Es ist der erste sommerliche Tag des Jahres, später Nachmittag und noch warm; der alljährliche Fettgeruch des „Mäertchen“ liegt über der Altstadt. Josef Winkler ist kurz zuvor in Luxemburg angekommen. Am Abend wird der österreichische Büchner-Preisträger im Rahmen der vom Institut Pierre Werner organisierten Reihe „Autoren im Gespräch“ in der Abbaye Neumünster vor nur ein paar Dutzend Zuhörern aus seinen neuen Büchern lesen.
In Wortschatz der Nacht und Mutter und der Bleistift, die beide dieses Jahr bei Suhrkamp erschienen sind, trifft der Leser auf Winklers Kernthemen: Kindheit und Jugend im österreichischen Kamering, Übermacht des Vaters, die erdrückende Atmosphäre eines Alltags, der von harter Arbeit und so bigotten wie katholischen Wertvorstellungen bestimmt wird. Man muss den Autor eigentlich draußen vermuten, nicht im Hotel, sondern unterwegs, im Gewimmel der Pilger und Touristen, in der Kathedrale vielleicht, wo der freudig schwitzende Erzbischof vor der Vesper schnell noch eine Gruppe ältlicher Schäfchen begrüßt. Nein, hier sitzt niemand mit einem Notizbuch in der Ecke.
Kein Wunder, dass der Autor auf die Frage, wie ihm das Durcheinander von Pommes, Rosenkränzen und Zuckerwatte gefällt, ratlos zurückblickt. Das Nebeneinander von Gebet und Schundbuden erinnere doch an ein Motiv, sage ich, das sich in seinem neuen Buch wiederfindet: Am Anfang von Da flog das Wort auf, dem ersten Text in Mutter und der Bleistift, einem Requiem auf seine Mutter, wie Roppongi ein Requiem auf den Vater gewesen ist, beschreibt Winkler die Reproduktion eines Gemäldes, das über dem Kopfende des Bettes seiner Eltern hing, die Madonna sulla seggiola von Raffael. Dieser Madonna wird im zweiten Text ein „dämonisch giftgrün leuchtendes“ (S. 62) Kruzifix gegenübergehängt: der Glaube im Spiegel von großer Kunst und lächerlichem Nippes.
Als Kind sei ihm dieser Gegensatz nicht aufgefallen, räumt Winkler ein, erst nachträglich könne und müsse er als Schreibender etwas daraus machen, auch der giftgrüne Jesus sei natürlich eine spätere Mystifizierung. Bis zum Alter von siebzehn Jahren habe er ohnehin ganz in einer von volkstümlicher Kunst geprägten Welt gelebt, erst dann habe er im Haus eines Lehrers in Kunstbildbänden die Kunst von der klassischen Malerei bis hin zur Moderne entdeckt.
Die Geschichte ist ihm wichtig, er wird sie am Abend nach der Lesung noch einmal erzählen, und ebenfalls darauf hinweisen, dass er seither immer auf der Suche nach Bildern sei. Es fänden sich in all den Seiten, die er bisher geschrieben habe, kaum Sätze, die nicht aus Bildern bestünden oder Teil eines Bildes seien. „Ich kann eigentlich nur in Bildern denken“, wie er abends noch sagt, ein leicht nachvollziehbarer Befund, wenn man ihn zum Beispiel mit Winklers erfolgreichstem Buch, der Novelle Natura morta, abgleicht.
Wie er zu seinem oft als „barock“ bezeichneten, bildreichen Stil finde, will ich wissen, ob er auch beim Schreiben von Bildern ausgehe. Er verneint: „Ich habe keine Strategie beim Schreiben, keine Vorstellung, keinen Plan. Es kommen die ersten Sätze und anschließend ergibt ein Satz den anderen.“ Was so einfach klingt – tatsächlich vergleicht Winkler seine Art zu schreiben mit der Écriture automatique – , ist allerdings nur die erste Etappe langer Prozesse des Überarbeitens. Sie sind nötig, um den eigentümlichen Tonfall seiner Texte zu erzeugen, den Klang der Sprache, der, wie er auch dem Abendpublikum nachdrücklich zu verstehen gibt, das sei, was ihn eigentlich an der Literatur interessiere.
