„Nein, vom Referendum habe ich nichts mitbekommen“, sagt Jennie G. entschuldigend hinter der Ladentheke. Die junge Frau ist Verkäuferin im „Scanshop“ in Neudorf und seit drei Jahren in Luxemburg. Eine Meinung zur Volksabstimmung am 7. Juni hat sie dennoch: „Es wäre toll, wenn Einwohner, die länger in Luxemburg leben, wählen könnten. Schon aus demokratischen Gründen“, findet sie. Nach Luxemburg kam die Schwedin, wie viele ihre Landsfrauen, wegen ihres Partners. „Er arbeitet in einer Bank.“ Wie lange sie bleiben wird, weiß Jennie nicht. Luxemburg gefällt ihr. Sollten sie und ihr Freund sich dauerhaft niederlassen, will sie ihr Kind – das sie noch nicht hat – in eine öffentliche Luxemburger Schule schicken. „Da integriert es sich besser“, ist sie überzeugt.
Iben W. aus Dänemark hat genau das getan. Die Mutter eines sechsjährigen Sohns und einer zehnjährigen Tochter sitzt am weiß gedeckten Tisch in der Ecke des Ladens, die zu einem Restaurant umfunktioniert wurde, und schaut ihren Kindern beim Essen zu. Es gibt knallrote Varmkorv, das sind schwedische Hotdogs. Mit viel Ketchup. Iben spricht sich ebenfalls für das Wahlrecht aus. Anders als Jennie hat Iben viel davon gehört. Sie wohnt mit ihrer Familie in Mamer, wo ihre Kinder in die örtliche Schule gehen. Das Referendum ist Gesprächsthema bei Luxemburger und bei zugewanderten Eltern gleichermaßen. Iben betont, sie gehöre nicht zu den „Expats“. Das seien Ausländer, die für ein paar Jahre ins Land kämen, ihre Kinder in die Europaschule gäben und dann weiterzögen. Es ärgert sie, dass das Klischee vom desinteressierten Ausländer in der Debatte immer wieder auftaucht – obschon laut Ilres fast 80 Prozent der Ausländer ein Einwohner-Wahlrecht begrüßen. „Wir haben uns entschieden, hier zu bleiben“, betont die gelernte Ernährungsberaterin. „Selbstverständlich interessiere ich mich für Politik. Ich lebe hier, ich möchte mich einbringen und politische Entscheidungen betreffen auch mich.“ Im Moment kümmert sich Iben um die Kinder, sie würde aber gerne wieder arbeiten: „Dazu muss ich Französisch oder Luxemburgisch können“, sieht sie ein.
Dass Luxemburger sich Sorgen um ihre Sprache machen, wenn das Wahlrecht für Einwohner kommen sollte, kann die Schwedin Kerstin L. nachvollziehen: „Echte Integration bedeutet, die Sprache des Landes zu sprechen“, findet die brünette Bankangestellte, die sich mit Arbeitskolleginnen im Scanshop zum Mittagessen verabredet hat. Eine spätere Annahme der Nationalität schließt die Tochter einer englischen Mutter und eines schwedischen Vaters für sich nicht aus: „Wer sich dauerhaft in einem fremden Land niederlässt, da gehören die Landessprache und die Nationalität dazu“, findet sie. Einer 2013 vom Statec veröffentlichten Studie zufolge spricht jeder dritte Ausländer Luxemburgisch im Alltag, bei hier lebenden Deutschen, Niederländern und Montenegrinern soll es sogar jeder zweite sein. Sogar von den Franzosen, denen in Luxemburg oft eine unflexible Haltung in punkto Sprachen vorgeworfen wird, soll immerhin ein Viertel Luxemburgisch beherrschen.
