Ein Monat ist es her, dass Justizminister Luc Frieden den Bau eines neuen Gefängnisses ankündigte - zum Erstaunen vieler. Denn auf der Prioritätenliste für weitere öffentliche Infrastrukturen, die wenige Tage zuvor von Parteikollege Claude Wiseler vorgestellt wurde, war ein weiterer Knast nicht vorgesehen. Als Maßnahmen für den Strafvollzug nannte Frieden zudem die lang geplante und noch immer nicht gebaute, geschlossene Einrichtung in Dreiborn und das "Centre de rétention" am Flughafen Findel. Offenbar haben dem CSV-Politiker die Negativschlagzeilen in den vergangenen Monaten über allseits bekannte Defizite im Schrassiger Gefängnis zugesetzt. Frieden hätte freilich auch anders zeigen können, dass sich im Strafvollzug etwas tut. In Givenich, Luxemburgs einziger halboffenen Justizvollzugsanstalt, wird derzeit ein neues Projekt umgesetzt. Mit Wegsperren, Abschreckung und Abschieben hat das allerdings nichts zu tun: Es geht um eine verbesserte Reintegration von Gefangenen in die Gesellschaft. 72 Männer im Alter zwischen 18 und 70 Jahren, mit unterschiedlich langen Haftstrafen, sind zurzeit in Givenich untergebracht. Sie können das Gefängnis zeitweilig verlassen und extra muros arbeiten - wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Will heißen, sofern keine Fluchtgefahr besteht, ihr Strafmaß es erlaubt und ein entsprechender Antrag auf "semi-liberté" und Verlegung von der Generalstaatsanwaltschaft bewilligt wurde. Zuvor muss sich der Antragsteller jedoch bereit erklären, zu arbeiten oder sich in den dortigen Werkstätten ausbilden zu lassen. "Fallmanager" und psychosozialer Dienst betreuen ihn und schauen, wie es mit Job oder Ausbildung so läuft und ob sonst alles in Ordnung ist. Oft ist es das nicht. Arbeit zu haben und arbeiten zu können, wird als Grundlage für das Gelingen einer Resozialisierung zwar stets vorausgesetzt, doch das Verhältnis von Gefangenen und Arbeit ist oft ein schwieriges. Viele Insassen haben die Schule abgebrochen, keine oder nur eine geringe Berufsausbildung. Anderen fehlt die berufliche Erfahrung - weil sie noch nie eine "richtige" Erwerbsarbeit hatten oder weil sie durch ihre jahrelange Haftzeit den Kontakt zur Arbeitswelt verloren haben. Ein Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt nach der Haft ist dann meist undenkbar. Um den alltäglichen Umgang mit Menschen vor der Entlassung zu üben, aber auch um gewisse Grundfertigkeiten zu erlernen oder vorhandene Kenntnisse zu vertiefen, werden Häftlinge in Gärtnerei, Landwirtschaft, Küche oder Schlosserei angelernt - wenn sie mitmachen. Einige brechen nach kurzer Zeit wieder ab oder sie melden sich krank, weil sie zu wenig verdienen oder sie mit den Anforderungen einfach nicht klarkommen. "Oft fehlt die nötige Arbeitskultur", sagt Paula Gomes von Défi-Job asbl. Der Verein, von Arbeits- und Justizministerium finanziert, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Givenicher Gefangene bei ihrer Jobsuche zu unterstützen und sie auf das Arbeitsleben vorzubereiten. Das geschieht zunächst in Zusammenarbeit mit den Werkstätten. Darüber hinaus kontaktiert Gomes Unternehmen und Gemeinden, die bereit sind, Arbeit suchende Häftlinge, die hinaus dürfen, anzustellen. 