Leistungsorientiert, selbstbewusst und wortstark. So könnte man den Tenor der Stellungnahme des Schülerkomitees aus dem klassischen Lyzeum Diekirch (LCD) beschreiben. Elitär und selbstgerecht wäre die andere Lesart. Gleich zu Beginn stellen die Schüler aus Diekirch klar, dass ihre Sekundarstufe eine besondere ist – und es bleiben soll. Eine Umbenennung ihres geliebten Classique in Enseignement général, wie es das Unterrichtsministerium in Anlehnung an das französische System vorschlägt, lehnen sie kategorisch ab. Ebenso eine einheitliche Nummerierung von technischen und klassischen Klassen. „Daduerch gin déi verschidden Niveau’en vill ze vill verallgemeinert.“ Maßnahmen wie Classes d’initiale professionelle hätten nichts unter der Bezeichnung Lycée zu suchen: „Et ass einfach Etiketteschwindel, fir esou intellektuell schwaachen Niveau’en ënnert dem Label Lycée ze loossen“, wird klassenkämpferisch postuliert.
Mit einer anderen Kritik, nämlich die 7e und 6e zu einem Zyklus zu verbinden und Absolventen dieser Klassen automatisch weiterkommen zu lassen, sind die Diekircher Schüler nicht alleine. Anders als aber beispielsweise die nationale Schülerkonferenz (CNEL), die die automatische Versetzung nicht will, da „elle répresente une aggravation des problèmes en 6e“ , lehnen die Diekircher dies ab, „wëll d’Konsequenz dovunner ass, dass dem Schüler säi Leeschtungswëllen ofhëllt“. Und Leistung steht in Diekirch offenbar über alles. Der Schüler sei damit nicht mehr motiviert, „fir sech unzestrengen an sech intensiv mat enger Matière auserneenzesetzen, well e wees dat en sou eng Klass weiderkënnt“, heißt es pessimistisch (oder soll man sagen, selbstkritisch?) So würde ein schlechter Schüler, „dee liddreg ass an sech och net gud drugett“, belohnt, in dem er weiterkommt, während „dem gudde Schüler säi Fläiss a seng Méi net belount gin“.
Die Diekircher Schüler, so der Eindruck nach Lektüre des neunseitigen Positionspapiers, der von der Schülerversammlung gutgeheißen wurde, sind vor allem um ihren Status und das Niveau ihrer Studien besorgt.Das ist konsequent: Die Wortführer der Reformskeptiker des Lyzeums im Norden waren schon während der ersten Schülerproteste im November mit leistungsorientierten Sprüchen aufgefallen.
Mit ihrer elitären Haltung stehen die Diekircher allerdings recht isoliert da: Sie sind die einzige Schule, die es für nötig hielt, eine eigene Stellungnahme zu verfassen, das Athenäum hat keine solche, obwohl es zu den Traditionslyzeen im Land zählt, die strikt auf ihren Classique setzen und keine technischen Klassen im Gebäude haben. Ursprünglich sollte es eine Stellungnahme der Schülerkomitees aller Sekundarschulen in Luxemburg geben, abgesegnet durch die jeweiligen Klassenräte und Schülerparlamente. Dass das nicht realistisch war, zeichnete sich allerdings bereits bei der ersten Schülerdemonstration im November ab. Ursprünglich ging die Initiative zur Protestbewegung von Jugendlichen aus den berufsvorbereitenden Klassen des Lycée des arts et métiers aus, die erheblich unter dem Durcheinander der verabschiedeten, aber teils schlecht organisierten Berufsbildungsreform zu leiden hatten. Es schlossen sich jugendliche Kritiker aus anderen Schulen an, die aber die geplante Sekundarschulreform im Visier nahmen. Die einen wollten keine Reform, die andere „ein bisschen“, wieder welche konnten sich „kleinere Reformen“ vorstellen – der Murx mit der Berufsausbildung verschwand bald aus dem Blick. Eine Tendenz, die sich beispielsweise auch in Hamburg und Berlin beobachten ließ, wo Eltern von Kindern der humanistischen Gymnasien am lautesten gegen die Reform der Sekundarstufe protestierten – und den Politikern entscheidende Zugeständnisse abrangen.
Auch in Luxemburg sind die lautesten Stimmen bislang die der Reformgegner: Schüler des LCD forderten im Land-Interview vom 18. November 2011, die Reform zu stoppen, und warnten vor einer Entwertung der Diplome, eine Ansicht, die sich im Avis der Diekircher wiederfindet. In dem Sinne sind die Schüler ihren Überzeugungen treu geblieben.
Auf dem Treffen im Februar diesen Jahres im Forum Geesseknäppchen, wo die Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres und ihre Beamten verspätet versuchten, die Grundzüge der Reformen schülergerecht zu erläutern, brach dann der Graben zwischen Reformbefürwortern und -skeptikern auch unter den Schülern offen auf: Während die einen der Ministerin Taktieren und einen schlechten Kommunikationsstil vorwarfen, werteten andere die Veranstaltung als Auftakt für einen neuen Dialog. Dass einen gemeinsamen Nenner zu finden, schwierig werden würde, der Meinung waren nach der Großveranstaltung mit rund 1 200 Schülern viele. Jetzt also hat man sich darauf geeinigt, Divergenzen in getrennten Stellungnahmen offenzulegen.
