Ulf Nehrbass ist ein ausgewiesener Forschungs- manager. Nach seinem Biochemie-Studium in Tübingen und Cambridge, der Promotion am Europäischen Molekularbiologielabor in Heidelberg und einem Postdoc-Aufenthalt beim späteren Medizin-Nobelpreisträger Günter Blobel an der Rockefeller University in New York wurde Ulf Nehrbass 1998 Forschungsgruppenleiter am Institut Pasteur, einem Biomedizin-Grundlagen- forschungszentrum in Paris. 2004 übernahm er die Leitung des neugegründeten Institut Pasteur Korea, das sich auf die „Translation“ von Grundlagenforschungsresultaten hin zu medizinischen Therapien spezialisiert hat. 2013 wurde er CEO von Ksilink in Straßburg, einem französisch- deutschen Forschungszentrum für Translationale Medizin. Seit Oktober 2017 ist er CEO des Luxembourg Institute of Health und hat für das LIH eine neue Strategie erarbeitet.
d’Land: Herr Nehrbass, Luxembourg Institute of Health klingt ein wenig wie die National Institutes of Health in den USA. Da steckt einiges an Marketing dahinter, oder?
Ulf Nehrbass: Ob das so beabsichtigt war, weiß ich nicht. Das LIH besteht unter diesem Namen seit 2015, ich wurde vor anderthalb Jahren sein CEO. Bedeutsam am LIH ist, dass es nicht als reines Biomedizin-Forschungsinstitut ausgerichtet ist. Zu ihm gehört auch die Integrated Biobank of Luxembourg, die von Patienten Gewebe-, Blut- und Genproben sammelt, lagert und erste Analysen an ihnen vornimmt. Und wir haben eine Forschungsabteilung Population Health, die Studien zur öffentlichen Gesundheit betreibt. Einerseits über die gesunde Bevölkerung, denn es geht uns nicht nur um Krankheiten, sondern auch darum, wie gesunde Menschen gesund bleiben können, andererseits kann man klinische Studien auflegen. Mit diesem Profil unterscheidet sich das LIH von anderen Forschungsinstituten.
Vor drei Wochen kam eine externe Evaluation der drei „Luxembourg Institute of ...“ heraus. Da wurden die staatlichen Zuwendungen an die Institute „luxuriös“ genannt. In dem Bericht zum LIH steht, es sei noch „weit davon entfernt, seine institutionelle Autonomie produktiv zu nutzen“. Wurden Sie vor anderthalb Jahren engagiert, um das zu ändern?
Die Evaluation ergab auch, dass das LIH in der Grundlagenforschung stark ist. Das fand auch ich, als ich im Herbst 2017 hierher kam. Ich war überrascht, wie originell und hochwertig sie ist. Nun sind wir an einem Punkt angelangt, wo mir mehr in Richtung Patient gehen müssen. Was in die Grundlagenforschung investiert wurde, soll sich stärker in Anwendungen niederschlagen. Ärzte, Krankenhäuser, die Politik und die Bevölkerung erwarten das von uns, und unsere Forscher verstehen das.
Sie haben eine neue Strategie für das LIH mit seinen über 330 Mitarbeitern aufgestellt. Strukturieren Sie das Institut um?
Wir fokussieren uns mehr, aber die Grundlagenforschung bleibt stark. Die Ausrichtung auf den Patienten kommt zusätzlich hinzu. Die „luxuriöse“ Förderung durch den Luxemburger Staat hat ein sehr freies, sehr kreatives Arbeiten erlaubt. Da sind Dinge entstanden, die ich anderswo noch nicht gesehen habe.
Was denn zum Beispiel?