16 Gefangene konnte sie so seit Juni dieses Jahres auf dem ersten Arbeitsmark unterbringen, mit befristetem Vertrag. Ziel von Défi-Job ist es, diesen eines Tages in einen unbefristeten umgewandelt zu bekommen. Die meisten Firmen sind aus der Baubranche oder dem Industriesektor und bieten Jobs zum Mindestlohn. Dennoch ist es oftmals eine Win-win-Situation für beide Seiten: Die preiswerten Arbeitskräfte verdienen hinter Mauern nur einen Hungerlohn von um die 200 (Givenich) bis 400 Euro (Schrassig) monatlich. Es sind nicht nur schlechter Lohn, falsche Vorstellungen oder fehlende Disziplin, die die Arbeitsmotivation dämpfen und die berufliche Wiedereingliederung erschweren. Unzeitgemäße Ausbildungsprogramme und fehlende Kenntnisse über Qualifikationen, die Unternehmen heutzutage erwarten, spielen ebenfalls eine Rolle. "Wir orientieren am Arbeitsmarkt vorbei", räumt Jean-François Schmitz selbstkritisch ein. Der Psychologe ist einer der Ideengeber für das Reset-Projekt (Réinsertion économique et sociale par l’éducation et le travail), das seit einigen Monaten in Givenich läuft und vom Europäischen Sozialfonds im Rahmen von Equal mit über 1,2 Millionen Euro gesponsert wird. Fünf weitere Länder, darunter Deutschland und Frankreich, beteiligen sich zeitgleich an ähnlichen Equal-Resozialisierungsprojekten. Zusammen mit dem Gefangenen, der Uni und dem Arbeitsamt werden zunächst einmal Profile erstellt: Was möchte der Betreffende arbeiten, was kann er schon, was fehlt ihm noch und wie kann er bestehende Lücken schließen? Die Antworten werden gesammelt und stehen den Gefängnismitarbeitern - Sozialarbeitern, Werkmeistern, Wächtern - in Form einer Datenbank für ihre Betreuungsarbeit zur Verfügung. 25 der 72 Häftlinge wurden bereits befragt. Die Zusammenarbeit laufe hervorragend, so Michèle Baumann von der sozialwissenschaftlichen Fakultät, die die Befragungen leitet. Die endgültigen Resultate sollen ab Mitte Januar vorliegen - ein zentrales Anliegen kristallisiert sich aber schon jetzt heraus: Die Mehrheit der Befragten will früher und gründlicher auf den Berufseinstieg vorbereitet werden. Damit in Zukunft passgenauer ausgebildet werden kann, werden zusammen mit dem Erziehungsministerium und mit verschiedenen Berufskammern ab 2006 neue Lehrpläne für gefängnisinterne Schulungen formuliert. Flexible Module sollen es auch Gefangenen, die nicht lange in Givenich bleiben, ermöglichen, zügig zu lernen. Kommunikationsstrategien und Konfliktlösung stehen ebenfalls auf dem Programm. Am Ende soll für jeden Gefangenen entsprechend seinen Wünschen und Fähigkeiten ein individueller Entwicklungsplan erstellt werden. Auch die Werkmeister und Sozialarbeiter sollen im Rahmen von Reset ausgebildet werden. Statt wie bisher die Gefangenen einseitig entlang - subjektiver - Einschätzungen zu fördern oder zu übergehen, sollen beide Parteien im Dialog und entlang von Checklisten herausfinden, was die jeweils beste Lösung ist. Bislang war ein gutes Vorankommen häufig abhängig von einer guten Beziehung zwischen Werkmeister, Wächter und Gefangenen. "Das ist ein ganz neuer Ansatz", betont Marianne Mersch. Die Vizedirektorin von Givenich, die das Projekt leitet, erhofft sich davon unter anderem mehr Austausch und eine Professionalisierung ihres Personals. Angesichts der Jahre, die viele Angestellte in Givenich tätig sind, ist die Frage angebracht, wie arbeitsmarktnah oder -fern eigentlich so mancher Mitarbeiter ist. "Die standardisierten Methoden erlauben uns, unsere Arbeit besser zu evaluieren", so Mersch weiter. Das wäre tatsächlich ein Novum. Bisher hat es hier zu Lande noch in keinem Gefängnis eine - wissenschaftlich begleitete - Überprüfung der Ausbildungs- und Arbeitsprogramme gegeben. Abgestimmte Resozialisierungskonzepte, Mitarbeitermotivation, Partizipation sind bislang weitgehend Fremdwörter in Luxemburgs streng hierarchisch geführten Strafanstalten. Die Vernetzung zwischen den beiden Gefängnissen klappte in der Vergangenheit oft mehr schlecht als recht. Schrassig nimmt am Equal-Projekt nicht teil, obwohl Givenichs Gefangene von dort kommen. Immerhin: An der Datenbank beteiligen sich beide; wenigstens in diesem Bereich dürfte der Fortschritt dann für einmal rasend schnell passieren. Doch selbst wenn es den Reset-Mitarbeitern gelingt, Gefangene in Zukunft besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten, ob es hilft, sie auch besser in die Gesellschaft zu integrieren, ist damit nicht gesichert. "Die gesellschaftliche Situation hat sich dramatisch verschlechtert. Das erschwert die Resozialisierung ungemein", sagt Jeff Putz. Der Bewährungshelfer vom Service centrale d’assistance sociale begrüßt (SCAS) grundsätzlich „jede Initiative, die dem Gefangenen hilft“ – von der Wirksamkeit des Reset-Ansatzes ist er gleichwohl nicht ganz überzeugt. Damit eine Integration gelingen kann, müsse es "ein Gleichgewicht zwischen mehreren Stabilitätsfaktoren geben". Der Teufelskreis, in dem viele Häftlinge steckten, sei extrem schwierig zu durchbrechen. Viele haben keine Familie oder Freunde, die sie während und insbesondere nach der Entlassung unterstützen, sie kommen überwiegend aus be-nachteiligten Lebenslagen, Ausländer erleben zusätzlich zum Stigma als Ex-Knackie Diskriminierungen. Kriminologische Studien im Ausland haben gezeigt, dass ein Großteil der Gefangenen bereits vor Haftantritt in einer sozialen Abwärtsspirale steckt. In Österreich waren 1997 ein Jahr vor der Haft nur 19 Prozent der Gefangenen den überwiegenden Teil des Jahres in einem regulären Arbeitsverhältnis. Der Anteil lag in der Bevölkerung vier Mal so hoch. Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, ehemalige Gefangene leiden erfahrungsgemäß unter der steigenden Arbeitslosigkeit ganz besonders. In Luxemburg kommt erschwerend die Wohnungsnot hin-zu. Wohnungen unter 500 Euro sind kaum zu finden, und die paar Foyers, die es gibt, haben sich auf alle möglichen Problemfälle spezialisiert, nur nicht auf Ex-Knastinsassen. "Die erste halbwegs schwierige Situation kann zurück auf die schiefe Bahn oder in die Drogensucht führen", weiß Putz. Der Kriminologe Daniel Biancalana wird noch deutlicher: "Indem der Staat den Betroffenen keine Auffangstrukturen zur Verfügung stellt, provoziert er geradezu den Rückfall." Dass hier ein großer Bedarf besteht, zeigen die Erfahrungen, die Sozialarbeiter und Psychologen mit Ex-Gefangenen tagtäglich machen. Erst vor einer Woche hat ein Häftling aus Givenich seinen Job bei einer Baufirma geschmissen. Er hatte Angst, es später ohne die Unterstützung seiner Betreuer nicht mehr zu schaffen. Kriminologen weisen aber noch auf einen anderen Aspekt hin, der sozialpädagogische Bemühungen regelmäßig konterkariert. Die Subkultur der Insassen und Wärter ist kaum dazu angetan, eine Resozialisierung zu fördern, sondern macht aus Häftlingen zwangsläufig eine Art "Teilzeit-Kriminellen". Mit seinen Betreuern und Wächtern versucht sich der Gefangene so zu verhalten, wie diese es verlangen. In der Zelle aber, wo die rigiden Gesetze der Subkultur herrschen, passt er sich den Regeln überlegener Mitgefangener an, mit dem Effekt, dass er die Normen der Betreuer nicht internalisieren kann. "Unser Versuch, andere Werte zu vermitteln, wird durch das System sabotiert", stellt Putz fest. Gestresst von Mitgefangenen und den widersprüchlichen Anforderungen, die an sie herangetragen werden, reagieren viele Insassen mit Rückzug und Gleichgültigkeit. Um dieser destruktiven Wechselbeziehung entgegenzuwirken, sind Vollzugsanstalten in Südamerika und den USA einen radikal anderen Weg gegangen: Sie haben ihren Insassen demokratische Mitspracherechte und Verantwortung bei der Programmgestaltung, der Ordnung und sogar in der Sicherheit gegeben. Auf diese Weise konnte die Rückfallquote drastisch gesenkt werden. Für Luxemburg bleiben solche partizipativen Ansätze allerdings nicht nur wegen der Ausrichtung der hiesigen Kriminalpolitik utopisch: Laut SCAS erfasst Luxemburgs Strafvollzug bislang die Rückfälligkeit seiner Probanden nicht systematisch.
josée hansen
Kategorien: Strafvollzug, Theater und Tanz
Ausgabe: 19.12.2002