Jennie G. jedenfalls hält die Sprachensituation für eine große Herausforderung: „In Schweden lernen wir Englisch in der Schule. Als ich hier ankam, wusste ich nicht, welche Sprache ich lernen sollte. Grundsätzlich bin ich der Meinung, sollte man die Sprache des Landes können. Aber weil in den Supermärkten überwiegend Französisch gesprochen wird, habe ich mich für Französisch entschieden.“
Anders P. hat das Problem nicht: Der schlaksige Däne ist in Luxemburg aufgewachsen. Als kleiner Junge kam er vor 20 Jahren ins Großherzogtum, weil sein Vater eine Anstellung bei einer großen Firma hatte. Wie viele seiner Landsleute ging er zunächst in einen Kindergarten der Europaschule. Danach aber war der Andrang auf die Grundschule so groß, dass er in die öffentliche Schule wechseln musste, denn in der Europaschule haben Kinder von Angestellten der EU-Institutionen Vorrang. „Ein Glück“, sagt er heute im perfekten Luxemburgisch und schiebt sich grinsend die Baseballmütze aus dem Gesicht. Dass Einwohner, die mehr als zehn Jahre Jahre im Land leben, wählen können sollen, findet Anders gut. Aber er kann auch die Bedenken vieler Luxemburger verstehen, die sich sorgen, ihr Land könnte sich durch ein Wahlrecht für Einwohner zu schnell zu stark verändern. „Es gibt sie ja, die Ausländer, die hier seit vielen Jahren leben und dennoch nichts vom Land mitbekommen.“ Ein italienischer Freund arbeitet beim Europäischen Parlament wie schon zuvor sein Vater. Er und seine dänische Frau besitzen ein Haus im Mühlenbach, doch weder er noch seine Kinder sprechen Luxemburgisch, sondern Dänisch, Englisch und Italienisch. „Sie leben in ihrer eigenen europäischen Blase, von Luxemburg bekommen sie nicht viel mit.“
Für sie, die Heimweh bekommen oder auf liebgewonnene Gewohnheiten nicht verzichten wollen, ist der Scanshop eine beliebte Adresse: Hier kaufen Schweden ihre fleischigen Kötbullar, Finnen ihre knusprigen Reissumies, Isländer getrockneten Fisch zum Knabbern, Norweger ihren gesunden Tran-Saft oder – weniger gesund – den Linie Aquavit und Dänen ihr Ryebread und Leverpostej. Und plauschen angeregt in ihrer Sprache. Insbesondere Skandinavier, die gegenüber bei der Bank Nordea angestellt sind, kommen oft zum Mittagessen.
Nicht wenigen von ihnen, erzählt Kerstin L., ergehe es dabei wie Claire T. Die Britin kam vor gut 13 Jahren für einen Job nach Luxemburg. Hier lernte sie ihren Mann, einen Isländer, kennen und lebt nun seit elf Jahren mit ihm und ihren zwei Kindern in Luxemburg-Stadt. Hin und wieder trifft man sie im „Scanshop“ oder im „Little Britain“, ein Supermarkt in Capellen, der sich auf britische Produkte spezialisiert hat. Das Referendum ist für Claire ein Riesending: „Alle meine Freunde diskutieren darüber“, erzählt sie begeistert. Claire findet es richtig, dass langjährige Einwohner wählen können sollen: „Wir zahlen Steuern hier, wir leben hier, unsere Kinder gehen hier zur Schule. Darum möchten wir mitentscheiden, wie der Staat unser Geld ausgibt“, sagt sie. Ihr Mann ist etwas zurückhaltender: „Eigentlich müsste es dasselbe Recht dann auch für Luxemburger im Ausland geben“, wendet er ein. Claire fällt ihm ins Wort: „Das kannst du nicht vergleichen. Luxemburg hat deutlich mehr Zuwanderer als Großbritannien.“ Auf der Insel liegt der Ausländeranteil bei 7,7 Prozent, in Luxemburg bei 46 Prozent.
Verständnis für die schwierige Entscheidung, die die Luxemburger am 7. Juni zu treffen haben, zeigen indes die meisten Befragten. In einem verrauchten Café in der Hauptstadt, das von Albanern und Portugiesen besucht wird, entzündet sich eine Diskussion: „Das ist eine berechtigte Sorge“, meint Dmitri S. nickend. „Ich weiß nicht, wie ich in dem Fall abstimmen würde. Andererseits lebe ich seit 22 Jahren in Luxemburg und wäre längst Luxemburger geworden, wenn ich dafür nicht wieder in den Unterricht müsste“, gibt der Arbeiter zu. Luxemburgisch zu lernen sei für ihn keine Option: „Auf der Baustelle wird entweder Portugiesisch oder Französisch gesprochen, also habe ich Französisch gelernt, um mich zu verständigen.“ Dmitri wurmt, dass er noch immer nicht die Staatsangehörigkeit hat: „Ich habe mich zweimal beworben, aber ich habe einfach keine Zeit, um Sprachkurse zu besuchen, und mein Luxemburgisch ist zu schlecht.“
Ein anderer Kollege, Zlato S., wirft aufgebracht ein: „Wie der Staat den Zugang zur Nationalität regelt, ist einfach Quatsch. Meine Kinder sind hier geboren. Trotzdem bekommen sie die luxemburgische Staatsangehörigkeit nicht automatisch. Das ist in Frankreich anders. Hier muss man zu den Behörden gehen, die tausend Papiere verlangen, und am Ende bekommt man die Staatsangehörigkeit aber nicht“, ärgert er sich und nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Auch die Regelung, dass ausländische Ehepartner, die einen Luxemburger heiraten, nicht automatisch die Staatsangehörigkeit erhalten, findet er „komplett daneben“.