Der Arbeitskreis Reform, der aus den Protesten im vergangenen Herbst hervorgegangen war und bei der Vertreterinnen und Vertreter der nationale Schülerkonferenz, des Jugendparlaments sowie der Studentenunion an einem Tisch sitzen, hat in seiner Stellungnahme eigenen Aussagen zufolge die Ergebnisse berücksichtigt, die zuvor eine Umfrage bei den Schülerinnen und Schüler im Januar ermittelt habe.
Einigkeit zwischen den drei Jugendvertretungen herrscht vor allem bezüglich des Tutorats. Grundsätzlich spricht sich der Arbeitskreis dafür aus, Schüler sollen ihren Tutor – und auch die Intensität der Betreuung – aber selbst wählen können. Begrüßt wird auch der Travail personnel, der laut AK „une bonne préparation pour les éleves désirant poursuivre des études supérieures“ sei. Anders als die Diekircher, die sehr viel skeptischer sind, weil sie Ungerechtigkeiten fürchten („Deen een Schüler schréiwt vläicht iwwer säin säit Joeren ausübtent Hobby“), spricht sich der Arbeitskreis dafür aus, das Thema frei wählen zu können.
Einhellig abgelehnt wird von den drei Jugendvertretungen der Contrat de redoublement. Schüler sollen diese mit der Schule abschließen, sie selbst und die Eltern ihn unterschreiben. Wer nicht die gewünschten Leistungen erzielt, muss mit Konsequenzen rechnen. Bei den Schüler stößt das auf energischen Widerspruch, die CNEL betont gar, dieser Punkt sei „indiskutabel“, also mit ihr nicht zu machen. Die Praxis, schwache oder verhaltensauffällige Schüler Verträge unterschreiben zu lassen für eine öffentliche Leistung, die an sich kostenlos ist, greift immer mehr um sich. Wie sich das mit gleichen Bildungschancen für alle verträgt, weiß wohl nur die sozialistische Ministerin.
Ideologische Widersprüche geltend macht die Schülerkonferenz zudem, wenn sie die neuen Promo-tionskritieren ablehnt. Zu „streng“ und „kontraproduktiv“ seien diese, so die CNEL: „Le problème réel de la compensation dans le système luxembourgeois ne consiste (..) pas dans les critères, mais dans le suivi.“ Dass ausgerechnet bei den Hauptfächern Sprachen und Mathe keine Kompensation erlaubt sein soll – Hauptgrund für die hohen Durchfallerquoten im Luxemburger Schulsystem –, stelle den Sinn und Zweck des Kompensationsmechanismus’ grundsätzlich in Frage, so das Schülerfazit.
Das Jugendparlament äußert sich nur knapp zur Evaluation, folgt aber in den Hauptpunkten dem Arbeitskreis Reform: Ja zu Tutorat und Travail personnel, aber mit präzisen Vorgaben bitte! Ja auch zu den Dominantes, nein zur automatischen Versetzung und nein zum verbindlichen Vertrag für schwache Schüler. Immerhin gelang es den Jugendparteien damit, sich auf eine gemeinsame Position festzulegen, das müssen die Großen ihnen erst einmal nachmachen.
Am weitesten geht indes die Unel: In ihrem Gutachten beschränkt sich die Studentenvereinigung (die traditionsgemäß eher der Linken nahe steht) zwar auf Detailkritik, wie die Ersetzung der Sektionen durch zwei respektive drei Dominantes, die begrüßt wird, oder die Forderung, den Religionsunterricht zugunsten eines allgemeinen Werteunterrichts abzuschaffen. Pointierter fällt ihr Urteil zur Bewertung und der Versetzung aus: Die Unel bemängelt, dass der Wechsel zwischen dem technischen und klassischen Lyzeum nur zwischen der 9e und der 5e sowie der 11e und der 3e erlaubt sein soll und plädiert für einen Tronc commun bis zur neunten oder zehnten Klasse. „Die Schule muss ein Ort der Integration sein“, hatten die Studenten bereits in einem Arbeitsdokument im Februar gefordert und darin ausführlich ihre Vision von Schule beschrieben. Die Unel ist die einzige Jugendvertretung, die ausdrücklich Bezug nimmt auf ein geändertes gesellschaftliches Umfeld (Stichwort: Immigration) , was vielleicht auch am fortgeschrittenen Alter der Autoren liegt.
Weit mit ihrer Grundsatzkritik kommen dürften die Studenten dennoch nicht: Dafür ist der Druck aus der Lehrerschaft zu stark – und der Einfluss der Schüler begrenzt. Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Bildungspolitik die Stimmen der großen Schüler- und Jugendvertretungen zu einem Gesetz im Vorfeld abfragt – und sie tut es in der Ausführlichkeit auch nur, weil die Schüler das eingefordert hatten. Ob das ausreicht, um die Bildungsdebatte nachhaltig zu prägen und beispielsweise mehr Demokratie in die Schulen zu bringen, wie es auf der Wunschliste der Schülerinnen und Schüler steht, bleibt abzuwarten.
Anders als beim Streit etwa um die Beschäftigungsmaßnahmen für Jugendliche aber könnte der Protest gegen die Sekundarschulreform nach den Sommerferien wieder an Fahrt aufnehmen: wenn Gewerkschaften und Lehrer das Thema wieder entdecken. Eines muss man den Jugendlichen jetzt schon zugestehen: Sie haben nichts unversucht gelassen, um sich doch noch Gehör zu verschaffen.
Ines Kurschat
Kategorien: Bildungspolitik, Sekundarschule
Ausgabe: 13.07.2012