Auch wem Bücher schnurz und piep sind, weiß spätestens nach Hegemann, Guttenberg und Co.: Abschreiben ist nicht okay; Autoren sollten sich den Inhalt ihrer Bücher selbst überlegen, statt ihn sonstwo abzuspicken.
Doch die Liebhaber unumstößlicher Regeln dürfen sich nicht zu früh freuen. Schon der gute alte Aristoteles wusste zu berichtigen, dass nicht die Fertigkeiten für sich genommen gut oder schlecht sind, sondern lediglich ihr Gebrauch. So ähnlich auch beim Abschreiben: Wie man gut und gerne an die fünfundneunzig Prozent eines Buches aus fremden Texten zusammenkopieren und dennoch ein originelles literarisches Erzeugnis vorlegen kann, beweist das beim Berliner Nicolai Verlag erschienene Buch von Gast Mannes: Rockstrohs Gespräche mit Heinrich von Kleist. Mannes lässt dort Kleist und seinen Zeitgenossen Heinrich Rockstroh, dem Kleist (aber das ist pure Spekulation) Zeit seines Lebens nicht über den Weg gelaufen sein dürfte, als alte Bekannte auftreten, die in ihren eigenen Worten fiktive Gespräche führen, also mittels Fragmenten, die der Luxemburger Bibliothekar aus den jeweiligen Textcorpora entnommen und neu zusammengesetzt hat.
Das Resultat ist ein akademisches Copy-and-Paste, ein gelehrtes Spiel, das nach Bezügen zwischen den ungleichen Zeitgenossen sucht und den Differenzen in ihrem jeweiligen Verständnis der Aufklärung nachspürt. Kleists Zerrissenheit, seine Zweifel an den Möglichkeiten der Wahrheitsfindung und Wahrheitserfahrung, prallen auf Rockstrohs frohgemutes Interesse an technischen Neuerungen und an der Optimierung der Lebens[-]umstände allgemein. Detailfreudig berichtet der Pragmatiker und Effi[-]zienzfetischist von neuen Badewannen oder Bratmaschinen und widmet sich mit erstaunlicher Umsicht entlegener Probleme wie etwa dem, mittels welcher Vorrichtung man am besten in die Flasche (oder schlimmer noch: den Krug!) gefallene Korken aus eben dieser „Bouteille“ entfernen könne.
Mannes gruppiert die Aussagen seiner Gewährsmänner in überschaubaren Kapiteln um eine Vielzahl von Stichwörtern, – „Hydrostat“, „Mode“, „Kunstausstellung“, „Frauen“ –, zu denen er aussagekräftige Passagen in einer Weise anführt, dass es scheinen soll, als antwortete der eine dem andern. Mannes vergisst dabei sein Publikum nicht; was es an berühmten Kleistzitaten gibt, darf der Leser in diesem Buch wiedererkennen, während sich die restlichen Originalzusammenhänge mit Hilfe von Google relativ problemlos ermitteln lassen. (Leider gilt das nicht für Rockstroh, der sich trotz aller Technikbegeisterung dem Internet so geschickt entzogen hat, dass es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag über ihn gibt.)
Ähnlich wie die Nonnen in einer Rockstroh-Passage Figuren aus Kupferstichen schneiden, um sie zu einer Tapetencollage zu verarbeiten, klebt Mannes also Textstellen aus Journalen, Essays, Dramen und Briefen zu einer neuen Erzählordnung zusammen. Erzählperspektive ist dabei die der Kolportage: Rockstroh dient als Informant; er berichtet, was bei diesen Unterredungen mit Kleist gesagt worden sei. Vorherrschendes Tempus wird dadurch der Konjunktiv. Dieses Mittels zur Distanzierung des Erzählten hat sich in jüngster Zeit ein anderer Autor bedient, der in seinem Roman justament zwei prominente Vertreter der Aufklärung aufeinandertreffen ließ. Diese „Vermessung der Welt“ wird sogar in einer als Rockstroh-Zitat ausgewiesenen Passage von Mannes erwähnt (S. 75). Anders als Daniel Kehlmann hat Gast Mannes aber keinen Roman geschrieben. Seine Leistung besteht nahezu ausschließlich in der Rekontextualisierung ausgewählter Textstellen. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Gesprächscollage tatsächlich als „Gespräch“ funktioniert.
Fast fällt dabei nicht ins Gewicht, dass Mannes Kleist nicht nur in eigener Sache sprechen lässt, sondern ihm auch Passagen in den Mund legt, die im ursprünglichen Kontext von seinen Figuren gesprochen werden. Viel bedenklicher wirkt, dass er den Übergang von der Schriftlichkeit von Essays, Briefen und dergleichen zur – behaupteten – Mündlichkeit in der Verarbeitung der Versatzstücke nicht berücksichtigt. Mit einem natürlichen Gespräch, und sei es einem kolportierten, haben die ellenlangen Ausführungen dieses Rockstroh und dieses Kleist so gut wie nichts gemein. Das mag daran liegen, dass Mannes die Gesprächssituation höchstens andeutet, aber dem Leser nicht vor Augen führt.
Hier hätte er sich doch gern ein wenig an Kehlmann orientieren und Ort wie Umstände der Zusammenkünfte erfinden dürfen. Auch geht er mit der Zusammenfügung der Fragmente zu zögerlich um: Wer den Eindruck eines Gesprächs vermitteln will, darf nicht vergessen, dass Gesprächspartner, und sei es nur körpersprachlich, gewöhnlich aufeinander reagieren. Bei Mannes schweigen sie einander zwar gelegentlich an, gehen aber oft zu unvermittelt zu anderen Themen über, als dass der Leser wirklich das Gefühl haben könnte, sie hätten einander zugehört. Ganz im Gegenteil: Die meiste Zeit wirkt es, als redeten diese „Gesprächspartner“ einfach aneinander vorbei. Dadurch aber, dass sie kaum aufeinander eingehen, wirken diese Dialogpartner allerhand rechthaberisch und geschwätzig. Insbesondere Mannes’ Kleist entwickelt darüber hinaus die unschöne Gewohnheit, sich ständig selbst zu zitieren.
Wenn auch Kleist-Fans an dem Buch ihre helle Freude haben werden, hätte ein wenig mehr Mut zum „höheren Abschreiben“, also zur Fiktionalisierung, sicher nicht geschadet.