Ein Forscher konnte zeigen, wie das Mikrobiom, also die Ansammlung sämtlicher Bakterien im Verdauungstrakt, und die Ernährung zusammenwirken. Zum Beispiel dienen Ballaststoffe in der Nahrung manchen Bakterien als Nährstoffe. Fehlen sie, können die Bakterien dazu übergehen, die Darmschleimhaut als Nährstoff zu nutzen, und sie so kompromittieren. Es gibt da einen sehr klaren Effekt. Man kann erklären, wie unsere Ernährung uns für gewisse Erkrankungen prädisponiert, für Darmentzündungen und eventuell für Darmkrebs. Solche Forschungsergebnisse – und ich könnte weitere nennen – wurden durch die „luxuriösen“ Zuwendungen ermöglicht, und die Freiheit, so forschen zu können, wurde am LIH genutzt. Ist man dagegen gezwungen, sich um Forschungsmittel zu bewerben, die mit einer bestimmten Richtung verbunden sind, hat das auch einen nivellierenden Effekt.
So gesehen, kann man „luxuriös“ aus zwei Blickwinkeln betrachten. Man könnte sagen, großzügige Zuwendungen halten davon ab, sich um Fördermittel aus EU-Programmen zu bewerben, und tatsächlich kann und soll das LIH sich darum mehr bemühen. Aber andererseits sind Freiheits-Biotope, wie sie bisher existiert haben, von großem innovativen Wert. Also, um auf Ihre vorletzte Frage zurückzukommen: Auch wenn wir uns mehr fokussieren, wird ein Arbeiten außerhalb des Fokus möglich sein. Unsere Forscher sind jung, das Durchschnittsalter am LIH liegt bei 36 Jahren. Ich finde es gut und für die Forscher sehr bereichernd, dass sie diese Freiheit nutzen.
Was bedeutet dann, sich mehr auf den Patienten zu orientieren?
Das ist nicht nur etwas, was wir uns vorgenommen haben. Es wird jetzt überhaupt machbar. Man nennt das Translationale Medizin, „from bed to bench to bed“.
Das heißt, ein Patient liegt im Krankenhaus, an ihm wird eine Diagnose gestellt und ein Forschungslabor analysiert sie weiter und empfiehlt eine Behandlung?
So ungefähr. Patientendaten werden immer wirksamer und dezidierter verwendbar. Man kann einem Patienten eine Hautzelle entnehmen und sie in erkranktes Gewebe differenzieren lassen. Daraus lässt sich ein Patientenmodell aufstellen, das bestimmte Charakteristika der Krankheit nachbildet. Dieses Modell wird dann anwendbar. Der kritische Punkt ist, das, was der Patient braucht, in das Modell hineinzubekommen. Wie man anschließend vom Modell wieder in die Klinik kommt, also zur Behandlung, ist weniger schwierig. Wir wollen den Gesamtkreislauf solcher Bed-Bench-Bed-Zyklen abbilden.
Funktioniert so etwas in der Praxis schon?
Mit französischen und deutschen Partnern arbeiten wir daran. Man kann mittlerweile vom Patientenmaterial – also von Gewebe- und Blutproben – ausgehend in Krebsformen einen Behandlungsvorschlag machen. Gibt es keine anderen Behandlungsstandards, die für den Patient zutreffen, kann der Arzt den Vorschlag annehmen. Das ist mittlerweile machbar. Es muss natürlich in einen gesamt-klinischen Verbund eingebettet werden, aber rein technisch geht das.
Ich frage das auch, weil „Translationale Medizin“ schon vor zehn Jahren am CRP-Santé, dem Vorläufer des LIH, Programm sein sollte. Aber es musste wohl erst ein Weg zurückgelegt werden.
