Als die einsame ADR-Vertreterin im Stater Gemeinderat Marceline Goergen auf der Ratssitzung am Montag verlangte, über „die größte Fehlinvestition für die Stadt und das Land“ ein Referendum abzuhalten, meldete sich, ehe der Antrag abgelehnt wurde, kein Vertreter der großen Fraktionen zu Wort. Weder von der blau-grünen Mehrheit, noch von der LSAP, noch von der Stater CSV, die in ihren Reihen so viele Tram-Gegner zählt, dass ihr vor zwei Jahren von höchster Parteiebene aus untersagt worden war, das Tram-Thema im Gemeindewahlkampf zu benutzen. Allein von déi Lénk, die einen Gemeinderat mehr zählt als die ADR, wies Justin Turpel Goergen streng darauf hin, dass sie Bürgerbeteiligung mit Populismus verwechsle.
Das war natürlich berechtigt. Und wenn schon „Fehlinvestition“, dann wäre die Alternative, für die die ADR seit zehn Jahren eintritt – der City-Tunnel mit rund 13 Kilometern Tunnelstrecke auf vier die Stadt querenden oder umfahrenden klassischen Eisenbahnlinien –, wahrscheinlich die größere. Der Vorstoß der ADR war jedoch zu erwarten gewesen. Offen opponiert nur noch sie gegen die Tram. Die letzten großen Störmanöver aus der CSV liegen mittlerweile vier Jahre zurück; damals hatten die Christlich-Sozialen im Wahlkampf zur Abgeordnetenkammer der ADR tramkritische Wähler abzugraben versucht.
Und vom 18. März bis zum Montag dieser Woche hatte in einer halbdunklen Ecke neben der großen Treppe im hauptstädtischen Rathaus zum Tram-Projekt ein Dossier öffentlich ausgelegen, das zehn dicke Aktenordner umfasste. Plus Detailzeichnungen der Tram-Trassenverläufe zwischen Hauptbahnhof und Oberstadt sowie auf dem Kirchberg. Eingetragen waren dort auch die Fahrspuren für Bus- und Autoverkehr und Hinweise, wie der Verkehr fließen soll, wenn die erste Ausbaustufe der Tram realisiert wäre. So viele Informationen auf einmal gab es noch nie zu dem Vorhaben. Hätte die ADR, politisch geschwächt nach den internen Richtungskämpfen vom vergangenen Jahr, dem Rücktritt ihres Vorsitzenden und dem Parteiaustritt von zwei ihrer vier Abgeordneten, die Gelegenheit nicht ergriffen, um sich am Tram-Thema ein Stück aufzurichten, hätte man sich wundern müssen.
Auch der Referendums-Antrag im Gemeinderat war die logische Konsequenz einer Serie. 2005 hatte der damalige Abgeordnete und Parteichef Robert Mehlen mit einem Gesetzesvorschlag die Regierung beauftragen wollen, die Wähler zu fragen: „Wollt ihr den City-Tunnel?“ Nachdem die Regierung das zurückgewiesen hatte, weil ihr Expertenstudien gegen dieses Projekt vorlagen, versuchte 2010 der Abgeordnete Jacques-Yves Henckes über einen neuen Gesetzesvorschlag das Parlament zu einem Referendum „Tram oder City-Tunnel“ zu bewegen. Dass die ADR im Stater Gemeinderat den dritten Anlauf nahm, ergibt sich auch aus der Stellungnahme, die 2011 der Staatsrat zu Henckes’ Text machte: Das Parlament sei der falsche Adressat für das Ansinnen. Das Tram-Projekt sei ein „Straßenverkehrsprojekt“, und Straßenverkehr gehe nur die Gemeinde an, falle sogar unter die Gemeindeautonomie. Vielleicht hielten sich ja deshalb die Räte der großen Fraktionen am Montag so zurück.
