Am Abend des 15. Juli 2005 wird in Düdelingen die drei Jahre alte Stéphanie D. von einem Auto angefahren, als sie zwischen zwei geparkten Fahrzeugen plötzlich auf die Straße läuft. Das kleine Mädchen erleidet Schädelverletzungen und wird im Notarztwagen ins Centre hospitalier de Luxembourg gebracht. Im CHL wird festgestellt, dass Stéphanie offenbar nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt. Doch weil ihr Gehirn verletzt sein könnte, was weitere Untersuchungen noch genauer klären müssen, wird sie auf der Intensivstation in ein künstliches Koma versetzt. Das soll das Mädchen stabilisieren und weitere Schädigungen am Hirn ausschließen.
Zum Einsatz kommt dabei das Betäubungsmittel Diprivan mit dem Wirkstoff Propofol. Für so genannte Langzeit-Sedierungen wird Propofol auf Intensivstationen seit den Achtzigerjahren häufig eingesetzt. Denn es hat unter anderem den Vorzug, dass der Patient nahezu in Sekundenschnelle wiedererweckt werden kann. Stéphanie D. jedoch verstirbt fünf Tage später; auch eine Not-Überstellung in die Kinderklinik des Brüsseler Universitätskrankenhauses Saint-Luc vermag sie nicht mehr zu retten.
Nach Ansicht von Gerichtsgutachtern und der Luxemburger Staatsanwaltschaft liegt die Todesursache nicht in den Verletzungen durch den Unfall. Vielmehr habe die mehr als drei Tage lange Verabreichung von Diprivan ein Propofol-Infusionssyndrom (Pris) verursacht, das nach und nach den Organismus zusammenbrechen lässt. Seit dem 24. Ja-nuar stehen sechs Ärzte und sechs Krankenpfleger vor dem Bezirksgericht in Luxemburg-Stadt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen fahrlässige Tötung vor. Sie argumentiert, die Ärzte hätten die mit Propofol verbundenen Risiken kennen müssen, und zu klären bleibt, ob sie vielleicht ein anderes Medikament hätten anwenden beziehungsweise ihre Patientin öfter auf einsetzende Komplikationen hin kontrollieren müssen. Zumal der Beipackzettel zu Diprivan schon Monate vor der Einlieferung des kleinen Mädchens ins CHL eine wichtige Änderung enthielt: Der Hersteller, Astra Zeneca, rät seitdem von der Anwendung des Betäubungsmittels an unter 17-Jährigen ab.
Der Prozess, der die 13. Strafkammer des Luxemburger Bezirksgerichts unter Vorsitz von Richterin Sylvie Conter noch bis weit in den nächsten Monat hinein beschäftigen dürfte, wirft jedoch viele komplexe Fragen auf. Sie reichen hinaus über die, inwiefern die sechs Ärzte sich eines Behandlungsfehlers schuldig machten, und ob die Krankenpflegerinnen mithaften müssen, weil sie die Diprivan-Dosis noch erhöht haben sollen, um die Ruhigstellung des Mädchens zu gewährleisten. Eigentlich steht der moderne Medizin- und Krankenhausbetrieb insgesamt auf dem Prüfstand – und mit ihm das, was der Bürger und Patient davon erwarten kann.
Zum Beispiel könnte man an Artikel 37 des Krankenhaus-Rahmengesetzes vom 28.8.1998 erinnern. Der erklärt eine Behandlung, die den „données acquises par la science“ entspricht, zu einem Patientenrecht, und zwar „en toutes circonstances“. Das ist eine weit reichende Vorschrift, denn sie setzt das Krankenhaus mit all seinen Akteuren, im Grunde aber das gesamte Gesundheitssystem einer Verpflichtung zum Resultat aus.
