Seit Beginn dieses Jahres bestimmt ein ungewohnt neuer Rhythmus das Leben der luxemburgischen Malerin Tina Gillen. Ihre im Februar geborenen Zwillinge Rebecca und Romane geben den häuslichen Takt vor. Im letzten Jahr widmete sich Tina Gillen mit voller Kraft der Produk-tion neuer Gemälde für ihre Einzelausstellung im Städtischen Museum Remscheid. Anfang 2009 publizierte der Verlag Hatje Cantz die Monografie Necessary journey mit ihren aktuellen Arbeiten und dem bisherigen Werk. Im Mudam fand bereits im März eine Buchpräsentation statt; eine weitere wird am 12. September im Smak in Gent folgen.
Zeitgleich mit der Geburt fiel auch der Umzug in ein neues Haus im Süden von Brüssel, wo Tina Gillen mit ihrem Mann, dem belgischen Künstler Paul Casaer, und den Zwillingen jetzt wohnt. Das Einfamilienhaus liegt an einem waldigen Hang und so ergibt sich von der Terrasse ein großartiger Blick in die Baumwipfel sowie hinunter auf die kreisrunde Wasserfläche des Swimmingpools in zehn Meter Tiefe. Eine Perspektive, die ihren Gemälden entsprungen sein könnte. Ihre gemalten Motive sind häufig grafisch reduziert, vom Kontext der Umgebung losgelöst und scheinen immer ein wenig zu schweben. Der feste Grund ist ihren Motiven meist entzogen.
Tina Gillen arbeitet bereits an neuen Motiven dieser Art und möchte im nächsten halben Jahr wieder ins Atelier, um die ersten Bilder fertig zu stellen. Letzte Woche führten wir dieses Interview bei 37 Grad im Schatten auf ihrer Terrasse.
d’Land: Bist Du ein Mensch, der viel träumt??Tina Gillen: Ja, sehr viel. Ich bin aber auch eine Tagträumerin. Tagträume sind eine gewisse Form der Konzentration. Es geht darum, sich in etwas hineinzuversetzen. Aber ich benötige viel Ruhe dafür und muss allein sein. Das kann augenblicklich nicht so gut klappen ((lacht)).
Hast Du schon einmal Motive aus Deinen Träumen für Deine Bilder verwendet??Nicht direkt. Es ist eher das Gefühl der Spannung, dass ich hinüberrette. Praktisch ist auch, dass man in Träumen die Gegenstände aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachten kann.
Was war der letzte Alptraum, an den Du Dich erinnerst??Ich stehe auf einem hohen Turm oder Gebäude. Das Gebäude fängt an zu wackeln und ich bekomme weiche Knie. Manchmal falle ich, aber komme nie an. Ein endloser Fall.
Hat diese Bodenlosigkeit etwas mit den entrückten Gegenständen Deiner Bilder zu tun??Nein, da auf meinen Bildern mentale Schwebezustände festgehalten sind, wohingegen meine Träume physische Erfahrungen von Unsicherheit vermitteln. Körperzustände.
Was passiert sonst noch in Deinen Träumen??Manchmal fliege ich im Traum. Ich steuere einen Jet mit Riesengeschwindigkeit. Großartig! Und von Schwimmbädern träume ich oft. Ein riesengroßes Hallenbad, immer das gleiche Becken, ungewöhnlich tief, mindestens 20 Meter. Je tiefer ich tauche, desto dunkler wird das Wasser und zähflüssiger. Meist finden meine Träume in der Zivilisation statt.
Was ist das Verrückteste, das Du je aus Liebe getan hast??Die bewusste Entscheidung Kinder zu bekommen, denn das ist ein großer Beweis der Liebe, wenn sich ein Paar entscheidet, ein Kind haben zu wollen und das gemeinsam zu schaffen. – Ach ja, etwas Verrücktes noch: Als ich in New York am ISCP meine Künstlerresidenz hatte, kaufte ich ein Flugticket, um meinen Mann mit einem Besuch in Brüssel zu überraschen. Bei all meiner Vorfreude hatte ich ganz vergessen, dass er längst schon ein Ticket für den gleichen Zeitraum hatte, um mich in New York zu besuchen.
