Hänsel und Gretel hat nicht nur bei der Märchenstunde und der Bettlektüre die Nase vorn. Auch im Musiktheater ist die Grimm-Geschichte in ihrer Vertonung durch Engelbert Humperdinck das beliebteste und meist gespielte Märchen der Opernliteratur. Ein Weihnachtsstück par excellence. Schon die Entstehung hat etwas Märchenhaftes: Die Schwester des Komponisten, Adelheid Wette, schneiderte das Märchen der Gebrüder Grimm für eine häusliche Theateraufführung im Familienkreis auf Maß. Ihr Bruder vertonte dazu zunächst nur einige Verse. Doch später ließ ihn die Idee, aus dem Märchenstoff eine große Oper zu machen, nicht mehr los. Ergebnis der geschwisterlichen Zusammenarbeit ist eine einzigartige Kombination von poetischer Naivität und musikalischem Tiefgang. Daraus entstand eine Oper, die es mit den ganz Großen des Repertoires aufnehmen kann.
Dass das Stück auch knapp vor Ostern funktioniert, hat uns das Luxemburger Studio de l’Opéra letzte Woche mit schlichten Mitteln und einer durch und durch sympathischen Produktion in Wasserbillig, Beles und im Tutesall der Neumünsterabtei im Stadtgrund gezeigt. Das Opernstudio Luxemburg hat sich vor gut einem Jahr als gemeinnütziger Verein konstituiert, hat aber in den Vorjahren bereits Opernproduktionen auf die Bühne gebracht : Cavallaria Rusticana in Esch-Alzette und Die Zauberflöte im Viandener Schloss sowie ebenfalls in der Neumünsterabtei. Das Studio möchte im Rahmen von Partnerschaften in der Großregion eigenständiges Musiktheater produzieren. Die größte Ressource der von Radu Pantea als Chefdirigent geleiteten Compagnie sind dabei die Sängerinnen und Sänger des Musikkonservatoriums in Luxemburg, sowie Künstler aus den verschiedenen Bereichen der Oper – Kostümbildner, Regisseure, Bühnenbildner. Man setzt auf Eigenständigkeit und Handwerklichkeit.
Bei Hänsel und Gretel ist das Konzept aufgegangen. Mit seiner einfach gestrickten, aber aussagekräftigen Inszenierung ist es Ionel Pantea gelungen, die kindliche Leichtigkeit, aber auch die tiefen Abgründe des Märchens von Hänsel und Gretel lebendig werden zu lassen. Hauptrequisit auf der Bühne ist ein überdimensionales Märchenbuch, das Szene um Szene umgeblättert wird und anhand dessen eine Lehrerin ihren Schülern die Grimm-Geschichte nicht nur erzählt, sondern die Kinder beteiligtund sie dazu bringt, die Handlung als Klassenspiel aufzuführen. Aus dieser Rahmenhandlung erweckt Ionel Pantea das Märchen zum Leben. Das Schöne daran: Die jungen Sänger auf der Bühne wirken weniger wie Märchenfiguren, sondern sind Menschen wie du und ich; Menschen, mit denen sich auch Kinder im 21. Jahrhundert identifizieren könen – Hänsel, der Skater mit der bunten Wollmütze, Gretel, das sympathische Mädchen im Jeansrock.
Gesungen wird auf hohem Niveau. Die deutsche Mezzosopranistin Astrid Bohm überzeugt mit ihrer warm timbrierten Stimme als Hänsel, die junge Belgierin Dorine Mortelmans, die bereits an Opernproduktionen der Opéra de Wallonie, der Vlaamse Opera sowie des Théâtre de la Monnaie in Brüssel mitgewirkt hat, mit ihrem glockenreinen Sopran als quicklebendige Gretel. Die Luxemburgerin Patricia Freres setzt als Mutter effektvolle dramatische Akzente. Die in Luxemburg lebende Mezzosopranistin Kiara Sealy glänzt mit den vielen Facetten ihrer Stimme als Knusperhexe, Cynthia Knoch, ebenfalls aus Luxemburg, mit ihrem hellen lyrischen Sopran in den Partien des Sand- und des Taumännchens. Lediglich der rumänische Bariton Alexandru Suca hatte Schwierigkeiten, sich als Vater durchzusetzen. Etwas Probleme mit der Intonation und der Klangbalance hatte auch das von Radu Pantea geleitete moldauische Orchestre Philharmonique National S. Lunchevici, wobei sich die Frage aufdrängte, ob nicht in diesem Rahmen eine Kooperation mit einem Klangkörper aus der Großregion möglich wäre. Dennoch war dieser Hänsel und Gretel ein schöner und harmonischer Opernabend, sowie eine Lektion, wie man mit den schlichtesten szenischen Mitteln effektvolles Musiktheater produzieren kann.