Als Vorsitzender einer schwer zu überblickenden Reihe von Firmen in den Bereichen der Vermögensverwaltung, Anlagenberatung und Internetwirtschaft ist Norbert Becker einer der zeitgenössischen Helden des Luxemburger Kapitalismus. Doch statt sich als Abenteurer des globalisierten Wettkampfs zu inszenieren, wie Gérard Lopez oder andere junge und dynamische Männer der Branche, ist er diskret in der Demokratischen Partei aktiv, Präsident des Lëtzebuerger Journal und berät Premier Xavier Bettel.
Vergangene Woche machte Norbert Becker einen Aufruf unter Gleichgesinnten, um 50 000 Euro zu sammeln, mit denen eine Unterschriftensammlung zugunsten des Ausländerwahlrechts und damit auch der Regierung veröffentlicht werden soll. Angesichts des laut Meinungsumfragen immer unsichereren Ausgangs des Referendums vom 7. Juni soll noch wenige Tage vor der Entscheidung versucht werden, das Rad herumzureißen und die Wähler zu überzeugen, mit Ja zu stimmen.
1992 hatte der Maastrichter Vertrag Luxemburg das Ausländerwahlrecht bei Gemeindewahlen aufgezwungen, wobei die Regierung allerlei noch bis vor kurzem gültige Ausnahmeregelungen ausgehandelt hatte. Die Beteiligung von Nicht-Luxemburgern an Kammerwahlen galt dagegen lange Zeit als Schnapsidee linker Spinner, Ausländervereine und anderer Vaterlandsverräter. Während Jahrezehnten war das Thema für jede ernsthafte Partei oder Organisation tabu. Bis die Handelskammer Anfang 2013 eine Konferenz „Quel droit de vote pour les étrangers au Luxembourg?“ organisierte, zusammen mit der Handwerkskammer und der Association de soutien aux travailleurs immigrés (Asti).
Zwanzig Jahre nach dem Maastrichter Vertrag sollte ein Tabu gebrochen werden, weil die Zeit langsam knapp wurde, um ein Wahlsystem anzupassen, das in den nächsten Jahren zu nicht mehr zu legitimierenden Zuständen wie in manchen Erdöl-Emiraten führte. Dort entscheidet eine kleine wahlberechtigte Minderheit über eine politisch rechtlose eingewanderte Mehrheit. Doch anders als in den Emiraten wäre es hierzulande nur schwer möglich, solche Zustände mit Gewalt aufrechtzuerhaltenden.
Aber in Unternehmerkreisen war zudem die CSV/LSAP-Koalition verhasst, ein ihrer Überzeugung nach unbekehrbarer Jean-Claude Juncker, eine von den Gewerkschaften ferngesteuerte LSAP und ein vom öffentlichen Dienst dominiertes Parlament. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wurden in anderen Ländern drastische Strukturreformen der Lohnfestsetzung, des Arbeitsrechts, der Rentenversicherung, der Steuern und Sozialausgaben durchgezogen. Doch hierzulande drohte die CSV/LSAP-Koalition, diese Chance zu verscherzen. Da zu diesem Zeitpunkt ein baldiges Ende der CSV-Vorherrschaft in der Regierung nicht absehbar war, schien eine Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft eines der Mittel, um den Wahlausgang zu beeinflussen und die wirtschafts- und sozialpolitische Stagnation aufzubrechen. Wobei das Ausländerwahlrecht nicht zuletzt die Gelegenheit bot, wieder alle sozialen und ökonomischen Widersprüche in nationale Fragen umzukehren.
So riefen die Unternehmer scheinbar aus heiterem Himmel am 29. Januar 2013 im Untergeschoss der Handelskammer dazu auf, das Tabu des Ausländerwahlrechts zu brechen, und boten den Arbeitern und Angestellten eine Allianz zur Beteiligung von Ausländern an den Kammerwahlen an. Ihnen ging es zuerst um die Wahlbeteiligung ausländischer Führungskräfte, die in den meisten Betrieben den Ton angeben, aber politisch kaum eine Rolle spielen. Doch die Allianz war nötig, um dem Anliegen eine breitere demokratische Legitimation zu verschaffen. Auch wenn die politischen Ziele, die mit dem Ausländerwahlrecht verfolgt würden, keineswegs deckungsgleich wären.
