Weltbankbericht zu Europa

Nur was sich ändert, bleibt sich gleich

d'Lëtzebuerger Land vom 10.02.2012

Philippe Le Houerou, Vizepräsident der Weltbank und zuständig für Europa und Zentralasien, behauptete Ende Januar in Brüssel bei der Präsentation des Weltbankberichts Goldenes Wachstum: den Glanz des europäischen Wirtschaftsmodells wiederherzustellen: „Angesichts der schädlichen Schuldendynamik und ungünstiger demografischer Trends fordern viele Europäer ein ‚neues Wachstumsmodell‘. Es ist gut, dass in Europa keine Gleichgültigkeit herrscht.“ Die Weltbank attestiert den Europäern, dass sie durch ihr Wirtschaftsmodell zu einer „Lifestyle-Supermacht“ geworden seien, die in der ganzen Welt bewundert werde. Die USA hätten die Macht, China die Gunst der Stunde, Europa aber den höchsten Lebensstandard.

Le Houerou muss die Europäer loben, will er sie gewinnen, denn der Bericht hält den Europäern schonungslos den Spiegel vor: „Seit der wirtschaftliche Angleichungsprozess der ärmeren europäischen Länder gestoppt oder in einigen Teilen Europas sogar in sein Gegenteil verkehrt wurde, bekommt die Region eine schlechte Presse. Die besten Tage habe Europa hinter sich, heißt es jetzt. Hohe Jugendarbeitslosigkeit, stagnierende Produktivität, zerrüttete öffentliche Finanzen sowie archaische Sozialsysteme und Innovationen, die ungeeignet für eine globale Wirtschaft seien, wären Symptome eines wirtschaftlichen Niedergangs.“

Doch es gebe keinen Grund den Kopf in den Sand zu stecken, ermuntert die Weltbank, ganz so schlimm sei es nicht. So sei das Angebot an Arbeitsplätzen in Europa zwischen 1995 und 2009 stärker gewachsen als in den USA. Die Produktivitätsgewinne der osteuropäischen EU-Beitritts- und Kandidatenländer seien im gleichen Zeitraum höher gewesen als die Produktivitätsgewinne in Ostasien und Lateinamerika und der Anstieg der Exporte von Waren und Dienstleistungen habe sogar über den Wachstumsraten der hoch gelobten Bric-Staaten gelegen, also von Brasilien, Russland, Indien und China. Allerdings habe sich die Produktivität in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal seit 2002 negativ entwickelt. Die dort vorherrschende familiengeprägte Firmenstruktur sei an die globalisierte Wirtschaftsweise zu wenig angepasst. Hohe Steuern, eine dichte Regulierung und schlechte Verwaltung trügen eine große Mitschuld am Niedergang von Europas Süden.

Die Einstellung zur Globalisierung spiele ebenfalls eine Rolle. Dänen, Schweden, Niederländer und Esten hätten die positivste Einstellung zur Globalisierung. Franzosen, Griechen, Belgier und Zyprioten die negativste. Es sei kein Zufall, dass Länder, deren Bevölkerung Angst vor Konkurrenz hätte, über das schlechteste Geschäftsklima in Europa verfügten. Ganz Europa solle sich an den nordischen Ländern orientieren, was Wirtschaftsfreundlichkeit und Innovationsfähigkeit angehe. Insgesamt könne Europa nur dann global wettbewerbsfähig bleiben, wenn der Binnenmarkt noch mehr zu einem einzigen integrierten Wirtschaftsraum zusammenwachse, die Produktivität verbessert, die wirtschaftliche Freiheit für Unternehmen erhöht und die EU weltweit zur „Top-Adresse“ für Studenten und Unternehmer werde.

Als Lifestyle-Superpower verhalte sich Europa nicht anders als die USA. Während die Amerikaner mehr für’s Militär ausgeben als die nächsten 15 Länder zusammengerechnet, gebe Europa mehr für soziale Sicherheit aus als alle anderen Länder der Welt zusammen. US-Amerikaner würden sich mit mehr Wohlstand mehr Waren kaufen, die Europäer mehr Freizeit. Noch 1950 hätten die Westeuropäer einen Monat länger im Jahr gearbeitet als die Amerikaner, 1970 sei die Arbeitszeit etwa gleich gewesen, heute arbeiteten die Amerikaner einen Monat länger als die Europäer. Gleichzeitig würden viele Europäer bis zu 15 Jahre länger Rente beziehen als noch 1965. Alle 44 europäischen Länder werden zusammen bis 2060 wegen der demografischen Entwicklung 50 Millionen Arbeitskräfte verlieren. Dagegen empfiehlt die Weltbank die Arbeitnehmermobilität innerhalb der EU zu stärken, den Anteil der arbeitenden Frauen zu erhöhen, mehr Immigration zuzulassen und abgeschottete Arbeitsmärkte zu deregulieren. Strenge Kündigungsschutzregeln werden zum Beispiel nicht nur bei der Weltbank schon lange für die exorbitant hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien verantwortlich gemacht.

Die Weltbank macht eine einfache Rechnung auf und die Europäer müssen sich den darin genannten Tatsachen früher oder später stellen. 1. Europa hat die höchsten Steuern der Welt. 2. In Korea zahlt ein Arbeitgeber ein Drittel der Lohnzusatzkosten eines belgischen Arbeitgebers und 50 Prozent der Kosten in Griechenland. 3. In den letzten 15 Jahren hat die Erhöhung staatlicher Ausgaben um zehn Prozent immer Wachstumseinbußen zwischen 0,6 und 0,9 Prozent bedeutet. 4. Schweden zeige, dass es auch anders ginge. Was müsste das restliche Europa tun? Die Antwort sei einfach: Erleichtere die Registrierung von Eigentum, fördere den grenzüberschreitenden Handel, erhebe Unternehmenssteuern wie die 15 Top im Weltbankindex für Wirtschaftsfreundlichkeit, sorge für eine effiziente Verwaltung und dafür dass vier von fünf Menschen im arbeitsfähigen Alter auch tatsächlich arbeiten sowie dafür, dass es sehr schwierig ist, früher als mit 65 Jahren in Rente zu gehen und fast unmöglich dies unter 60 Jahren zu tun. Verhindere, dass das Sozialsystem missbraucht wird.

Der Bericht zum Goldenen Wachstum hat das Verdienst, dass er einen sehr großen Zeitraum umfasst und die wirtschaftliche Entwicklung in eine langfristige Perspektive setzt. Er ist damit in erfrischender Weise das Gegenteil dessen, was man im Allgemeinen von der Politik serviert bekommt. Die Weltbank blickt 50 Jahre zurück und versucht, 50 Jahre in die Zukunft zu schauen. Am Ende der Analysen läuft alles darauf hinaus, dass die Europäer wie alle anderen ständig ihre Politik verbessern müssen, um in der Globalisierung bestehen zu können. Vor allem werden sie mehr arbeiten müssen. Das heißt aber nicht, dass die Weltbank Europa chinesische Verhältnisse prophezeit. Im Gegenteil. Der Wohlstand kann gewahrt bleiben, wenn die Jahresarbeitszeit wieder so hoch ausfällt wie in den 70-er Jahren, als die 40-Stundenwoche und vier Wochen Jahresurlaub die Norm waren. Wirtschaftsfreundlichkeit und „Good governance“ kommen als unerlässliche Ingredienzien hinzu. Die Weltbank empfiehlt Schweden, Island, Dänemark, Österreich und Deutschland als Modelle. Nicht China, Vietnam und Bangladesch. Das sollte zu schaffen sein, selbst für ein alterndes Europa.

Christoph Nick
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