Wie versprochen, hat die nationale Sekundarschullehrerdelegation (DNL) pünktlich nach den Osterferien ihren Synthesebericht zur geplanten sekundarschulreform vorgelegt. 196 Seiten ist er dick – und auch inhaltlich ist er ein dicker Brocken. Besonders für die Unterrichtsministerin.
Von den „Gesprächen in guter Atmosphäre“ ist, die nach den Verhandlungen der letzten Monate stets in freundlichen Pressemitteilungen beteuert wurde, ist nicht viel zu bemerken. Schon das Vorwort liest sich kämpferisch: Es seien die Auswirkungen der mit „Hast“ ausgeführten „unüberlegten“ Berufsausbildungsreform und der Grundschulreform, die das Fass bei Lehrern und ihren Vertretungen habe überlaufen lassen. Es sei den Gewerkschaften SEW und der Apess zu verdanken, dass die Betroffenen auf die Straße gingen und einen „ehrlichen Dialog“ mit der Ministerin erzwungen hätten.
Die Antworten, die die Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP), respektive ihre Beamten, auf Anfrage der DNL auf etwa 400 Seiten zusammengetragen hatten, überzeugten die Vertreter nicht: Die Argumente für eine umfassende Sekundarschulreform seien lückenhaft, es fehlten wichtige Statistiken und Daten, um die Notwendigkeit der Reform nachzuvollziehen, andere – besonders die der OECD – seien „nicht pertinent“, weil sie die spezifische Situation Luxemburgs mit seiner Mehrsprachigkeit und dem großen Ausländeranteil nicht genügend Rechnung trügen. Vor allem aber fehle ein bildungspolitischer „Masterplan“, in der die Lycée-Reform eingebettet würde. Gäbe es eine Note zu verteilen, hätten die Vertreter der DNL der Ministerin ein glattes Ungenügend bescheinigt.
Besonders die Kapitel über die Lage der neuen Berufsausbildung, zu den Promotionskriterien und zur Grundschule lassen kein gutes Haar an der aktuellen Bildungspolitik. Da wird der Tonfall auch polemisch: Die Ministerin habe eine „Strategie der verbrannten Erde“ betrieben, von „Fiasko“ ist mehrfach die Rede, wie eine „Dampfwalze“ sei sie über die Berufsausbildung gefahren, habe die Meinungen und Warnungen der Partner ignoriert und dabei das zerstört, was sich bewährt habe. Man meint geradezu, die Handschrift von SEW und Apess zu erkennen. Neun Vertreter des 18-köpfigen Gremiums stellen die Lehrergewerkschaften.
Nicht alles in dem Bericht ist konfrontativ geschrieben. Einige Argumentationen sind gut belegt und nachvollziehbar. Stichwort Studierfähigkeit: Die Unterrichtsministerin hat ihre Reform stets mit der geringen Zahl Luxemburger Schüler, die nach dem Examen ein Universitätsstudium absolvieren, begründet. Allerdings ist das Datenmaterial, das das Ministerium diesbezüglich präsentiert hat, ausgesprochen dürftig. Gleiches gilt für die pädagogischen Projekte, die Sekundarschulen in den vergangenen 15 Jahren mit viel Zeitaufwand und Mühe durchgeführt haben. Luxemburgs Lyzeen seien innovativer als allgemein bekannt, so die Autoren, die Initiativen, wie Classes mosaïques, Allet-Klassen und mehr aufzählen. Weil aber die Projekte nie ausgewertet wurden, wisse man zu wenig darüber, wie sich diese auf die Unterrichtsqualität oder die Leistungen der Schüler ausgewirkt haben, wird bedauert.
Auch die Attacken gegenüber der OECD, seit der Pisa-Studie zum Lieblingsfeind der Gewerkschaften auserkoren, werden ausführlicher begründet und lesen sich als Mahnung, darüber nachzudenken, was Bildung im 21. Jahrhundert sein solle. Bildung dürfe „nicht utilitaristisch“ sein und sich nicht an rein wirtschaftlichen Kriterien messen. „Employability“, die Eignung der Jugendlichen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, dürfe nicht die Maxime für Bildung sein, warnt die DNL und beruft sich auf das „humanistische“ Bildungsideal vom aufgeklärten, kritischen Bürger, ohne allerdings zu klären, ob das denn von der aktuellen Schule eingelöst wird. An anderer Stelle wird eben gerade der Mangel an Autonomie, Motivation und selbstkritischem Denken der Schüler kritisiert.
Dass die Kompetenzsockeln der Unterrichtsministerin nicht dieselben der OECD sind, erwähnt die DNL nur am Rande. Sie geht auch nicht näher auf die (selbst gestellte) Frage ein, was die Schule im 21. Jahrhundert denn leisten muss – und ob es sich Luxemburg leisten kann, Jugendliche am Arbeitsmarkt vorbeizuerziehen. Ihr Augenmerk gilt dem, was Schule nicht leisten kann oder soll: Defizite durch (sozial schwache) Familien beheben – der schulpsychologische Dienst soll stärker eingebunden werden –, oder Schülern Lehrstellen beschaffen. Da sollen Unternehmen Verantwortung übernehmen. Problem sei, so die DNL, dass sich Luxemburgs Unternehmen aus der Berufsausbildung verabschiedet hätten und lieber Lehrlinge in der Großregion rekrutieren, weil diese eine höhere Ausbildung hätten.
Wegen der Konkurrenz aus der Großregion, müsse ein Absenken des Leistungsniveau unbedingt verhindert werden, weshalb die DNL straffere Promotionskritierien und strengere Zugangskriterien fordert. Im Kompensationsmechanismus, der es Schülern ermögliche, sich durch den unteren Zyklus hindurchzumogeln, sieht die DNL die Hauptursache für die Bildungsmisere und die miese Motivation vieler Schüler.
Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was die Unterrichtsministerin mit ihrer Reform zu beabsichtigen erklärt: mehr Schülern einen Abschluss zu ermöglichen. Am Dienstag überreichte die DNL der Ministerin eine Kopie des Gesamtbereichts. Die Vorgehensweise des Unterrichtsministeriums dürfte dennoch pragmatisch sein: Immerhin gibt es Öffnungen auf einzelnen Punkten, etwa beim Mathe- und Sprachenunterricht, wo sich die DNL im Technique unterschiedliche Lernniveaus vorstellen kann, im unteren Zyklus des Classique sollen Französisch und Deutsch als Zweitsprache, zwischen Fremd- und Erstsprache, unterrichtet werden. Die DNL fordert zudem eine Debatte zur Alphabetisierung in der Grundschule. – Oder beim Tutorat, dessen pädagogischen Wert die DNL bestätigt, obschon sie verneint, dass es gesetzlich geregelt werden muss. Sie schlägt die 4e Classique als Orientierungsphase vor der Spezialisierung vor, einen verpflichtenden Travail d’études auf der 2e , ein (leicht) gestrafftes Examen sowie ein neues Orientierungsverfahren von der Grund- in die Sekundarschule. Das ist der Kompromiss. Dissens gibt es zwischen Feduse/SNE und Apess/SEW bei den Schulentwicklungsplänen: Erstere tragen diese mit.
Es gibt aber auch No-gos für alle. Das sind die zum einen die Promotionskriterien, und zum anderen ist es das automatische Weiterkommen nach der 7e. Die 60-Punkte-Bewertung will die DNL auf jeden Fall erhalten. Ende April wird die Ministerin ihren Reformentwurf dem Regierungsrat vorstellen. Dann wird sich klären, ob insbesondere SEW und Apess doch noch streiken werden. Und wie viele Lehrer ihnen dann folgen.