Denn so lange in der Industriegesellschaft das Bild des Immigranten von den Maurern und Putzfrauen aus Portugal geprägt war, kam niemand auf die Idee, ihnen das legislative Wahlrecht zuzuerkennen. Erst seit der wirtschaftlich dominierende Finanzplatz das Bild des ausländischen Managers und Expats prägt, soll Ausländern das Wahlrecht gewährt werden. Auch wenn das Bild ein wenig eine optische Täuschung ist: Laut Statec (Regards, Mai 2015) wären noch immer 26,2 Prozent der möglichen ausländischen Wähler unqualifizierte Arbeiter, 15,9 Prozent qualifizierte Arbeiter und 23,4 Prozent wenig oder gar nicht qualifizierte Angestellte. 42,1 Prozent der potenziellen ausländischen Wähler hätten einen portugiesischen Pass, stammten also mehrheitlich aus Arbeiterfamilien.
Die von der Handelskammer angebotene Allianz sollte sich nicht nur gegen die als reformunwillig angesehene CSV/LSAP-Koalition richten, sondern auch gegen die dank ihrer Staatsbürgerschaft überproportional in der Wählerschaft vertretenen Beamten des öffentlichen Dienstes, die einen reformfeindliche Einfluss auf Parlament und Regierung ausübten. Implizit richtet sich das Allianzangebot auch gegen die Grenzpendler. Denn wenn in den vergangenen Jahren eine Erwerbstätigengruppe diskriminiert werden sollte, von den Chèques-services bis zu Studienbörsen, dann waren es nicht die Immigranten, sondern die Grenzpendler. Nun könnten die Immigranten eingeladen werden, diese Politik zu unterstützen.
Für die hierzulande wohnenden Arbeiter und Angestellten aus Portugal, Italien oder Frankreich bedeutete das Angebot der Handelskammer eine ungeahnte historische Chance. Statt sich das Wahlrecht zu erkämpfen, könnten sie es als Folge politischen Taktierens geschenkt bekommen – wie es den Frauen 1919 mit dem Wahlrecht ergangen war.
Denn aus Angst, in eine extremistische Ecke gerückt zu werden, betrachteten die Ausländervereine das legislative Ausländerwahlrecht als kurzfristig unrealistische Langzeitforderung. Nicht anders verhielten sich die Gewerkschaften. Der Präsident der Salariatskammer und damalige OGBL-Präsident Jean-Claude Reding fühlte sich auf der Konferenz der Handelskammer überrumpelt und mahnte zu „einer vorsichtigen Herangehensweise“, weil es „sehr schnell zu einer explosiven Lage“ kommen könne. Denn die Xenophobie sei „tiefer verankert, als die Meinungsumfragen vermuten ließen“. Ohne es offen auszusprechen, befürchtete der Gewerkschafter wohl, dass unter den politisch ausschlaggebenden Luxemburgern das Ausländerwahlrecht vor allem ein Anliegen liberaler, europafreundlicher Mittel- und Oberschichten würde. Die sich ökonomisch und kulturell bedroht fühlenden Luxemburger Arbeiter und kleinen Angestellten könnten dagegen das Allianzangebot der Handelskammer ausschlagen und sich zusammen mit den Beamten im Nationalismus verschanzen.
Ziel der Handelskammer war es, so ihr damaliger Direktor und heutiger Finanzminister Pierre Gramegna, zuerst ein Internetforum als „fünf- bis sechsjährige Übergangslösung“ vorzuschlagen, ehe an den damals für 2019 geplanten Kammerwahlen die ersten ausländischen Wähler teilnehmen könnten. Einen Monat nach ihrer Konferenz, am 4. März 2013, stellte sie ihre Initiative 2030.lu – Ambition pour le futur vor, die Stimmung gegen eine Fortsetzung der CSV/LSAP-Koalition machen sollte. In einem Forderungskatalog zu den Wahlen beklagte 2013.lu, dass „environ 70% des travailleurs ne votent pas lors des élections législatives parce qu’ils ne possèdent pas la nationalité luxembourgeoise. Des 30% d’employés de nationalité luxembourgeoise, presque la moitié travaille dans le secteur public. Du côté des électeurs, la moitié est inactive et un quart travaille dans le secteur public. Enfin, seule une très faible proportion des députés est issue du monde des affaires et la diversité de notre main-d’œuvre ne se reflète que de manière marginale dans le monde politique“.Dies hielt die zum gleichen Zweck gegründete Unternehmerlobby 5 vir 12 für ungesund: „Une telle fragmentation attise les sentiments de jalousie, de méfiance et d’incompréhension à l’égard de l’autre. Vu la composition actuelle de l’électorat, la classe politique est contrainte de choisir son camp pour aspirer à une réélection.“
Die Handelskammer stieß auch keineswegs auf taube Ohren, umso mehr als sie eine Meinungsumfrage gekauft hatte, laut der die Zahl der Luxemburger Befürworter des Ausländerwahlrechts von 57 im Jahr 2005 auf 59 Prozent 2013 gestiegen war. Zeitgleich mit ihrer Offensive hatte Wirtschaftsminister Etienne Schneider, der, anders als der zurückhaltende Jean-Claude Reding, zum wirtschaftsliberalen Flügel der LSAP zählt, in einer Fernsehdebatte gemeint, dass „die Leute, die hier arbeiten und wohnen“ auch „hier wählen können“, wenn sie „zwei oder drei Jahre hier sind“, und ohne die ganze Prozedur, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Damit sie „mitentscheiden, was mit dem Geld geschieht, das sie miterwirtschaften“.
