. In einer immer tiefer greifenden Selbstanalyse wird der Protagonist so sehr von seiner inneren Haltlosigkeit erschüttert, dass er Momente des Wahnsinns durchlebt und schlussendlich zur Waffe greift. Ob er sich selbst erschießt, weil er doch Schuldgefühle empfindet, oder ob er nach Hause fährt, sich einer Nieren-OP unterzieht, dieses Fazit bleibt dem Zuschauer überlassen. Die Autodestruktion des Selbstbildes, dieser Karikatur eines den Faust zitierenden Sakko-Trägers und die damit einhergehende Zügellosigkeit macht aus der Regiearbeit von Marion Poppenborg in der Banannefa-brik ganz großes Theater.
Zweifellos ist der Bremer Darsteller Nickel Bösenberg der Star des Abends. Er spielt seine Rolle mit viel Witz und Emotion und weiß die Psyche seines sich seelisch Schritt für Schritt entblätternden Alter Ego in feinen wie in körperlich gröberen Zügen freizulegen. „Lehrer sind Mörder“ kritzelt er auf die Unterseite einer Kloschüssel, am Boden, zuckend und zitternd. Wenig später legt er vor der Klasse wieder jenen Zynismus an den Tag, den er so sehr zum Überleben braucht. Bösenbergs Spiel ist faszinierend und gewinnt angesichts der angenehm zurückhaltenden Regieführung an zusätzlichem Profil.
Somit entpuppt sich die Maskénada-Produktion Klamms Krieg in keiner Weise als Dokumentation des „Tatorts Schule“, sondern als bewegende und zum Nachdenken anregende Studie über einen sich schrittweise ankündigenden Kontrollverlust.