Leudelingen ist unspektakulär. Von Luxemburg-Stadt über die Autobahn A4 in etwas mehr als zehn Minuten zu erreichen, liegt die Gemeinde im Speckgürtel der Hauptstadt. Außer einer Kirche aus dem 19. Jahrhundert und ein paar Restaurants hat sie Touristen wenig zu bieten. Mit rund 2 600 Einwohnern ist sie zu normalen Zeiten zu unbedeutend, um in den Nachrichten aufzutauchen, außer vielleicht in der Verkehrsrubrik, wenn die Blechlawinen aus dem Süden mal wieder bis Bettemburg zurückstauen, oder in der Rubrik Sport und People: Tennisspieler und ATP-Turnier-Sieger Gilles Muller lebt hier; der Immobilienmogul Flavio Becca nennt hier ein Haus sein Eigen. Doch bald sind Gemeindewahlen und deshalb ist nichts mehr, wie es war: Weil es zur diesjährigen Abstimmung zwei Kandidatenlisten geben wird statt eine, hat die beschauliche Gemeinde Schlagzeilen gemacht.
Der Bruch der politischen Landschaft in zwei konkurrierende Lager ist seitdem Dorfgespräch, allerdings weniger aufgeregt, als es die Medien glauben machen. „Das bringt mehr Diversität“, sagt ein etwa 40-jähriger Bewohner achselzuckend, der vor der Garage seines Bungalows mit der Motorsäge einen Baumstamm bearbeitet. Ihn sorgt mehr, dass die Zone 30, die die Gemeindeleitung rund um den Friedhof eingeführt hat, nicht den gewünschten Effekt bringt. „Ich würde meine Tochter gern zu Fuß zur Schule gehen lassen, aber das geht nicht. Es ist zu gefährlich“, sagt er und zeigt hügelabwärts. „Schauen Sie mal den Verkehr auf der Hauptstraße.“ Dort sind 50 Stundenkilometer erlaubt, doch ein Stopp unten am Jesuskreuz an der Ecke reicht, um mit eigenen Augen zu sehen, dass Autofahrer sich einen Teufel ums Tempolimit scheren. Die Gemeinde hat einen Schultransport eingerichtet und alle Bewohner aufgefordert, ihn zu nutzen, damit Kinder die gefährliche Straße nicht überqueren müssen. Die CR 163 Leudelange, die an der Schule vorbeiführt, windet sich wie eine stinkende Schlange mitten durch die Ortschaft und führt im Norden nach Schlewenhaff und im Süden nach Bettemburg.
„Es gibt hier keine traditionellen Parteien. Der vorige Bürgermeister war zwar von der DP, hat aber parteienübergreifend gedacht“, sagt die Bewohnerin eines Bauernhauses nahe der Gemeindeverwaltung. Aus der Scheune riecht es nach Kuhdung. Hinter „dem schlechten Dorftheater“ stehe ein Machtkampf, analysiert die Rentnerin messerscharf. Ihre Nachbarin mit der runden Nickelbrille mit Goldrand vom Bauernhof schräg gegenüber sieht das genauso: „Die wollen die Bürgermeisterin ausbooten.“
Das ist auch die Version, die Diane Bisenius-Feipel verbreitet. Vor vier Jahren hat die zweifache Mutter und Teilzeit-Angestellte der Gemeinde Dippach als damalige Erste Schöffin das Bürgermeisteramt übernommen, nachdem Vorgänger Rob Roemen tragisch verunglückt war. Daran, sich in der Politik zu engagieren, hatte sie „eigentlich nicht gedacht“. Weil aber ihr Vater, Jean Feipel, kurz vor den Gemeindewahlen 2011 nach fast 30-jähriger Tätigkeit im Gemeinderat verstorben war und Roemen sie gebeten hatte, mit auf der – parteienübergreifenden – Liste zu kandidieren, habe sie dies „für ihren Vater“ getan. Sie wurde auf Anhieb Zweitgewählte.
