Jetzt muss alles ganz schnell gehen: Am Donnerstag vor einer Woche stellte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) die lang erwarteten Grundzüge seiner Sekundarschulreform vor, bis zum 29. Juli will er den Gesetzentwurf der Abgeordnetenkammer vorlegen. Das ist keine Minute zu früh: Um eine realistische Chance zu haben, seine Pläne selbst umzusetzen, muss der Minister aufs Gas drücken. Meisch und seine Partei, die Liberalen, haben sich immer skeptisch gegenüber weiteren Strukturreformen geäußert, seine Vorschläge lassen die Strukturen der Sekundarschulen unverändert – und trotzdem sind die Ansprüche nicht geringer, dürfte die Umsetzung eine besondere Kraftanstrengung für alle bedeuten.
Dreh- und Angelpunkt des Reformpakets bildet, wie im Koalitionsprogramm angekündigt, eine gestärkte Schulautonomie. Schon Meischs Vorgängerin, LSAP-Erziehungsministerin Mady Delvaux, hatte die Sekundarstufe reformieren und dabei die Autonomie der Lyzeen stärken wollen, so weit kam sie aber nicht: Der Widerstand der Lehrer gegen ihr Vorhaben war riesig, und als endlich ein halbgarer Kompromiss auf dem Tisch lag, stürzte die CSV-LSAP-Regierung über die Geheimdienstaffäre.
Meischs Reform verbindet nun beides: Sie bietet Sekundarschulen, die dies wollen, mehr Handlungs- und Gestaltungsspielraum bei der Lehrplangestaltung, beim Fächerangebot, bei der Personalpolitik durch die Schaffung so genannter postes à profil, bei den Finanzen besteht die Autonomie bereits. Sie verfeinert und ergänzt darüber hinaus vorhandene Instrumente und Methoden zur Qualitätsentwicklung und -sicherung, die sicherstellen sollen, dass die Schulen sich in dieselbe Richtung verbessern. Dabei baut Meisch in weiten Teilen auf die Vorarbeiten seiner Vorgängerin auf.
Grundsätzlich sollen Schulen stärker darin unterstützt werden, ihre pädagogischen Profile zu schärfen und Entwicklungsschwerpunkte zu setzen. Dafür können sie jedes Jahr einen profilgebundenen Posten besetzen (zum Beispiel einen Informatiker für ein IT-Projekt). Sie erhalten zudem mehr Freiheit in der Fächer- und Stundenkombination. Statt zehn Prozent der Unterrichtszeit dürfen sie bis zu sechs Wochenstunden für die eigenen inhaltlichen Schwerpunkte verwenden. Das bedeutet: Die Profile der Schulen werden sich weiter ausdifferenzieren, durch Spezialisierungen und schuleigene Akzente etwa beim Unterrichtsangebot, den außerschulischen Aktivitäten oder bei den Methoden. Inwieweit dies die Mobilität beeinflussen wird, ob Schüler mehrheitlich das nachbarschaftliche Lyzeum bevorzugen oder ob regionale Kompetenzzentren neue Anreize schaffen, ist eine der vielen Detailfragen, deren Antwort noch nicht abzusehen ist.
Um die Lehrpläne zu entstauben, sollen die Programmkommissionen besser begleitet werden. Die Programmkommissionen hatten in der Vergangenheit über mangelnde Unterstützung geklagt. Auf Seiten des Ministeriums fehlte oft ein qualifizierter Ansprechpartner, der sich in der Materie auskannte, um Hilfe zu bieten. Das geplante Kompetenzzentrum beim Service de coordination de la recherche pédagogiques et technologiques (Script), das den Kommissionen koordinierend zur Seite stehen soll, ebenso wie die nationale Programmkommission mit Vertretern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Kultur sollen dazu beitragen, dass die Lehrplanentwicklung professioneller wird. Wer einmal einen Blick in Lehrpläne geworfen hat, weiß, dass deren Methodik und Qualität stark schwankt: Manche sind kompetenzorientiert, funktionieren als Rahmenlehrplan, der allgemeine Lehrziele vorgibt, andere lesen sich wie eine detaillierte Anleitung für den Unterricht, Schulbuchkapitel inklusive. Damit die Lehrer auf zeitgemäße und passende Lehrmaterialien zurückgreifen können, soll ein Schulbuchverlag geschaffen werden. Er soll im Zusammenspiel mit der Uni Luxemburg und dem Script funktionieren. Die Öffnung nach außen könnte für mehr Expertise, Kohärenz und Harmonie in der Vorgehensweise zu sorgen – lange überfällig. Die Gewerkschaften und Lehrer dürften diese Initiative allerdings nicht ohne Argwohn betrachten, schließlich wird damit die Qualität ihrer Arbeit sichtbarer, der Einfluss externer Akteure größer, die Bindung ans Ministerium enger.
Unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Schüler lautet das Credo von Meischs Reform: Weil die Vielfalt unter den Schülern im Einwanderungsland Luxemburg so groß ist wie in keinem anderen EU-Land, soll ein breit gefächertes Schulangebot den unterschiedlichen Profilen und Fähigkeiten der Schüler entgegenkommen. Schon jetzt gibt es neben dem klassischen Première-Abschluss und dem Diplom im Technique, das Baccalauréat international auf Französisch und Englisch, die A-Levels in Englisch und anderes mehr.
Schulen mehr Autonomie zuzugestehen, ist keine spezifisch Luxemburger Erfindung, sondern ein internationaler Trend seit Jahren. Gleichwohl warnen Bildungswissenschaftler wie der Wiener Herbert Altrichter davor, darin ein Allheilmittel zu sehen. Österreich hatte bereits Ende der 1980-er Jahren die Schulautonomie in den Mittelpunkt seiner Bildungsreformen gestellt, mit gemischten Ergebnissen. Altrichter warnt, ein stark diversifiziertes Schulangebot und eine erhöhte Konkurrenz zwischen den Schulen könnte kontraproduktiv wirken: Wenn Schulen im Kampf um die besten Köpfe die Lernschwachen vergessen und abgehängt werden. Schon heute beträgt der Lernrückstand zwischen starken Classique-Schülern und schwachen Technique-Schülern bis zu zwei Jahre.
Claude Meisch und sein Berater verweisen auf die Auflagen, die jede Sekundarschule in den sieben Themenfeldern verbindlich umsetzen muss. Jede Schule muss in ihrem Entwicklungsplan Angebote für Schüler mit besonderen Bedürfnissen vorsehen; Maßnahmen zur Förderung der Inklusion sind verpflichtende Bestandteile des Plans, der alle drei Jahre neu auf den Prüfstand kommen soll. Mediateure für Neuankömmlinge ins Luxemburger Schulsystem sowie für Schüler mit besonderem Förderbedarf, sei es wegen Lernschwächen oder Behinderungen, sollen sicherstellen, dass Bedürftige nicht unter die Ränder geraten. Die Gretchenfrage ist freilich, ob das alles reichen wird, um der jahrzehntelangen systematischen Benachteiligung von Einwanderer- und Arbeiterkindern hierzulande endlich Einhalt zu gebieten.
Meischs Reform hat an einem Punkt eine bemerkenswerte Achillesferse: Ihr Autonomieansatz passt ins liberale Denkschema; bei der Wirtschaftsorganisation OECD und der Weltbank steht die Schulautonomie hoch im Kurs. Doch beide Organisationen unterstreichen als Gegenstück zu mehr Eigenverantwortung mehr Rechenschaft: Schulen sollen nachweisen, wie sie Lernziele umsetzen und ob sie diese erreichen. Luxemburgs Lyzeen arbeiten bereits seit einigen Jahren mit Entwicklungsplänen und Schulentwicklungszellen, diverse Projekte wurden so auf die Schiene gesetzt. Aber so richtig ist der Funke noch nicht übergesprungen, auch wenn Meisch von seiner Tour durch die Lyzeen zurückbehalten hat, wie viel an den Schulen läuft. Das und die besseren Examensresultate dieses Jahr können kaum über die ungebrochen hohe Zahl von Schulabbrechern und den beträchtlichen Lernrückstand vieler Schüler hinwegtrösten. Viele Projekte sind zudem eher punktuell angelegt und nicht Teil einer systematischen Qualitätsentwicklung.
Der Grund dafür könnte sein, dass es in Luxemburg keine unabhängige Schulinspektion gibt, die prüfen könnte, ob eine Schule die gesteckten Ziele und Vorgaben erreicht. Es ist der Direktion überlassen, die Qualität von Unterricht und Projekten zu überwachen. Nur macht das längst nicht jeder Schulleiter so konsequent wie es für eine systematische professionelle Qualitätsentwicklung nötig wäre. Sei es aus Zeitgründen, oder weil er oder sie keine Konflikte mit Lehrern (ehemaligen Kollegen) riskiert, die traditionell in Luxemburg eine große gestalterische Freiheit genießen. Damit die Reform Verbesserungen bringt, sind unter anderem Schulleitungen mit profunden Kenntnissen in Organisations- und Personalentwicklung gefragt.
Als externe Gutachter sieht Meischs Reformentwurf ein nationales Observatorium vor, das alljährlich Daten und Entwicklungspläne der Lyzeen analysiert. Es soll die Trends im Auge behalten. erfahrungsgemäß dauern solche Analysen, und bis aus Empfehlungen konkrete Lehren für die (Unterrichts-)Praxis einer einzelnen Schule gezogen werden, dürfte es ebenfalls einige Zeit brauchen.Zur besseren Steuerung der Wohnungsmarktpolitik wurde damals ein Observatoire de l‘habitat kreiert – und trotzdem kommt der Kampf gegen die Wohnungsnot und horrende Wohnungspreise nicht wirklich voran.