Welche zwei Personen (tot oder lebendig) würdest Du gerne zum Abendessen bitten?Vielleicht überrascht es Dich, aber ich würde mich nicht für einen Star oder Künstler entscheiden. Meine Einladungen würden an meine beiden Großväter gehen, die noch vor meiner Geburt gestorben sind.
Findest Du die öffentliche Rolle des Künstlers schwierig??Für mich ist es wichtig, dass mein Privatleben privat bleibt. Aber es ist auch klar, dass man als Künstler eine gewisse Rolle annehmen muss, um weiterzukommen. Meine Kommunikation läuft jedoch hauptsächlich über meine Bilder. Meine Arbeiten sind komplett selbstständig und brauchen meine Anwesenheit nicht. Kunst ist eine Fiktion. Meine Kunst ist nicht autobiografisch.
Was verpassen Menschen, die ohne Kunst leben??Ein Stück Bewusstsein.
Welche Kunst hat Dich verändert??Das hat bei mir etwas mit Zeitabschnitten in meinem Leben zu tun. Als ich jünger war, haben mich die kulturhistorischen Großwerke beeindruckt. Es waren die Kulturerrungenschaften, die Zivilisationszeugnisse, wie die Pyramiden oder die gotischen Kirchen. Es waren nicht so sehr die Werke, die an einen einzelnen Künstler gebunden sind. Alte monumentale Architekturen vermitteln die Idee der Erhabenheit sehr unmittelbar. Ich mag lieber die stille Kunst als die laute. Das Zeitlose interessiert mich.
Zeitlos heißt aber nicht geschichtslos??Mich interessiert das Zeitlose in der Kunst. Im Privaten ist das gemischt. Hier mag ich im Alltag eine gesunde Mischung aus geschichtslosen und geschichtsbeladenen Gegenständen. Fifty-Fifty. Nur die Hälfte der Sachen sollte eine Seele haben, also die Geschichte der Personen, die diese Gegenstände früher benutzt haben. Die andere Hälfte meines Hausrats kann ruhig neutral sein, ansonsten wird er zur Belastung. Man muss sich befreien, andernfalls kann man sich nicht erneuern.
Hast Du Dich verändert seit der Geburt Deiner Kinder??Ja, aber nur in einem äußerlichen Detail: Meine Haare sind ohne mein Zutun ins Rötliche geschlagen.
Seit wann hast Du Deine Professur an der Akademie in Antwerpen??Seit 2007, es ist die Malereiklasse, und die Professur ist gerade wieder verlängert worden. Augenblicklich, da ich etwas eingeschränkt bin mit dem Reisen, ist es eine gute Möglichkeit mit meinen Studenten zusammen, aktuelle Ausstellungen anzuschauen. Der Einfluss von aktueller Kunst auf meine eigene Kunst ist sehr wichtig.
Im letzten Jahr hast Du auch mehrere Gemeinschaftsarbeiten mit Deinem Mann realisiert. Plant ihr weitere gemeinsame Projekte??Nein, das war nur temporär, weil sich Paul für eine Zeit mit zweidimensionalen Aufgaben beschäftigte und sich so die Möglichkeit der Zusammenarbeit ergab. Jetzt ist er aber wieder zur Skulptur zurückgekehrt. Die gemeinsamen Gespräche über unsere Arbeiten bleiben aber weiterhin bestehen.
Der Donner unterbricht unser Gespräch, die ersten Tropfen fallen. Und noch bevor wir ins Haus flüchten, sagt Tina Gillen zu sich selbst: „Falls ich nicht meine Großväter für ein Abendessen zurückholen würde, dann nähme ich möglicherweise die Schauspieler Clive Owen und Edward Norton!“