Für die Wahlen sei sie von den Gemeinderäten Patrick Calmus und Marcel Jakobs, beide DP, die erneut kandidieren wollen (die Schöffen Eugène Halsdorf und Victor Christophe sowie die Gemeinderäte Raymond Kauffmann, Marc Loess und Francisco Ramirez hören aus Alters- und/oder persönlichen Gründen auf), im Frühjahr angesprochen worden, eine gemeinsame Liste aufzustellen. Für die Majorzgemeinde sind neun Sitze im Gemeinderat vorgesehen. Jedoch hätten Calmus und Jakobs sehr genaue Vorstellungen von der Zusammensetzung der Liste, sowie der späteren Postenvergabe gehabt, erzählt sie dem Land. „Das mache ich nicht mit, da muss man die Wahlen abwarten.“
Die Geschichte der Kontrahenten geht anders: Man habe Feipel einen Listenplatz angeboten, so wie das üblich sei. Aber die Bürgermeisterin habe von vornherein nicht mitgehen wollen, sagt Patrick Calmus. Wie das Angebot lautete, verrät er nicht. „Die Bürgermeisterin wollte vier eigene Leute mitbringen, aber dann wären wir in der Minderheit gewesen“, fügt Marcel Jakobs hinzu. Im Dorf wird gemunkelt, die DP-Männer hätten versucht, Feipel mit einem, dem letzten, Listenplatz abzuspeisen, „ein Gerücht“, sagt Jean-Pierre Roemen, Sohn des verstorbenen Gemeindevaters Rob Roemen und Kandidat von Zesumme fir Leideling, entrüstet. „Als ich gefragt wurde, waren Listenplätze nach mir frei.“ Roemen hatte sich im Tageblatt zu Wort gemeldet, als die Zeitung über den „DP-Putsch“ in der Gemeinde berichtete. Es sei keine DP-Liste. „Das wäre nicht im Sinne meines Vaters“, schrieb er. Diane Bisenius-Feipel ist parteilos. „Ein Drittel unserer Kandidaten hat nichts mit der DP zu tun. Wir arbeiten gut zusammen“, sagt der sportliche 20-Jährige, der das Land in Trainingshose und auf grauen Socken empfängt. Er hat ins Arbeitszimmer seines Vaters geladen. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch hängen Urkunden und Zeichnungen, die den Kommunalpolitiker und ehemaligen Chefredakteur des Journal zeigen. Viel genutzt sieht das Zimmer nicht aus, aber der Junior, der in Luxemburg Recht studiert, steht erst am Anfang seines politischen Engagements. Zuvor war Roemen bei den Scouten und im Musik- und Fußballverein engagiert.
Da trifft er auf alte Freunde – und neue politische Gegner: Der junge Graffiti-Künstler Raphael Gindt, der an diesem schönen Tag draußen am Bauzaun der Maison relais arbeitet und spontan seine Meinung sagt. Das Graffito haben Jugendliche aus dem Jugendhaus gemeinsam entworfen, Teletubbies wechseln sich mit Micky Maus und Super Mario ab. Gindt kandidiert auch bei den Gemeindewahlen, im Team der Bürgermeisterin. „Es ist schon absurd“, sagt er und macht keinen Hehl daraus, dass er für die politische Konkurrenz wenig Verständnis hat. „Wir sitzen doch alle im selben Boot“, unterstreicht der Künstler, der Präsident des örtlichen Fußballvereins ist. Schatzmeister ist ... Jean-Pierre Roemen.
Nun müssen Calmus, Jakobs und Co., die viele der Projekte der Bürgermeisterin unterstützt haben, sich programmatisch absetzen. Keine leichte Aufgabe. Denn die Themenwahl in der Kommunalpolitik ist begrenzt– und viel Entscheidungsspielraum gibt es bei den großen Problemen ohnehin nicht. Junior Roemen wünscht sich mehr Angebote für die Jugend, wie eine Anbindung an den Late-Night-Bus sowie mehr digitale Angebote: Obwohl die Gemeinde ans Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen ist, lässt der digitale Aufbruch zu wünschen übrig. Der Webauftritt der Gemeinde nennt Bevölkerungszahlen aus dem Jahr 2010. Als Prioritäten stehen im Programm von Zesumme fir Leideleng Infrastruktur, Wohnen, Kultur, Integration, Sicherheit und die Wiederbelebung des Dorfkerns. Das Programm der Bürgermeisterin liegt noch nicht vor, wird Land-Informationen nach aber ganz ähnliche Schwerpunkte enthalten.
