Wie weit kommt man mit dem Deutsch, das in Luxemburg üblich ist? In einer Umfrage wollten die Sprachforscher Stephan Elspaß und Robert Möller wissen, wo „die Leute im Alltag ungefähr so ähnlich sprechen wie in Ihrem Ort“, beziehungsweise wo „deren Sprache als vertraut empfunden wird“. Bomi und Pangech haben demnach ein recht überschaubares „Heimatgebiet“: In Trier finden sie noch Verständnis, ganz im Westen von Saarland und Rheinland-Pfalz wird die Alltagssprache als „ziemlich ähnlich“ empfunden - aber schon am Rhein macht die Omma nur Pfannkuchen, und die Palatschinken der Vorarlberger Sähle sind „kaum bis gar nicht ähnlich“.
Von Süddänemark bis Südtirol ist Deutsch für mehr als 90 Millionen Menschen die Muttersprache. Hochdeutsch spricht allerdings kaum jemand, auch reine Mundart ist selten - die Alltagssprache bewegt sich irgendwo dazwischen. Traditionelle Dialekt-Forschung war vergleichsweise einfach: Sie befragte bodenständige Norms (non mobile, older, rural males). Das heutige informelle Gerede, etwa beim Einkaufen oder auf der Straße, kann dagegen Wissenschaftler zur Verzweiflung bringen, denn der Sprachgebrauch ändert sich ständig und Sprachgrenzen sind fließend.
Die Professoren Elspaß von der Uni Salzburg und Möller von der Uni Lüttich arbeiten schon seit 20 Jahren am Atlas zur deutschen Alltagssprache: Sie erfassen regionale Varianten des Wortschatzes, zum Teil auch Aussprache, Betonung und Grammatik. Mit Internet-Umfragen und statistischen Methoden können sie mehr oder weniger deutliche Verbreitungsschwerpunkte von Ausdrücken abgrenzen: Nördlich des Mains sagt man zum Beispiel überwiegend Sonnabend und Semikolon - südlich davon Samstag und Strichpunkt. Ein Tacker heißt in Ostdeutschland meist Klammeraffe, in der Schweiz dagegen Bostitch. Bisher haben sie bereits mehr als 600 Sprachphänomene kartiert.
„Deutsch-Lernern steht ein Praxisschock bevor, wenn sie ohne Kenntnis der regionalen Unterschiede zum ersten Mal in ein deutschsprachiges Land kommen“, sagt Elspaß. Selbst für Muttersprachler seien „Missverständnisse oft vorprogrammiert“, etwa bei Stichworten im Online-Handel. Dass man in Berlin keine Berliner und in Wien keine Wienerle bestellen sollte, kann man sich vielleicht denken - brauchbar sind dort für das rundliche Fettgebäck Pfannkuchen und für die Würstchen Frankfurter. Aber wer weiß schon, dass Pfälzer Teppich sagen, wenn sie Decke meinen? Oder dass gleich in der Schweiz eher „sofort“ bedeutet, dagegen bei der Deutschen Bahn „etwas später“.
Manche lokale Schrullen werden liebevoll gepflegt, etwa in Leipzig Mutschekiebchen für Marienkäfer oder in Münster Leeze für Fahrrad. Generell sterben aber kleinräumig gebrauchte Dialekte überall aus, am schnellsten in Norddeutschland, am langsamsten in der Schweiz. Der Sprachatlas zeigt jedoch, dass zum Beispiel Potacken, Knollen, Erpel oder Pipper nun keineswegs überall einheitlich durch Kartoffeln ersetzt werden. Besonders im Süden bleiben in großen Gebieten Erdäpfel, Herdäpfel oder Grundbirnen üblich.
Handelskonzerne versuchen zuweilen, regionale Ausdrücke zu erhalten, aber unterschiedlichen Produkten zuzuweisen - also Brötchen und Semmeln anzubieten, aber für verschiedene Brotformen. Produktdifferenzierung funktioniert jedoch nicht immer: Die EU wollte Marmelade, ein Lehnwort aus dem Portugiesischen, nur für Brotaufstriche aus Zitrusfrüchten zulassen und alle anderen Frucht-Aufstriche Konfitüre nennen. Damit kamen die Eurokraten aber bei den Österreichern nicht durch, bei Schwaben (Gsälz) und Luxemburgern (Gebeess) auch nicht. Die Schweizer wiederum sagen zu allem Konfi, auch zur Orangenmarmelade.
Allein schon, weil das Schulwesen staatlich organisiert ist, enden Sprachvarianten gern akkurat an politischen Grenzen. Bayern und Ostösterreicher haben den gleichen Dialekt, aber die einen sagen Ausrufezeichen, die anderen Rufzeichen. In Deutschland sind die Kinder auf dem Gymnasium und haben Schulranzen, dagegen in Luxemburg, der Schweiz und Österreich im Gymnasium mit einer Schultasche oder einem Schulsack. Sogar ehemalige Grenzen überdauern in der Sprache: Die DDR ist Geschichte, aber die Ossis beharren auf Broiler (Hähnchen), Plaste (Kunststoff) und Tischtenniskelle (-schläger).