Berechtigte Frage! In den Biotechnologien wurden enorme Fortschritte gemacht, aber bei weitem nicht alle Erwartungen, die dadurch geweckt wurden, haben sich erfüllen lassen. Das Potenzial der Genomsequenzierung auszuschöpfen, gelingt erst jetzt nach und nach. Möglich ist das durch Künstliche Intelligenz, durch Neural Network Computation, die den Vergleich riesiger Datensätze erlaubt. Aber auch Verfahren wie die Nutzung patientenbasierter Stammzellen oder Crispr/Cas, womit sich Gene editieren lassen, sorgen für Durchbrüche. Wir können jetzt die Translation zum Patienten mit höheren Erfolgschancen vornehmen. Natürlich müssen wir auch in der Lage sein, die Patienten mitzunehmen. Aber ich denke, dass die Ergebnisse das rechtfertigen.
Sie meinen, die Bevölkerung könnte die neuen Methoden skeptisch sehen?
Ich weiß es nicht. In Luxemburg vielleicht weniger. In den Nachbarländern gibt es in bestimmten Kreisen eine gewisse Skepsis gegenüber der Anwendbarkeit der neuen Methoden. Seit ein paar Jahren finden Paradigmenwechsel statt: Wir können die Patienten mehr in die Forschung einbinden. Man ist nicht mehr so angewiesen auf Tiermodelle, wo man zunächst versuchte, eine Krankheit in einem Tiermodell zu reproduzieren, sie dann im Tier zu heilen, aber das anschließend in klinischen Phasen im Menschen oft nicht so funktionierte.
Jetzt wird der Mensch mehr und mehr selber zum Versuchstier?
Nein. Es geht darum, klinische Daten von Patienten mit Forschungsdaten zusammenzuführen und daraus Modelle zu bilden. Wenn Forschungsinstitute und Krankenhäuser übereinkommen könnten, das in bestimmten Richtungen zu tun und Patientendaten gezielt zu erheben, dann wäre sehr viel möglich. In den letzten Jahren wurden schon beachtliche Ergebnisse erzielt. Nicht nur in der Krebsbehandlung, wo sich die Überlebensraten erhöht haben, sondern zum Beispiel auch in der Behandlung von Infektionen. Am LIH wollen wir uns in der Translation zunächst auf Darmkrebs und auf Glioblastome, besonders aggressive bösartige Hirntumore, fokussieren. Dazu wollen wir – das ist ein wesentlicher Punkt der neuen Strategie – ein Personal Profiling von Patienten erstellen und plausible Fallstudien schaffen. Ist das erfolgreich, werden wir uns auch anderen Krebsarten zuwenden.
Ist Luxemburg für so etwas groß genug? Die vier Krankenhaus-Gruppen haben zusammen 2 500 Betten. Das ist so viel wie eine mittelgroße deutsche oder französische Universitätsklinik. Die Luxemburger Krankenhauslandschaft ist ziemlich fragmentiert. Und das LIH arbeitet vor allem mit dem CHL zusammen, das nur 500 Betten hat.
Ich nehme diese Landschaft nicht so fragmentiert wahr. Das LIH kommt aus dem CHL, das CHL hat ein Forschungsinteresse und die Zusammenarbeit mit ihm ist eng. Aber in der Krebsforschung arbeiten wir auch mit den anderen Kliniken zusammen und ich sehe da viel Offenheit. Gemeinsam müssen wir mehr tun als eine Uniklinik im Ausland tun kann. Das kann gelingen, denn eine koordinierte Strategie aufzubauen, die sich über eine längere Zeit innerhalb einer bestimmten Krankheit bewegt, ist an Universitätskliniken extrem schwierig. Gerade in Deutschland und Frankreich. Weil Luxemburg kleiner ist, besteht die Chance, die verschiedenen Akteure in einem „Team Luxemburg“ zusammenzubringen. Darin liegt unsere potenzielle Stärke.
Aber können selbst aus allen Krankenhäusern zusammengenommen für diese Forschungen genug Patienten kommen?