So wird die Belebung des Dorfkerns wichtiger Teil beider Programme sein. Zesumme fir Leideling wirbt damit, die Bürger stärker an den Beratungen und Entscheidungen zu beteiligen. Das habe die Bürgermeisterin zu wenig getan, findet Roemen. Dem Dorf, das 2006 150-jähriges Bestehen feierte, fehlt ein klar definiertes Zentrum: Das rosa Rathaus mit schwarzem Bär im (1974 geschaffenen) Wappen liegt zwar zentral auf der Hauptachse rechts neben der Kirche, gegenüber dem (überdimensionierten) gelben Vereins- und Jugendhaus. Auch die Post, eine Kneipe, ein Bankautomat und zwei Restaurants befinden sich in Fußnähe. Mehr Leben könnte entstehen, wenn die neue Grundschule mit integrierter Maison relais fertig ist, für die die Bürgermeisterin in Anwesenheit von Innenminister Dan Kersch kürzlich den Spatenstich feierte. Es ist ein Vorzeigeprojekt ganz im Sinne des liberalen Schulminister Claude Meisch, bei dem Lehrpersonal und Erzieher das Nutzungskonzept zusammen mit der Gemeinde und den Architekten ausgearbeitet haben. „Wir wollen ein Shared space am Place du Lavoir, wo sich die Bürger begegnen können“, sagt Bürgermeisterin Diane Bisenius-Feipel.
Und trotzdem sieht der Ort für Besucher zerrupft und unstrukturiert aus, so als konnten sich seine Gemeindeväter und -mütter nie richtig entscheiden, ob sie lebendiges Dorf oder Schlafgemeinde sein wollten: Anonyme Apartmenthäuser und weiße Wohnwürfel mit Riesengaragen und schwarzem Porsche Cayenne vor der Tür stehen traditionellen Bauernhöfen aus dem 19. Jahrhundert gegenüber, die teils noch in Betrieb sind. „Wir treiben unsere Kühe die Straße entlang“, sagt die örtliche Biobäuerin stolz und zeigt in Richtung Ortsausgang. Auf ihrem Hof, der sich nur rund 200 Meter neben dem Rathaus befindet, kann, wer will, Eier und Milchprodukte kaufen, Fleisch gibt es auf Vorbestellung. Weiter oben, Richtung Parkinson-Zentrum, reihen sich eng gedrungene Arbeiterhäuser neben Bungalows mit Gartenzwergen im Vorgarten – Bau- und Planungssünden einer Laissez-faire-Kommunalpolitik, wie man sie überall im Land beobachtet, die Privateigentum hochhält und kaum über landesplanerische Expertise verfügt. Der britische Fotograf Martin Parr, der anlässlich des Kulturjahrs 2007 für seine Reportage „Lux“ ironisch baulichen mauvais goût festhielt, hätte reichlich Stoff für sein Kameraauge gefunden.
