SOS-Ruf Seit Sommer des vergangenen Jahres ist ein Mann täglicher Gast im Palais. Er nimmt einen der beiden Aufzüge, um auf eines der oberen Stockwerke zu gelangen, setzt sich an einen Arbeitstisch, der eigens für ihn eingerichtet wurde, wälzt Akten und Bücher, redet mit Hofstab, Personal und der großherzoglichen Familie. Und schreibt. Jeannot Waringo (67), Sohn eines Malers und früherer Direktor der Finanzinspektion, ist in spezieller Mission im Palais. Staatsminister Xavier Bettel (DP) hat den hohen Beamten im Ruhestand damit beauftragt, die Buchführung und Personalpraxis am großherzoglichen Hof zu untersuchen. Es wird wohl noch einige Wochen dauern, bis Waringo seinen Bericht abgeschlossen hat und dem Premier vorlegen wird. Aber schon jetzt ist klar: Das, was er im Palais vorfindet, birgt Potenzial, die Institution der Luxemburger Monarchie in eine tiefe Krise zu stürzen.
Bereits im vergangenen August hat das Onlinemagazin Reporter über die Missstände am großherzoglichen Hof berichtet. Laut Recherchen des Magazins sollen seit 2015 mehr als 30 Mitarbeiter den Hof verlassen haben, rund ein Drittel des gesamten Personals. Hofmarschall Lucien Weiler hat damals versucht, die Nachricht zu widerlegen. Doch die Dunkelziffer des Personalkarussells soll noch höher sein, sofern externe Hofberater mitgezählt werden. Vordergründig geht es beim Waringo-Bericht dabei um Geld. Der großherzogliche Hof wird direkt über das Budget des Staatsministeriums finanziert – zum Teil, weil es die Verfassung so vorsieht, zum Teil, weil es zu den Gepflogenheiten der konstitutionellen Monarchie in Luxemburg gehört. Dabei sind es vor allem die Personalkosten des Hofs, die den größten Teil des rund 11 Millionen Euro Budgets des Hofs ausmachen. Sie betrugen im vergangenen Jahr 6,6 Millionen Euro und wachsen seit Jahren kontinuierlich. In diesem Jahr sind es bereits 7,8 Millionen, bis 2023 sollen sie auf 8,5 Millionen Euro steigen.
Die Finanzierung des Staatsoberhaupts macht allerdings gerade einmal 0,05 Prozent des gesamten Staatshaushalts aus. Und so soll das Problem der Personalpolitik weitaus schwerwiegender sein und über das Finanzielle hinausgehen. Tatsächlich ist der Bericht nicht unmittelbar auf Initiative von Xavier Bettel zurückgegangen, sondern auf nachdrücklichen Wunsch von hohen Mitarbeitern des Großherzogs. „Der SOS-Ruf kam direkt aus dem Palais“, so der scheidende LSAP-Fraktionspräsident Alex Bodry. Andere Quellen behaupten, es sollen Hofmarschall Lucien Weiler und Kabinettschef Michel Heintz selbst gewesen sein, die den Premier darum baten, die Lage am Hof zu analysieren. Eine Art Komplott gegen den Monarchen? Bereits zu Beginn des vergangenen Jahres habe der Erste Regierungsrat im Staatministerium Jacques Thill sich im Auftrag des Premiers mit den früheren Hofmarschällen Pierre Mores (2007-2013) und Pierre Bley (2013-2016) getroffen, um über das weitere Vorgehen zu sondieren. Denn das System, das Großherzog Henri und die Großherzogin Maria Teresa aufgebaut haben, soll außer Kontrolle geraten sein: ausufernde Geldflüsse, ungeklärte Aufgabenbereiche, unklare Hierarchien, intransparente Entscheidungen, Missachtung von Arbeits- und Persönlichkeitsrechten und nicht zuletzt die Geschichte um einen Verstorbenen, dessen Suizid laut Angehörigen in direktem Zusammenhang mit der fristlosen Kündigung steht. Kurz: Am Hof herrsche Willkür wie zu Zeiten des Feudalismus.