Nun will die ADR auf der Straße Unterschriften für ein Referendum sammeln. Dass das kaum klappen wird, dürfte ihr klar sein: Das Gesetz, das 1999 beim Antritt der CSV-DP-Regierung versprochen wurde und das ein Referendum vorschreiben soll, wenn 50 000 eingeschriebene Wähler das verlangen, gibt es bis heute nicht. Ein politisches Rumoren auslösen könnte die ADR aber durchaus: falls die anderen Parteien ihr auf den Leim gehen und nicht als schlechte Demokraten dastehen wollen. Am Stammtisch fiel Verkehrsplanung schon immer besonders leicht, und wie verkehrspolitische Demagogie funktioniert, hatte im Wahlkampf 1999 schon DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer vorgeführt, als sie Busse aneinanderhängen ließ, um zu demonstrieren, was für eine Zumutung ein „Zuch duerch d’Nei Avenue“ wäre.
Zu den Ironien der verkehrspolitischen Geschichte der letzten zwei Jahrzehnte gehört nun aber, dass ein „Zuch“ zwischen Hauptbahnhof und Kirchberger Messehallen gegenüber einem „liichten Tram“ den nicht zu unterschätzenden Vorteil geboten hätte, Umstiege zu ersparen. Da die Train-Tram-Züge, wie sie in den Neunzigerjahren im BTB-Projekt vorgesehen waren, auch die Eisenbahngleise befahren können, wären zumindest Bahnreisende damit nonstop an wichtige Punkte der Stadt gelangt. Weil das auch im zwischen 1999 und 2004 DP-geführten Transportministerium als Vorteil verstanden wurde, lautete das einzige politische Zugeständnis des damaligen Ministers Henri Grethen an seine Parteifreunde im Schöffenrat auf dem Knuedler auch, keine Train-Trams über die Avenue de la Liberté fahren lassen zu wollen, rundherum aber sehr wohl.
Seitdem die Train-Tram-Idee 2006 aus technischen Gründen begraben wurde, dies aber auch politisch nicht ganz ungelegen kam, um DP-Bürgermeister Paul Helminger die Straßenbahn durch die Nei Avenue bei Bedarf als etwas ganz anderes verkaufen lassen zu können als einen „Zuch“, versuchen der Verkehrsdienst der Hauptstadt und das Infrastrukturministe-rium mit viel Aufwand, das Umsteige-Problem so klein wie möglich zu halten. Dass das nicht immer leicht fällt, verdeutlicht, wie lange Minister Claude Wiseler (CSV) am Neubau einer Eisenbahn-Direktverbindung zwischen Hauptbahnhof Luxemburg, Flughafen und Kirchberg festhielt, weil die Reise nach zwei wichtigen Destinationen der Hauptstadt damit sogar vom Ausland her ohne Umstieg möglich sein sollte. Als ADR-Vizepräsident Roy Reding vergangene Woche auf einer Tram-Pressekonferenz tönte, die Straßenbahn führe „ins Chaos“; Busbenutzer könnten künftig nicht mehr ohne umzusteigen von einem Hauptstadt-Quartier ins nächste gelangen, wie von Bonneweg nach Belair oder von Cessingen nach Limpertsberg, traf er das Tram-Projekt an dessen empfindlichsten Stelle.
Und tatsächlich: Wer in den Aktenordnern neben der großen Treppe im hauptstädtischen Rathaus nachschlug, um zu erfahren, wie der Nahverkehr in Luxemburg-Stadt künftig organisiert sein wird, erfuhr zwar, dass die Avenue de la Liberté so gut wie vollständig von städtischen und von RGTR-Überlandbussen befreit werden und dass es „Umsteigeplattformen“ geben soll. Welche Fahrten von A nach B sich durch die Umstiege zwischen Bus und Tram schneller, langsamer oder ähnlich rasch wie heute erledigen lassen würden, war dem Dos-sier nicht konkret zu entnehmen. Nur der Hinweis, in 43 Prozent aller Fälle würde die Benutzung des öffentlichen Transports „attraktiver“, wenn ab Herbst 2017 die erste Ausbaustufe der Tram realisiert und die Busse von AVL und RGTR reorganisiert wären. Für 33 Prozent der Fahrten würde das Komfort-Niveau „vergleichbar“ sein mit dem heutigen. Umgestiegen werden müsste nur bei 24 Prozent der Fahrten, wobei die Hälfte davon (also zwölf Prozent aller Fahrten), vermutlich langsamer vonstatten ginge als heute. Wer bei Gemeinde und Infrastrukturministerium nachfragt, weshalb das Tram-Dossier noch keine detaillierteren Modelle enthält, erfährt, das endgültige Buskonzept stehe noch nicht fest.