Zählten im Juli 2005 die Risiken des Propofol-Infusionssyndroms zu den „données acquises par la science“? Man könnte es annehmen. Im British Medical Journal, einer der wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften, waren schon 1992 die ersten Pris-Fälle mit tödlichem Ausgang bei fünf Kindern auf Intensivstationen beschrieben worden. Und als im Oktober 2009 in der Zeitschrift Critical Care die bis dahin größte Studie über Risiken von Propofol-Behandlungen veröffentlicht wurde, an der elf US-amerikanische Universitätskliniken beteiligt waren, handelte es sich dabei zwar um eine Studie an Erwachsenen. Sie erwähnte jedoch 55 weitere Publikationen, unter denen elf waren, die sich ausdrücklich auf Kinder bezogen und zwischen 1992 und 2004 erschienen. Bei der Verhandlung am Dienstag dieser Woche wies auch die vorsitzende Richterin darauf hin: „Wir haben von Experten gehört, dass es bereits Ende der Neunzigerjahre Probleme mit Propofol gab.“
Bedeutet das aber, dass die beschuldigten Ärzte von den Pris-Risiken hätten wissen müssen, weil das dem Stand der Wissenschaft entsprach? Manche der sechs Ärzte gaben gegenüber den Ermittlern der Kriminalpolizei an, von Pris gewusst zu haben, die anderen Mediziner verneinen das. Der Gutachter Philippe Hantson von der Freien Universität Brüssel teilte dem Gericht mit, die Wissenschaft gehe erst „neuerdings“ davon aus, dass Propofol zur Langzeit-Sedierung von unter 15-Jährigen „kontraindiziert“ ist. Studien von 1998 und 2001 hätten zwar Pris beschrieben, doch die kausale Verbindung zu Propofol nicht wirklich geklärt.
Hätte von Krankenhausmedizinern erwartet werden können, dass sie Vorsicht walten lassen, falls sie von offenen Fragen gehört hätten, die die klinische Forschung vor fünfeinhalb Jahren noch nicht erschöpfend beantwortet hatte? Oder hätte es nicht schon gereicht, die neuen Empfehlungen des Herstellers zur Verabreichung von Diprivan zu kennen?
Anscheinend erhielt der Diprivan-Hersteller Astra Zeneca um die Jahrtausendwende Kenntnis von Problemen bei der Langzeit-Sedierung von Kindern mit Propofol. Von 317 in ein künstliches Koma versetzten Kindern kam es bei mit Propofol behandelten zu einer höheren Todesrate als bei denen, die ein anderes Betäubungsmittel erhielten. Zwar soll auch damals die Kausalverbindung zwischen einem potenziell lebensgefährlichen Pris-Syndrom und Propofol nicht ganz klar gewesen sein. Doch Astra Zeneca entschied nach dem Vorsorgeprinzip, die Verwendung bei unter 17-Jährigen nicht mehr zu empfehlen. Zuvor hatte man es lediglich für unter Dreijährige, die an schweren viralen Atemwegsinfektionen litten, als ungeeignet erklärt.
In Belgien, wo Astra Zeneca seinen Sitz hat, wurde Diprivan im Februar 2004 neu zugelassen – und damit auch ein neuer Beipackzettel mit der Kontraindikation für Kinder unter 17. Die Zulassung erfolgte jedoch zu spät, um die wichtige Information noch in die Ausgabe 2004 des belgischen Pharma-Kompendiums aufnehmen zu können, das sozusagen die Packungsbeilagen aller im Nachbarland gehandelten Medikamente enthält. Sie tauchte erst in Ausgabe 2005 auf. Da die Luxemburger Spitäler weit über 90 Prozent ihrer Medikamente aus Belgien beziehen, ist das Kompendium „das Referenzwerk“, wie die seinerzeit verantwortliche Chef-Apothekerin des CHL am Dienstag im Zeugenstand erklärte. Allerdings: Mitte Juli 2005 lag im CHL nur die Ausgabe 2004 des Referenzwerks vor. Was anscheinend nicht ungewöhnlich war. Doch als die Stéphanie D. behandelnden Ärzte Diprivan im Kompendium nachschlugen – und das taten sie –, konnten sie darin zwangsläufig nichts von geänderten Verabreichungsempfehlungen finden.
Oder hätten sie die Packungsbeilagen der Diprivan-Schachteln lesen sollen? Denkbar wäre das natürlich. Doch weil jeder das Kompendium für die Referenz hält, lese niemand Packungsbeilagen, so die CHL-Apothekerin. Ausländische Gutachter hatten dem Gericht ebenfalls erklärt, diese Notizen systematisch zu lesen, könne man von einem Klinikarzt nicht erwarten. Verteidiger der sechs Ärzte stellten eine Rechnung auf, nach der ein Arzt auf der Intensivstation im CHL pro Achtstundenschicht eine Stunde verliere, wollte er die Packungsbeilagen sämtlicher Medikamente lesen, die er verschreibt. Das ergäbe fast 1 100 Stunden im Jahr.