Ob Zlato und seine Kollegen die Nationalität als Voraussetzung für das Wahlrecht sehen? „Nein“, sagt Zlato und schüttelt energisch den Kopf. Dafür seien die Ausländer in Luxemburg zu unterschiedlich. „Manche kommen aus Ländern, die keine doppelte Staatsangehörigkeit erlauben. Andere wollen die Staatsangehörigkeit nicht aufgeben, weil sie oft das einzige ist, das ihnen als Verbindung zur alten Heimat noch bleibt.“ Ob er bereit wäre, die Luxemburger Nationalität anzunehmen? „Ja“, bekräftigt Zlato. „Ich habe einen Antrag gestellt.“ Sein serbischer Sitznachbar hat seit vier Jahren einen Luxemburger Pass: „Ich werde dafür stimmen, dass Leute, die mehr als zehn Jahre im Land leben, wählen können“, unterstreicht er. Dann, so ist seine Hoffnung, „nehmen die Politiker vielleicht unsere Sorgen wahr. Auf uns hört ja sonst keiner.“
Frust über tiefe Gräben zwischen Luxemburgern und Zugezogenen tauchen in den Diskussionen immer wieder auf. „Am Anfang scheint Luxemburg mit seiner Mehrsprachigkeit so weltoffen. Aber wer die Luxemburger näher kennenlernt, weiß: Viele bleiben lieber unter sich“, hat die Dänin Iben W. beobachtet. „Wir Ausländer halten uns auch viel mit unseresgleichen auf“, sagt hingegen Zlato S. selbstkritisch. Ein Wahlrecht für Einwohner könnte das verändern, ist der Albane überzeugt: „Die politischen Themen sind für uns dieselben: Wohnung, Schule, Verkehr...“ Er selbst wählt schon lange nicht mehr im Kosovo.
Luis N. ist sich da nicht so sicher. Der 50-Jährige sitzt an diesem Mittag mit Freunden in einem Café in Düdelingen. Im Fernsehen läuft Fußball, er hebt die Stimme, um im Lärm Gehör zu finden: „Im Parlament sitzen keine Arbeiter und kaum Leute aus der Mittelschicht. Die Politiker vertreten unsere Interessen nicht.“ Der Portugiese lebt seit 23 Jahren in Luxemburg, davon elf Jahre in Düdelingen. Die Arbeit führte ihn als jungen Mann nach Luxemburg. Mittlerweile ist er verheiratet, hat ein Haus und fünf Kinder, die in Düdelingen und Umgebung zur Schule gehen „und alle Luxemburgisch sprechen“, wie Luis stolz betont. Er selbst verstehe Luxemburgisch gut, hat sich aber wie viele seiner Kollegen dafür entschieden, Französisch zu lernen. Und danach keine Zeit mehr gefunden, Luxemburgisch nachzuholen. Er beklagt sich, dass Luxemburgisch-Kenntnisse Voraussetzung für die Staatsangehörigkeit sind: „Ich lebe schon so lange hier, aber ich kann nicht noch eine Sprache lernen.“ Luis wünscht sich das Wahlrecht für Einwohner, um endlich ein Wort in der Politik mitzureden. Er ist einer von rund 24 000 Einwohnern, die sich 2011 in die Wählerlisten für die Gemeindewahlen eingetragen hatten. Landesweit waren damals rund 190 000 Ausländer wahlberechtigt. Bei einem Einwohnerwahlrecht wären es Schätzungen des Statec zufolge rund 109 000 Nicht-Luxemburger.
„In unserer Gemeinde läuft vieles schief“, erzählt Luis: Sein Haus, das er ausgebaut hat, sei von der Gemeinde als Einfamilienhaus klassiert worden. „Dabei hat es 300 Quadratmeter und es leben zwei Familien im Haus.“ Er reklamierte, vergeblich. Fünf Jahre später wurde es dann doch als Zweifamilienhaus zugelassen. „Die Genehmigung gab derselbe Techniker, der zuvor darauf bestanden hatte, es sei ein Einfamilienhaus.“ Es komme öfters vor, sagt Luis empört, dass Portugiesen bei der Vergabe von Genehmigungen benachteiligt würden. Seine Tischnachbarn nicken stumm. „Eigentlich müsste auch auf Gemeindeebene die Mandatsdauer auf zehn Jahre begrenzt werden. Damit die Personen wechseln. Hier gibt es zu viel Filz“, findet Luis, der den Politikern verwirft, die Mittelschicht zu vergessen. „Die Sparmaßnahmen treffen uns am härtesten.“ Deshalb sei das Wahlrecht wichtig, „für Luxemburger und für Ausländer. Es stärkt die, die nicht beim Staat arbeiten.“ Sollten die Luxemburger mit Ja stimmen, werde er sich in die Wählerlisten eintragen. Dass das geschehen wird, bezweifelt Luis jedoch: „Die Mehrheit der Luxemburger hat zu viel Angst, etwas zu verlieren“, sagt er skeptisch.