Für die deutschen Dialekte ist die „Benrather Linie“ von Eupen nach Berlin bedeutend, die Grenze von ik und ich. Die heutige Alltagssprache scheidet sich oft weiter südlich an der Main-Linie, der alten Grenze des preußisch dominierten Norddeutschen Bunds zu Bayern: darüber Junge, darunter Bub. Südlich von diesem „Weißwurst-Äquator“ vertschüssen sich zunehmend die Abschiedsformeln Servus, Pfiati und Ade. Die Österreicher granteln, weil fade Tomaten saftige Paradeiser ersetzen und in der Werbung neuerdings alles lecker schmeckt. Es gibt aber auch Angriffe vom Süden auf den Norden: Die Orange vertreibt die Apfelsine; Apfelsinensaft wird in ostbelgische Reservate abgedrängt. Von Tirol aus verbreitet sich brutal als Verstärkungswort, vielleicht eine Folge von brutal netten Managern?
Die Luxemburger halten es mal mit dem Norden (Modalpartikel eben statt halt), mal mit dem Süden (Meter statt Zollstock), mal mit dem äußersten Westen (Speis statt Mörtel), dann wieder mit dem Alemannischen, das eigentlich weiter südlich vom Elsass über die Schweiz bis Bayerisch-Schwaben zu Hause ist (schaffen statt arbeiten). Ihren unmittelbaren Nachbarn folgen sie dabei nicht unbedingt: In Trier ist an der Haustüre klingeln üblich, in Luxemburg eher wie in Liechtenstein schellen. Während die Luxemburger hochdeutsch Fußball spielen, gehen die Deutschen meist bolzen. In Schengen verzeichnet der Sprachatlas wie in der Schweiz Rindsbraten und „Sie hat mir‘s erzählt“, dagegen auf der anderen Mosel-Seite Rinderbraten und „Sie hat‘s mir erzählt“.
Im Deutschen kann man sich aber auf nichts verlassen, es gibt auch Sprachphänomene über alle Dialekt- und Landesgrenzen hinweg: Von Sylt bis Graubünden sagt man am Dienstagmorgen, von der Ostsee bis Südtirol dagegen Dienstag früh oder Dienstag in der Früh. In der Mitte Europas gelegen, ist der deutsche Sprachraum in alle Richtungen offen. Aus dem Italienischen kommt beispielsweise die Schachtel, aus dem Niederländischen das Päckchen. Ebenfalls aus Holland schwappen Formulierungen herüber wie „Ich bin gut zufrieden“ oder „Ich schaue mir das morgen direkt an“.
Früher wurden Importe oft eingedeutscht. Fußball zum Beispiel kam samt dem damit verbundenen Vokabular aus England. Im Südwesten Deutschlands und im Osten Österreichs ist deshalb kicken verbreitet. Vorarlberger und Schweizer haben aus dem englischen shoot dagegen tschutten gemacht, weshalb Fußballspieler dort Tschütteler heißen. Gerne werden auch aus dem Französischen Wörter geholt - dann aber ausgerechnet entlang der Grenze zu Frankreich von der Schweiz bis Belgien „germanisch“ auf der ersten Silbe betont: Kárton, Bálkon, Bǘro. Im ferneren wie feineren Hamburg oder Wien geht man etepetete ins Büróo.
Sprachpuristische Abwehr von Fremdwörtern wird häufig belächelt. Im 19. Jahrhundert scheiterte der Allgemeine Deutsche Sprachverein mit dem Versuch, Motor durch Zerknalltreibling und Zigarre durch Rauchrolle zu ersetzen. Der Atlas zur Alltagssprache zeigt aber, dass die damals von staatlichen Institutionen und Sportvereinen betriebene Sprachpolitik durchaus erfolgreich war: In ganz Deutschland sind heute Bahnsteig, Briefumschlag oder Elfmeter die einzig üblichen Varianten - dagegen schwatzen Schweizer weiterhin von Perron, Couvert und Penalty. Anno 1884 beschloss ein Velocipedisten-Congress, dass Deutsche und Österreicher fortan (Fahr-)Rad fahren - wer in Luxemburg, Elsass oder der Schweiz ein Velo hat, ist daran nicht gebunden.
Ob Handy, Shitstorm oder boostern: heute werden Neuigkeiten oft ohne irgendwelche Anpassungs- oder Verdauungsversuche (pseudo-) englisch benannt. Es gibt aber auch im Deutschen immer noch Innovationen. Die Bim etwa, in den 1970-er Jahren zuerst bei Jugendlichen in der Steiermark gehört, hat sich heute in ganz Ostösterreich für Straßenbahn etabliert. Bayern und Luxemburger bleiben vorerst lieber bei die Tram, die Schweizer bei das Tram, die Elsässer bei der Tram.
Apropos Artikel und Relativpronomen: was bringt eigentlich der Deutsch-Unterricht? Statt „die Frau, die das Haus gekauft hat“, ist in Südwestdeutschland und der Schweiz nach wie vor „die Frau, wo“ gebräuchlich, in Bayern „die wo“, in Österreich gar „die was“. Luxemburger und Elsässer schrecken auch nicht vor Wendungen wie „(d)em Anna sein Schlüssel“ zurück. Lehrer, die sich dazu jahrelang den Mund fusselig geredet haben, können nur die Hände ringen und „Jetzt reichts mir!“ rufen. Südlich des Mains: „Jetzt langts!“ Aber Achtung, „Jetzt schickts mir!“ sagt man in Hessen. Elo geet et duer!