Sollte ein Krankenhauspatient, dem das Gesetz unter allen Umständen ein Recht auf eine Behandlung nach dem etablierten Stand der Wissenschaft zuerkennt, nicht aber ebenso erwarten dürfen, dass ihm eine Arznei unter allen Umständen gemäß den aktuellen Darreichungsempfehlungen gegeben wird – Klinikroutine hin oder her?
Man möchte das eigentlich meinen. Heute sind dafür offenbar schon die technischen Voraussetzungen günstiger als vor sieben Jahren: Das belgische Arzneimittel-Kompendium wird nicht mehr einmal jährlich, sondern alle drei Tage aktualisiert; dem informatischen Fortschritt sei Dank. Mit Blick auf den Sommer 2005 aber könnte man die Frage stellen, ob die so wichtige Information über die Verabreichung von Diprivan nicht vielleicht auf anderem Weg zu den Ärzten hätte gelangen können – vielleicht sogar hätte gelangen müssen.
Denn auch in der CHL-Krankenhausapotheke wusste niemand von den Kontraindikationen und dem geänderten Beipackzettel; die Zettel wurden generell nur gelesen, wenn eine konkrete Anfrage eines Arztes zu einem Medikament vorlag. Die Stéphanie D. behandelnden Mediziner aber vertrauten dem „Referenzwerk“. Ebenso die Apotheker; mochte das Kompendium auch „Verspätung“ haben. Ihrer Ansicht nach, meinte die frühere CHL-Apothekenchefin, hätte der Hersteller deutlicher auf die Risiken und Gegenanzeigen von Diprivan hinweisen müssen.
Ein als Zeuge geladener leitender Mitarbeiter von Astra Zeneca hatte einen Einwand in diese Richtung vergangene Woche vor Gericht von sich gewiesen: Man habe die zuständigen Behörden informiert und damit seine Pflicht erfüllt. Wäre es also nicht am Hersteller, sondern an der Luxemburger Behörde, der Pharma-Division der Gesundheitsdirektion im Gesundheitsministerium, gewesen, gezielter über Risiken, Nebenwirkungen und neue Kontraindikationen von Diprivan zu informieren? Etwa, als Astra Zeneca im Oktober 2004 für das Betäubungsmittel die Verlängerung der Luxemburger Marktzulassung beantragte?
Vielleicht. Denn während der Befragung des Astra-Zeneca-Managers kam zur Sprache, dass der Pharma-Hersteller im Herbst 2004 in Luxemburg für Diprivan eine Marktverlängerung vom „Typ II“ beantragt hatte. Von Belang ist das deshalb, weil die Luxemburger Gesetzgebung zu diesem Moment keine Typen-Unterschiede bei der Zulassung vorsah. Man wandte die gegenseitige Anerkennung von Medikamentenzulassungen an: Erhält eine Arznei in einem anderen anderen EU-Staat grünes Licht, wird dies für Luxemburg übernommen und das Medikament kann hierzulande in der im Staat der Ursprungszulassung üblichen Packung gehandelt werden; Beipackzettel inklusive. So war auch Diprivan auf den Luxemburger Markt gelangt.
Allerdings war im Oktober 2004 schon seit über einem Jahr eine neue EU-Verordnung über die Medikamentenzulassung wirksam. Verordnung 1084/2003 CE überstieg nationales Recht, und sie unterscheidet nach Zulassungstypen. Typ II ist demnach eine „modification d’importance majeure“. Für die damit verbundene Prozedur wird vorgeschrieben, dass die Behörden aller Staaten, in denen eine Typ-II-Zulassung beantragt wird, die Behörde des „État membre de référence“ – für Diprivan Belgien – zu konsultieren haben. Schon denkbar, dass dabei hätte auffallen müssen, welche verschärften Anwendungsempfehlungen der Diprivan-Hersteller nun machte, und dass daraus hätte geschlossen werden können, das heimische Gesundheitswesen gehöre ganz gezielt aufgeklärt.
Wie die Behörden-Konsultation mit Belgien verlief, gehört zu den spannenden Fragen, die vor Gericht noch behandelt werden. Aber vielleicht verließen die Zuständigen in der Pharma-Division sich ja darauf, dass die Packungsbeilagen gelesen würden. Ganz ähnlich, wie im CHL niemand auf den Gedanken kam, den Inhalt des belgischen Arzneimittelverzeichnisses in Zweifel zu ziehen. Vielleicht hat das Gesundheitssystem, das den Patienten so viel Qualität und Sicherheit verspricht, im Fall von Stéphanie D. im Grunde sogar an mehreren Stellen versagt.