Noch eine Frage bleibt unbeantwortet: Woher sollen die vielen Ressourcen und Experten eigentlich kommen, die in dem neuen Gefüge Schlüsselrollen zu besetzen haben? Es fehlt seit Jahren an allen Ecken und Enden an qualifiziertem Bildungspersonal: bei der Didaktik, der Schulentwicklung, der Lehrplan-entwicklung, der pädagogischen Innovation, der Projektevaluation, in der Fort- und Weiterbildung. Zwar ist die Professionalisierung vor allem im Grundschulbereich im Gange, aber in der Sekundarschule bleibt noch viel aufzuholen. Ohne das nötige Knowhow und Personal aber wird die Reform,so organisatorisch schlüssig sie auch gedacht ist, kaum mehr Effekte zeitigen als bisherige Versuche. Was Meischs Meisterwerk sein könnte, würde dann lediglich zum Gesellenstück.
Angesichts dieser Herausforderungen müsste es rege Diskussionen geben: Ob die differenzierten Sprachanforderungen reichen werden, um mehr Schülern einen Abschluss zu ermöglichen, welche Fördermaßnahmen wünschenswert und bezahlbar wären. Doch die Bildungsdebatte scheint völlig zum Erliegen gekommen zu sein, seitdem die Regierung den Vorgängerentwurf zurückgezogen hat. Taktisch mag der Zeitpunkt, die Leitlinien zur Sommerpause vorzustellen, geschickt gewählt sein: Die Lehrer sind in die Ferien abgerauscht, in der Lehrervereinigung Apess tobt seit Wochen ein interner Machtkampf, von dem völlig unklar ist, wie er ausgeht und ob die Apess ihre Energien rechtzeitig bündeln kann. Die mitgliederstärkste Lehrergewerkschaft Feduse sendet eher kompromissbereite Signale. Man kenne die Details noch nicht, aber sehe „positive Elemente“, so Generalsekretärin Mona Guirsch im Land-Gespräch vorsichtig. Vor allem dass die Vorschläge die Einwände des Staatsrats berücksichtigen, die noch gegen Delvauxs Entwurf erhoben wurden, und dass das Gehälterabkommen nicht mehr die Politik bestimmt, stimmt die Feduse zuversichtlich. Wichtig sei es, so Guirsch, die Lehrer in die Entscheidungen über Profil und Entwicklungsziele einzubeziehen.
Auch die Schülervertretung CNEL hat sich wenige Tage vor der offiziellen Vorstellung der Reform zu Wort gemeldet. Widerstand muss die Regierung aus dieser Richtung aber eher nicht fürchten: Die Einwände der CNEL reduzieren sich vor allem auf die Rolle und das Gewicht von Englisch im Stundenplan, auf die Beibehaltung des 60-Punkte-Bewertungssystems im Technique und im Classique und auf seine Wiedereinführung in der Grundschule, auf mehr Luxemburgisch im Stundenplan und eine bessere Orientierung. Veränderungslust und Ideenreichtum der Jugend scheinen nicht sehr groß, aber vielleicht lag der Termin auch zu nahe an den Schulferien.
Die Koalitionspartner halten sich bisher mit Stellungnahmen zurück. Es spricht aber einiges dafür, dass Meischs Paket auf breite Zustimmmung stoßen wird. Bei den Koalitionspartnern sowieso. Beim Pressempfang der LSAP zur Sommerpause sagte Fraktionschef Alex Bodry, die Sekundarschulreform sei „schrecklich wichtig“, ansonsten ging er in keinem Punkt auf Inhalte ein. Eine parteiinterne Arbeitsgruppe Schule existiert, aber ein eigenes Konzept, wie die Autonomie sozial begleitet und unerwünschte Effekte abgefedert werden könnten, fehlt. Dabei wäre zum Beispiel ein sozialer Mechanismus bei der Finanzierung vorstellbar: Schulen, die eine größere Zahl schwieriger Schüler betreuen, könnten über einen sozialen Koeffizienten mehr finanzielle Unterstützung bekommen. Die Grünen sind in Sachen Schulreformen auf Tauchstation, sie wurde beim Presseanfang zur Sommerpause mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt. Bei der Oppositionspartei CSV ist mit der ehemaligen Leiterin der Ackerbauschule Martine Hansen die nötige Sachkompetenz vorhanden, aber ihre Hauptaufmerksamkeit lag in den letzten Wochen vor allem auf der Berufsausbildung.
Der größte Gegner der Reform lauert ohnehin nicht bei der Opposition im Parlament und auch nicht bei den Gewerkschaften. Sondern bei den Lehrerkomitees und ihren Vertretern. Sie waren es, die damals massiv gegen die Reformpläne mobilisiert hatten, die mit Maximalforderungen gegen Sparmaßnahmen gekämpft hatten – und am Ende mit leeren Händen dastanden. Der momentane Streit in der Apess zeigt, dass sich die Kräfte nicht geschlagen geben und sie weiter um Einfluss ringen. Ob sie sich mit punktuellen Verbesserungen (den Leistungs- und Basiskurse hatte die Plattform der Lehrervertretungen schlussendlich zugestimmt) zufrieden geben und dem neuen Entwurf zustimmen werden, scheint dennoch ungewiss. Die Reform könnte den schlafenden Drachen wieder aufwecken.