Das ist vermutlich nicht weiter schlimm, denn ohnehin war, was seit 18. März im Rathaus am Knuedler auslag, nicht als neues Verkehrskonzept gedacht. In erster Linie wurde dort die Umweltverträglichkeitsstudie von Tram-Bau und Tram-Betrieb publik gemacht, die nach EU-Recht vorgeschrieben ist. Die wiederum bezieht sich vor allem auf das Wartungs- und Reparaturzentrum für die Straßenbahnen, das am Rand des Gréngewald entstehen soll, der ein EU-Habitatschutzgebiet ist. Dass dem Dossier das Avant-projet sommaire zur Tram beilag, war zwar ebenfalls Pflicht. Doch solche APS sind stets „summarisch“ und dienen nur als Basis für eine Grundsatzentscheidung des Regierungsrats, die Tram bauen zu lassen oder nicht. Weitere Einzelheiten enthält erst das Avant-projet détaillé, auf dessen Basis dann der Gesetzentwurf zum Bau entsteht. Das APD muss ebenfalls öffentlich ausgelegt werden, sogar noch zehn Tage länger als die Umweltverträglichkeitsstudie mit dem APS. Immerhin aber waren schon diesem Dossier ein paar für sich selber sprechende Einzelheiten für den Fall zu entnehmen, der öffentliche Verkehr in der Hauptstadt bliebe, wie er ist: Der Abgase wegen unterliegen schon jetzt in Stadtzentrum und Bahnhofsviertel über 8 000 Einwohner und an die 20 000 Arbeitsplätze einer Stickoxidbelastung, die regelmäßig die zulässigen Grenzwerte überschreitet. Ohne Tram werde die Lage nicht besser, hebt das Expertenbüro aus Wecker hervor, das die Umweltstudie geschrieben hat.
Fragt sich nur, ob das so gesehen würde, falls eine Tram-Diskussion anhebt, die Micro-Trottoirs und Populisten bestimmen. Ein Vermittlungsproblem hat das Straßenbahnprojekt nicht nur, weil es ein technischer und politischer Kompromiss ist. Sondern auch, weil es eine Wette auf die Zukunft enthält. Es ist Teil eines landesweiten Mobilitätskonzepts, das tapfer behauptet, im Verkehr die Voraussetzungen zu schaffen, damit in den nächsten zwei Jahrzehnten die Wirtschaft um bis zu drei Prozent jährlich wachsen kann. Was so viel Wachstum allein bis 2020 in der Hauptstadt und ihren Randgemeinden bedeuten kann, ist in „Potente Potenziale“ angedeutet. Vor allem die Arbeitsplatzprognosen fallen auf, doch an die zu glauben, kann in der anhaltenden Krise schwer fallen. So lange aber liegen auch Tram und Bus im Auge des Betrachters. Der könnte argumentieren, die Tram müsse gar nicht sein. Und wozu sich Hauptstadt und Umland als eine Ballung von tagsüber mehr als 300 000 Menschen vorstellen, wenn die Regierung das Bankgeheimnis abschafft, die Arbeitslosigkeit wächst und nicht so klar scheint, wer in der nächsten Zeit wie viel und wozu in Luxemburg investieren wird?