Omertà Wer sich mit Vertrauten des Hofstaats unterhält, trifft auf Schwiegen. „Sie werden nicht weit kommen“, sagt eine Person, die der großherzoglichen Familie nahesteht. Das habe einen einfachen Grund: Der Hof hat sich das Schweigen mit öffentlichen Geldern erkauft. Alle Mitarbeiter verpflichten sich zu strengster Diskretion, sie müssen bei Arbeitsantritt ein Schweigegelübde ablegen. Und wer den Hof verlässt, erhält eine hohe Abfindung vertraglich gebunden an eine Geheimhaltepflicht. Es sei ein System der
Omertà, bei dem nichts nach außen dringen soll. Was auf dem Hof passiert, bleibt auf dem Hof.
Dass dieses System des institutionellen Schweigens sich so lange bewährt hat, liegt auch an der medialen Kultur des Landes. Es galt lange als unredlich und unseriös, kritisch über den Großherzog zu berichten. In manchen Redaktionen des Landes wird der intransparente Informationsumgang des Hofes vielmehr als Zeichen einer professionellen Diskretion gepreist. „Es ist heikel, an der Fassade des Hofes zu kratzen“, sagt die Historikerin Josiane Weber. Sie hat gerade eine vielgelobte politische Biografie über Großherzogin Marie Adelheid (Editions Binsfeld) veröffentlicht. Bei ihrer Recherche war sie zunächst auf die Mauern des Kontrollsystems des Hofs gestoßen. Der Wissenschaftlerin wurde der Einblick in das Hofarchiv zunächst verwehrt. Einen triftigen Grund dazu gab es nicht. Auch der langjährige Politiker Alex Bodry nennt die Luxemburger Monarchie ein „Tabuthema“, an das sich keiner so recht wagt.
Jemand, der sich mit der Geschichte der Monarchie in Europa auskennt, ist Frank Lorenz Müller. Der Historiker der St Andrews University in Schottland hat die Methoden und Strategien des Machterhalts der Monarchien im 19. Jahrhundert ausführlich analysiert und vergangenes Jahr dazu ein Buch publiziert (Die Thronfolger: Macht und Zukunft der Monarchie im 19. Jahrhundert. Siedler Verlag). Ihn überrascht die zurückhaltende Berichterstattung der Medien in Luxemburg nicht. Der Vorwurf der „Majestätsbeleidigung“ ist seiner Auffassung nach tief in manchen Kulturen der konstitutionellen Monarchie verankert. Wer den Hof in ein negatives Licht bringt, gilt als Nestbeschmutzer und verhält sich non-konform zu den Werten der Gesellschaft. „Monarchen inszenieren sich als Landesväter, und wer gegen sie vorgeht, geht auch gegen die Interessen der Nation“, so Müller. Deshalb werden Fehltritte und sonstige unerfreulichen Dinge am Hof kollektiv unter der Decke gehalten und tauchen allenfalls in der Klatschpresse als Gerüchte auf. Dringen Fehltritte jedoch an die Oberfläche und werden Teil des öffentlichen Diskurses, stürzen sie die Institution der Monarchie meist in eine tiefe Krise. Es ist wie bei der Ketchup-Flasche: Erst kommt nichts, dann auf einmal alles.
Willkür Personen, die dem Hof nahestehen, sprechen deshalb nur hinter vorgehaltener Hand. Sie verweisen allesamt auf die Berichte der Boulevardzeitung Lëtzebuerg Privat. Was dort an Interna stehe, sei zwar tendenziös, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. So sollen sich tatsächlich die Probleme am Hof auf die Person der Großherzogin fokussieren. Maria Teresa halte die Zügel fest in der Hand, bestimme die Geschäfte und den Rhythmus am Hof. Ihr Personal muss ihren Willen erraten, ihre Launen ertragen und zu jeder Zeit Spalier stehen. Die Großherzogin betrachte sie als „Leibeigene“, über die sie beliebig verfügen könnte. Es sei vor diesem Hintergrund zu verstehen, dass so viele Angestellten flüchten, da sie Opfer von psychischer und physischer Gewalt geworden seien. Niemand habe hingegen noch Zugriff auf Maria Teresa – nicht das Personal, nicht der Hofmarschall, nicht der Großherzog. In anderen Worten: Die Großherzogin macht, was sie will.