In einigen Fällen schon, aber nicht in allen. Glioblastome zum Beispiel sind relativ selten. Doch das LIH arbeitet auch mit Krankenhäusern im nahen Ausland zusammen, in Heidelberg und Mannheim, in Straßburg und demnächst vielleicht auch in Freiburg. Wir haben standardisierte Verfahren entwickelt, die sich für Patienten aus dem Ausland ebenfalls eignen. Das konnten wir tun, weil wir in bestimmte Technologien investiert haben, in denen wir nun führend sind und eine gewisse Anziehungskraft haben. Das sollte natürlich so bleiben.
Das heißt, Sie möchten eine Plattform für die Großregion schaffen?
Das wäre ideal! Von der Qualität der technischen Ausstattung, der Qualifikation des Personals her und eben wegen dieser Fähigkeit, ein fokussiertes Forschungsprogramm aufzustellen, könnten wir auch benachbarte Zentren einbeziehen. Wir arbeiten daran.
In der Biomedizin-Forschung ist auch die Uni Luxemburg sehr aktiv. Gibt es mit ihr eine Art Arbeitsteilung?
Wir sprechen intensiv miteinander. Das LIH kommt, wie gesagt, aus dem CHL, ist daher naturgemäß näher an den Krankenhäusern. Wir können ohnehin nur auf einer begrenzten Zahl von Krankheiten arbeiten und müssen uns fokussieren, um international konkurrenzfähig zu sein. In Fragen von Langfrist-Bedeutung, dem „Wo geht es hin?“, soll die Uni mit dem Luxembourg Centre for Systems Biomedicine und mit ihrer Forschungseinheit Life Sciences die Vorreiterrolle haben. Während das LIH sich darauf konzentrieren soll, wie Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung tatsächlich angewandt werden können – sowohl solche aus unserer Grundlagenforschung wie auch die aus der Uni.
Würde eine stärker auf den Patienten bezogene Forschung auf dieselbe Weise finanziert wie die LIH-Forschung heute?
Wir werden eine zusätzliche Finanzierung brauchen. Wir werden nicht unsere Grundlagenforschungsmittel in die Anwendung stecken, sondern was wir zusätzlich erhalten. Aus Grundlagenforschung gewinnt man Erkenntnisse und publiziert sie. Zielgerichtete Forschung, die von der Klinik zum Patienten führt, kann wiederum die Grundlagenforschung bereichern, weil sie neue Fragen aufwirft, die zu neuen Hypothesen führen. Aber hinzu kommt: Aus diesen Anwendungen lassen sich Therapien ableiten, daraus kann man einen Wert schaffen. Das ist ein neues Moment. Was technologisch in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und so weiter möglich ist, und nun auch in Luxemburg und vielleicht sogar noch besser hier, wird in Zukunft nicht mehr den entscheidenden Unterschied machen. Sondern, wie es gelingt, diese Verfahren in Bed-Bench-Bed-Pfade zu integrieren. Hat man so eine Anwendung zum Ziel, können auch öffentliche Risikofonds wichtig werden, wie etwa mit BPI France einer besteht. Forschung wird dann mit dem Ziel finanziert, dass ein Teil der bereitgestellten Mittel wieder zurückfließen soll.
Wäre das institutionell gesehen noch immer eine öffentliche Finanzierung oder denkt man da an Wertschöpfung und for-profit?
Ich meine schon, dass diese Art der Finanzierung öffentlich sein sollte, aber sie wäre retro-geplant, zielgerichteter, und die Ausgaben würden zum Teil refinanziert. Wie zum Beispiel bei BPI France. Da wir nun in einer Epoche wachsender Anwendbarkeit leben, sollte man diesen Weg gehen. Sie hatten zu Beginn die US-amerikanischen NIH erwähnt. Ihre Zuwendungen aus dem US-Bundeshaushalt stehen unter Druck, seit Donald Trump Präsident ist. In den EU-Ländern ist die Situation oft ebenfalls nicht günstig. Eine konkurrenzfähige Positio-
nierung der Forschung wird künftig aber auch stark davon abhängen, wie sie finanziert wird.