Vor allem aber hatte der christlich-soziale Kammerpräsident Laurent Mosar bei der Veranstaltung der Handelskammer im Januar 2013 erklärt, sich „persönlich nicht einer beschränkten Öffnung zu widersetzen“, um bei den Kammerwahlen 2019 Ausländer zu beteiligen „nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer und Sprachkenntnissen“. Und zwei Monate später, am 13. März 2013, schlug CSV-Ausschusspräsident Paul Henri Meyers in der parlamentarischen Kommission der Institutionen und Verfassungsrevision vor, in Artikel 65 der künftigen Verfassung vorzusehen: „Une loi adoptée à la majorité qualifiée peut, dans les conditions qu’elle détermine, accorder la qualité d’électeur à des personnes n’ayant pas la nationalité luxembourgeoise.“ Mit dieser Kompromissformulierung erklärten sich die Ausschussmitglieder sämtlicher Parteien, auch die drei CSV-Abgeordneten Paul- Henri Meyers, Christine Doerner und Raymond Weydert, einverstanden.
So hatte es im Frühling 2013 danach ausgesehen, als ob eine Zweidrittelmehrheit von CSV, LSAP und DP mit der Verfassungsrevision und einer anschließenden Änderung des Wahlgesetzes fast unauffällig bis zu den Kammerwahlen von 2019 das Ausländerwahlrecht einführen würden. Doch dann stürzte Premier Jean-Claude Juncker über seinen hysterisch gewordenen Geheimdienst, und nach den vorgezogenen Wahlen fand die CSV sich in der Opposition wieder. Die CSV, die als Regierungspartei den Vorwahlkonsens ebenso wie die gleichgeschlechtliche Ehe, eine Abtreibungsreform und implizit die Euthanasie, mittrug, um nicht altmodisch auszusehen, beschloss als Oppositionspartei, gegen das Ausländerwahlrecht zu sein. In einer internen Abstimmung beschloss sie nicht einstimmig, aber mehrheitlich, ihren Beitrag zur für seine Einführung nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu verweigern.
Durch die Regierungskrise und die Neuwahlen wurde das Ausländerwahlrecht zu einem Streitobjekt der Parteien und drohte daran zu scheitern. Das galt auch für andere Punkte der geplanten Verfassungsrevision, so dass die neue DP/LSAP/Grünen-Regierung eine Volksbefragung ankündigte, um mit dieser demokratischen Legitimation die CSV oder zumindest einen für eine Zweidrittelmehrheit nötigen liberalen Teil der CSV-Fraktion unter Druck zu setzen. Das hat bisher schon funktioniert: Aus Angst vor dem Referendum willigte das Erzbistum in eine neue Konvention ein, und auch wenn der CSV-Nationalrat seit Mitte 2014 schon zweimal nein zu den Referendumsfragen sagte, sprachen sich inzwischen die CSV-Nachwuchsorganisation CSJ, die CSV-nahe Gewerkschaft LCGB und selbst das lange den rechten CSV-Rand verteidigende Luxemburger Wort für das Ausländerwahlrecht aus.
So wollte die liberale Koalition, die angetreten war, den CSV-Staat ohne die CSV zu modernisieren – das Wort „modernisieren“ fällt gleich 30 Mal in ihrem Koalitionsproramm – die Wähler auch mit einer erweiterten Form der Demokratie mobilisieren. Zusammen mit der Senkung des Wahlalters und vor allem der Begrenzung der Mandatsdauer von Regierungsmitgliedern soll die Wählerschaft vergrößert und die Dominanz der christlich-sozialen und konservativen Wählerschaft verringert werden. Angesichts der Verschärfung des globalisierten Konkurrenzkampfes scheint Rücksicht auf kleinstaatlichen Nationalismus überholt. Ein großzügiges Ausländerwahlrecht und eine Senkung des Wahlalters soll auch dem Nation branding dienen, wie Premier Xavier Bettel in seiner Erklärung zur Lage der Nation hoffte: Das inzwischen manche Investoren abschreckende Bild einer vom Steuerbetrug lebenden Operettenmonarchie würde durch dasjenige einer weltoffenen und großzügigen Gesellschaft ersetzt. Pech bloß, dass das Referendum diese historische Chance am 7. Juni mit dem Schicksal einer schon ziemlich unpopulär gewordenen Regierung verknüpft.