Nachdem sie vom Berufungsgericht freigesprochen wurde, meldete sich Marguerite Biermann am Dienstag erneut per Leserbrief im Tageblatt. Sie sei froh, dass die Meinungsfreiheit gesiegt habe, so die pensionierte Richterin, die sich „enttäuscht“ darüber zeigte, dass ihr Versuch, „einen fairen und konstruktiven Dialog mit den Luxemburger Juden herzustellen“, gescheitert sei.
Zur Erinnerung: Es war ihre provokante, von RTL im Dezember 2009 ausgestrahlte carte blanche, die ihr einen verbalen Schlagabtausch mit dem israelitischen Konsistorium und anschließenden Gerichtsprozess eingebracht hatte. Darin hatte Biermann jüdische Bürger bezichtigt, „aktiv mat Israel zu kollaboréieren“. Sie müssten es sich gefallen lassen, als „Komplize vun den israelischen Verbrieche betruecht ze ginn“ – wenn sie sich nicht deutlich von der zionistisch-israelischen Politik distanzierten. Und nun ein „Sieg der Meinungsfreiheit“?
In der Tat hat die zehnte Kammer des Berufungsgerichts die Ex-Richterin am 9. März von der Anstiftung zum Rassenhass freigesprochen. Die Richter bestätigten zwar, dass das Recht auf Meinungsfreiheit da an Grenzen stoße, wo es andere diskriminiert oder ihren Ruf schädigt. Allerdings müssten derlei Einschränkungen gemäß dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eng ausgelegt werden. Ohne auf die Aussagen Biermanns näher einzugehen, kam das Gericht zu dem Schluss: Verschiedene Passagen haben vielleicht schockiert, aber sie „ne sont pas de nature à créér dans l’esprit de celui qui les perçoit un choc incitatif à la discrimination, à la haine ou à la violence“. Hass, da folgen die Berufungsrichter der Erstinstanz, sei ein „sentiment violent qui pousse à vouloir du mal“. Nicht nur habe die Schreiberin versichert, mit ihren Aussagen keinen Hass säen zu wollen. Auch die Richter vermochten keine solche Absicht erkennen.
Juristisch lässt sich die Begründung nachvollziehen, das räumen auch Mitglieder des Konsistoriums ein. Die Frage bleibt aber, wie weit man es in Luxemburg mit Stereotypen und pauschalen Herabwürdigungen treiben kann, bevor man strafrechtlich dafür belangt würde. Antisemitische Verunglimpfungen bilden im Code pénal keinen eigenen Straftatbestand. In Deutschland macht sich strafbar, wer die Menschenwürde angreift, indem er (oder sie) „eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet“. Was nicht heißt, dass antisemitische Ausfälle in Luxemburg per se nicht strafrechtlich verfolgbar wären.
Im Falle Biermann jedoch endete nun auch die zweite Klage, wegen Beleidigung, mit einem Freispruch. Aber nicht, weil die Richter keine solche erkannten. Das haben sie nicht näher geprüft. Sondern aus Formgründen. Weil „kein bestimter Jude, und insbesondere keine der vier avisierten Personen Klage erhoben haben, wie sie es hätten tun können“, und weil die Konvention, die das Konsistorium mit dem Staat 1997 abschloss, „dem Konsistorium nicht die Mission gibt, die jüdische Gemeinschaft in Luxemburg zu repräsentieren“, beschränkten sich die Richter in ihrer Begründung auf jene Passagen Biermanns, die direkt auf den Kläger, das Konsistorium, abzielen. Mit dem Resultat, dass sie keine Beleidigung feststellten.
Das Tageblatt nennt den Freispruch gleichwohl einen „wegweisenden Sieg für die Meinungsfreiheit“. Bloß: Wegweisend wohin? In Luxemburg gibt es keinen Conseil représentatif des institutions juives und keine Ligue de défense juive wie in Frankreich. Wenn aber das hiesige israelitische Konsistorium nicht stellvertretend für die jüdische Gemeinschaft Klage erheben kann, wie sich dann in Luxemburg gegen Beleidigungen oder Verunglimpfungen wehren, die pauschal Bürger jüdischen Glaubens diskreditieren und mit der Politik des Staates Israel gleichsetzen? Da wundert nicht, dass nicht nur Juden das Urteil mit Sorge lesen: „Heißt das, wenn jemand zu mir sagt: ,Du bist ein dreckiger Jude‘, dass ich ihn erfolgreich anzeigen kann, aber wenn jemand sagt: ‚Juden sind dreckig‘, er straflos ausgeht?“, fragt einer.
Auch für andere ist die Affäre noch nicht ausgestanden. Bei RTL Radio stellte sich eine große Mehrheit der Redaktion gegen das Vorhaben von Chefredakteur Guy Kaiser, der streitbaren Ex-Richterin erneut ein Forum zu geben. Ein Journalist war über das Angebot der Chefredaktion so erbost, dass er den Job hinschmiss. RTL-Chef Alain Berwick betont gegenüber dem Land, es sei noch keine Entscheidung gefallen. Er legt Wert auf die Feststellung, die Pensionärin habe von sich aus vorgeschlagen, wieder cartes blanches zu machen. Erst danach habe man mit ihr Kontakt aufgenommen. Die Affäre selbst hält Berwick für einen „Sturm in der Teetasse“.
Der noch nicht vorüber ist. Im Tageblatt am Dienstag lud Biermann nach und fragte, rhetorisch geschickt, ob die Ursache für die „schroffe Abwehr gegen jeden Kontakt mit Nicht-Juden in der krankhaften Verfolgungsobsession vieler Juden“ zu suchen sei. Und ob sich „die Annäherungsverweigerung durch ihre tiefverankerte Abscheu einer eventuell durch den Kontakt mit Nicht-Juden begünstigenden Assimilation [erkläre]. Haltung, welche ihnen schon so viel Unglück und Elend eingebracht hat.“ Der Vorwurf, Menschen jüdischen Glaubens seien selbst schuld an ihrer Ausgrenzung und Verfolgung, weil sie anders seien und sich nicht genug assimilierten, war in Deutschland lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten beliebt.
Aber unabhängig davon, ob strafrechtlich relevant oder laut Gericht durch die Meinungsfreiheit gedeckt: Marguerite Biermann ist, wenngleich keine Straftäterin, so doch eine Wiederholungstäterin.