Deshalb komme es auch zu einer Vermischung von öffentlichen und privaten Geldern sowie von offiziellen und privaten Reisen. Wenn die Großherzogin keine Lust auf eine Staatsvisite hat oder sich gekränkt fühlt, sage sie einfach ab und schiebe familiäre Gründe vor wie 2016 bei einer ausgesetzten Staatsvisite in Rumänien. Wenn es die Großherzogin in fremde Länder ziehe, verlange sie in offizieller Mission mit öffentlichen Geldern zu reisen, selbst wenn ihr das nicht zusteht. Und wenn sie sich als Kämpferin für Menschrechte inszenieren will, lasse sie den gesamten Hofstaat für ihre Projekte antanzen wie zuletzt im März 2019 beim Forum Stand Speak Rise up!
Kontrolle Der einzige, der es wagt, sich gegen den Willen der Großherzogin zu stemmen, ist Xavier Bettel. Der Premier, der sich öffentlich gerne als „Monarchist“ bezeichnet und schützend vor die großherzogliche Institution stellt, soll anders als Vorgänger Jean-Claude Juncker (CSV) der Großherzogin recht früh die Stirn geboten haben. Während Maria Teresa darauf bestand, über das politische Tagesgeschäft mit Premier Juncker zu reden um sich in die Politik einzubringen, habe Bettel schnell mit dieser Praxis gebrochen. Er habe das Kräftemessen gesucht. Und bei einem Dissens soll es gar zu einem heftigen verbalen Austausch gekommen sein, „bei dem die Mauern des Palais wackelten“, wie Vertraute des Hofs berichten.
Für Premierminister Xavier Bettel ist es jedoch ein Drahtseilakt. Denn qua Verfassung ist der Großherzog „unverletzlich“. Er steht über den Dingen und kann eigentlich von keiner Gewalt oder Instanz zur Rechenschaft gezogen werden – weder vom Premier, noch von der Chamber, noch von der Justiz. Allerdings darf der Staatschef auch keine Entscheidungen treffen ohne den contreseing eines Regierungsmitglieds, der die Verantwortung übernimmt. Und hierin liegt etwa für den Juristen Bodry, aber auch für Verfassungsrechtler Luc Heuschling der springende Punkt: Denn auch Personalentscheidungen des Großherzogs müssten eigentlich von der Regierung durch Gegenzeichnen verantwortet werden. Dem Vernehmen nach soll das jedoch in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen sein – niemand habe sich in die Personalgeschäfte der Großherzogin und des Großherzogs eingemischt. Der Hof hatte freie Hand. Laut Heuschling können Entscheidungen allerdings auch ohne eine fehlende Unterschrift auf den Premier zurückfallen. Denn im Zweifel muss der Staatsminister immer die Verantwortung für den Großherzog übernehmen.
Premier Bettel steht vor dem Problem, dass er eigentlich den Großherzog nicht kontrollieren darf. Der Rückgriff auf den informellen Sonderbeauftragten ist deshalb als geschickter Schachzug des Premiers zu verstehen, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Denn wie Bettel bei jeder Gelegenheit betont, hat er sich in Absprache mit dem Großherzog für den Sonderbericht entschieden. In gewisser Hinsicht kontrolliert der Großherzog nur sich selbst.
Der Ausgang des Waringo-Berichts ist ungewiss. Der großherzogliche Hof will sich zu diesem Zeitpunkt nicht äußern. Dem Hof nahestehende Personen wollen nicht ausschließen, dass der Großherzog am Ende abdanken wird. Bereits vergangenes Jahr soll er offen darüber nachgedacht haben. Und dieses Jahr spreche vieles dafür. Mit Guillaume und Stéphanie, die großherzoglichen Nachwuchs erwarten, stehen die Nachfolger jetzt in den Startlöchern.