Eigentümlich für Winklers Schreiben ist aber nicht nur die vielbeschworene Dringlichkeit seiner Sprache, sondern auch die wiederkehrende Motivik. Seit dem Initiationserlebnis seiner Jugend, dem gemeinsamen Selbstmord zweier Dorfjungen, ragt der Tod unausblendbar in die Schilderungen Winklers hinein. Bis nach Indien hat Winkler eines seiner Hauptthemen, den Umgang mit Vergänglichkeit und Tod, verfolgt. Mehrere Tausend Einäscherungen hat er, wie er erzählt, in der indischen Stadt Varanasi erlebt, ein Großteil seines Indienbuches Domra enthalte die entsprechenden Aufzeichnungen vom erschütternden Anblick der brennenden Scheiterhaufen, zwischen denen das Leben weiterhin stattfinde. Die Domra, die sich um die Einäscherungen kümmern, seien verwahrloste, kalte Menschen, aber in Indien habe er doch ein deutlich gelasseneres Verhältnis zum Tod beobachtet als in unseren Gegenden.
Hier ergänze ich, dass man ein ähnlich gelassenes Verhältnis zum Tod beispielsweise in Süditalien und Sizilien beobachten könne, die Winkler ebenfalls von seinen Reisen kennt und in Büchern thematisiert hat. Die Italiener seien doch katholisch, wie die Österreicher und Luxemburger, warum hätten wir nicht dieses gelassene Verhältnis zum Tod?
Winkler denkt etwas länger nach, bevor er sich zu einer Antwort vortastet. An diesen Orten sei der Glaube nicht so stark von Düsternis und Abhängigkeit geprägt wie etwa im Österreich seiner Kindheit, meint er. „Die rühren in unserer Seele um; die führen uns als Schäfchen zu einem Versammlungsplatz, an dem wir uns einfinden sollen.“
Als er neulich die Gebetbücher seiner Großeltern durchblättert habe, sei ihm wieder einmal aufgefallen, was der kirchliche Glaube in seiner Kindheit bedeutet habe, nämlich menschliche Unterwerfung vor der Gottheit bis zur Selbstauflösung. Vielleicht könne man sagen, dass den Italienern das Verbiesterte des österreichischen Katholizismus fehle; sie seien nicht so organisiert und strukturiert in ihrem Glauben, sondern sogar witzig und blasphemisch. Es sei ja nicht ungewöhnlich, wenn ein Italiener Gott dafür verfluche, dass etwas schiefgehe, wogegen so etwas für einen österreichischen Katholiken undenkbar sei. Er meine damit auch die naiven Dummheiten der Pfarrer im damaligen Kamering, durch die schon die Kinder entmenschlicht und entwürdigt worden seien. „Der Engel schreibt alles auf“, habe es stets geheißen. Der Anblick der hohlen Engelsfiguren hinter dem Altar eines Bergdorfes, ihr völlig fehlendes Innenleben, habe ihm als Kind bewusst gemacht, dass kein Engel ihn ständig überwache. Er bezeichnet diese Entdeckung der hohlen Engel als ersten Schritt seiner Ablösung von der Kirche. Um seine Gewissheit zu bestätigen, habe er abends in die Bettdecke geflüstert: „Jesus, du Schwein, Jesus, du Schwein“, um die Lästerung allerdings, so tief habe die katholische Prägung gesessen, gleich wieder zurückzunehmen und Jesus um Verzeihung zu bitten.
Wie so oft während des Gesprächs hat Winkler hier eine Geschichte einfließen lassen, die dem Leser seiner Bücher geläufig ist. Die konsequente Verwendung der eigenen Biografie, die Winkler in seinem Schreiben betreibt, der Fundus, aus dem er schöpft, ist bereits in dem ganz frühen Wortschatz der Nacht im Wesentlichen da: 1979 unter dem Titel „Das lächelnde Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler“ erschienen, beinhaltet der Text die zentralen Motive, das Dorfleben, die katholische Stickigkeit, die Hassliebe zum Vater, den Doppelmord der Liebenden. Er habe, wie Winkler abends noch einmal ausführt, diese Motive immer wieder aufgegriffen und sie mit seinen jeweiligen Möglichkeiten neu beschrieben, andere Stilformen ausprobiert und mit Varianten jongliert. Gleich geblieben sei aber die Atmosphäre in seinen Büchern, auch wenn die Texte mittlerweile abgeklärter wirkten.
Wir beenden das Interview, aber beenden es doch nicht. Der Autor hat meine Erwähnung der Muttergottesoktave nicht vergessen; er will die Veranstaltung mit eigenen Augen sehen. Als uns am Eingang der schwere Weihrauchduft entgegenschwappt, weicht er merklich zurück; die Muttergottesstatue allerdings fasziniert ihn nachhaltig.
Am nächsten Tag landen wir auf der Suche nach bald wieder in der Kathedrale, sitzen ohne den geforderten Ernst vor der festlich gewandeten Trösterin und ihrem funkelnden Brimborium aus Blumen, Lichtern und vergoldeten Herzen, und dichten vorbeigehenden Pilgern beklemmende Lebensläufe an. Auch diesmal begegnen wir dem Erzbischof leider nicht.