Mit den ersten amerikanischen Blockbustern seit Monaten fällt der Groschen. Ist es bei Covid-Check-Konzerten die Menschenmasse vor der Bühne, die das Konzerterlebnis ausmacht, so fühlt es sich im Kino seit dieser Woche umgekehrt an: Die kleinen Filme, die den Kinobetrieb hierzulande über Wasser hielten, waren ein überaus interessanter Gegenentwurf zum üblichen Programm. Trotzdem war die Abwesenheit fetter Filmvehikel aus der Traumfabrik deutlich spürbar.
Jetzt verbindet die Covid-Check-Freilichtkonzerte und In The Heights genau das – die Tatsache, dass sich binnen weniger Augenblicke alles anfühlt, als ob die letzten 15 Monate nicht stattgefunden hätten.
In The Heights versucht sich in einem Porträt des New Yorker Viertels Washington Heights im nördlichen Teil Manhattans und seiner Latinx-Community. In Zentrum des Sammelsuriums aus Figuren und Charakteren steht der Hauptprotagonist Usnavi und sein Bodega: Ein Laden, in dem es alles zu kaufen gibt und der für die ganze Nachbarschaft eine Drehscheibe ist. Usnavi und die andere Figuren meistern ihr Dasein mit Müh‘ und Not, aber mit steter Lebensfreude, lassen jedoch keinen Augenblick aus, um der Gentrifizierung des Viertels entgegenzublicken und sich in Tagträumereien zu verlieren: ein Lottogewinn, das Studium der Tochter an einer Elitenuniversität oder – der Traum von Usnavi – die Rückkehr in die Alte Heimat, die Dominikanische Republik. Übrigens ist In The Heights ein Musical.
Sein Autor Lin-Manuel Miranda wurde in Kontinentaleuropa spätestens ein Begriff, als sein Broadway-Musical Hamilton über die Streaming-Plattform Disney+ auch hier zu sehen war. Der Musiker, Produzent und Rapper hatte in den USA aber schon zehn Jahre zuvor das durch und durch amerikanische Broadway-Musical-Konzept mit seinem ersten Hit In The Heights erneuert. Die Filmfassung hat jetzt, fast 16 Jahre später, eine ganz andere Last von Thematiken und Umstände zu meistern. Was ihr eventuell nicht gut bekommt: Der Hollywood-Film soll in den sich wieder öffnenden USA die Kinomaschinerie zum Laufen bringen und große Menschenmassen ins Kino locken. Außerdem setzt In The Heights mit seinem Latino-Casting ein Zeichen und muss einen Kommentar zur Einwanderungspolitik Post-Trump machen. Und natürlich ein astreines Filmmusical sein.
Versatzstücke aus der Pop-Kultur der letzten Jahrzehnte scheinen immer wieder durch: die West Side Story etwa oder Sal’s Pizzeria aus Spike Lees Do The Right Thing. In The Heights ist auch das Resultat seiner postmodernen Zutaten. Aber Jon M. Chus’ Inszenierung unterstreicht den textlichen und musikalischen Flow aus der Feder von Miranda und Quiara Alegria Hudes. Die Kamera von Alice Brooks ist permanent in Bewegung und nimmt die rhymes bei den Händen. Natürlich wäre es einfach, das Ganze als viel zu langen Videoclip abzustempeln. Aber dieses ewige In-Bewegung-Sein kann auch als formale Verlängerung des Bestrebens der so genannten dreamers (Migranten, die schon als Minderjährige in die USA kamen) verstanden werden, sich eine Zukunft in den Vereinigten Staaten aufbauen zu wollen. Die Inszenierung von Film und Musical ist damit auch politisch.
Im direkten Vergleich wirken die offensiveren politischen Gesten und Aussagen recht platt. Etwa wenn auf die letzte Präsidentschaft oder den systemischen Rassismus in den USA angespielt wird. Und nicht jede Nummer landet, nicht immer funktioniert die zwischenmenschliche Chemie, wie sie soll, und die Repräsentationsdiskussion in der Latino-Gemeinschaft nimmt absurde Ausmaße an. Vor allem ist der Film wenigstens eine halbe Stunde zu lang.
Anthony Ramos als Usnavi ist auf jeden Fall eine erfrischende Präsenz. In The Heights ist genau wie Jon M. Chus anderer großer Repräsentations-Film Crazy Rich Asians hochpolierte Oberfläche. Doch die lässt sich in einem Musical eher entschuldigen als in anderen Genres. Und wer weiß: Vielleicht erlebt das Filmmusical eine Rennaissance. Erst vor ein paar Tagen hat Leos Carax‘ Musical Annette die Filmfestspiele von Cannes eröffnet. Es wäre auf jeden Fall zu wünschen, dass die Menschen auf und vor der Bühnen-Leinwand wieder zusammenkommen. Gerne auch bei Musicals.