Eigentlich soll das von Rob Roemen initiierte Projekt „Stempels“ für mehr Struktur und Zusammenhalt sorgen: Die Idee ist, dass die Gemeinde sämtliche Besitzer der Grünflächen hinterm Vereinshaus an einem Tisch versammelt und so ein Konzept für gemischtes Wohnen entsteht: mit erschwinglichem Wohnraum, denn die Preise von rund 6 000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche sind für immer weniger Leute bezahlbar, und mit kleinen Geschäften. Die Verhandlungen gestalten sich schwierig: Zwei Besitzer weigern sich zu verkaufen, nicht weil sie auf höhere Preise hoffen, sondern weil sie Bauern sind und ihren Kindern die Anbauflächen vererben wollen. Offenbar hat die Gemeinde keine Flächen im Austausch anzubieten; sie verfügt kaum über eigenes Land, geradeso wenig wie über Sozialwohnungen. Das passte nicht ins politische Konzept, weder unter dem liberalen Bürgermeister Roemen, noch unter seinem christlich-sozialen Vorgänger Fernand Conter. Immerhin: Die Planungen für das seit mehr als zehn Jahren versprochene Altersheim schreiten nach Jahren der Stagnation nun voran: Im September hofft die Bürgermeisterin, sich mit einem Träger endgültig einig zu werden.
In Leudelingen verschärfen die insgesamt 88 Hektar großen Aktivitätszonen Am Bann, Grasbësch und La Poudrerie den Kontrast: Pferde grasen gemütlich vor Baukränen, Strohballen liegen auf einem unbebauten Grundstück nicht weit vom Burger King in der Rue Léon Laval. Das chaotische Wachstum der Gewerbegebiete, in der Firmen wie Lineheart, Foyer, Robert Steinhäuser, die Logistikfirma Schenker und andere ansässig sind, entspricht dem Inseldenken der 1970-er bis 2000-er Jahre: viel Gewerbe ansiedeln, um ordentlich Steuern zu kassieren, sich dabei aber keine Gedanken um ökologische und soziale Folgen machen. Treten heute einige der mehreren Tausend Angestellten, darunter viele Frontaliers aus Frankreich, zur Pause vor die Tür, finden sie weit und breit keine Sitzgelegenheit, geschweige denn einen Park. Dabei ist drum herum alles grün. Auch die Œuvre nationale de secours Grande-Duchesse Charlotte und die Nationallotterie wurden mit günstigen Konditionen nach Leudelingen gelockt.
Mit der Tram, so hofft die Gemeinde, könnte zumindest das Autochaos etwas eingedämmt werden, ein geplantes Parkhaus ist „wegen der Anziehungseffekte“ umstritten. 2012 hatte die Gemeinde eine Konvention mit Bertringen, Hesperingen, Luxemburg und Strassen unterzeichnet, seitdem hat der Schöffenrat neue Buslinien eingerichtet. Eine verbindet den Ortskern mit dem Bahnhof, der oben am Hügel Richtung Schlewenhaff liegt. Aber wer verzichtet schon aufs Auto und nimmt den Zug in die Stadt, wenn er erst umständlich mit dem Bus anfahren muss und die Autobahnzufahrt direkt vor der Tür liegt? Der Verkéiersverbond soll ermitteln, woher die Berufspendler, und damit der Mammutanteil des Verkehrsaufkommens, stammen und wie der öffentliche Transport verbessert werden muss. Dazu wurden ansässige Betriebe befragt, Ergebnisse liegen noch nicht vor. Daran, dass die Südumgehungsstraße doch noch kommt, einstiges Wunschprojekt von Rob Roemen, scheint in der Gemeindepolitik niemand zu glauben. Im (blockierten) Sektorplan Verkehr der Regierung tauchte sie nicht mehr auf. Ins Wahlprogramm gehört die Tram schon deshalb, weil sich viele Leudelinger lieber zur Stadt zugehörig zählen, als zu den angrenzenden Gemeinden im Süden. Das macht mehr her. Bei einer Arbeitslosenquote von unter drei Prozent und Einnahmen von rund 10,8 Millionen Euro (2015) ist die Mini-Gemeinde ein ökonomischer Kraftbolzen.
Mit der Gemeindefinanzreform der blau-rot-grünen Regierung fällt der Geldsegen künftig jedoch nicht mehr so üppig aus: So muss die Gemeinde für 2015 2,7 Millionen und für 2016 nochmals 1,39 Millionen Euro an den neuen Fonds de dotation globale des communes zahlen. Die Gemeindeführung hat gegen die Rückzahlungen Klage vor Gericht eingereicht. Die Anwohner bezahlen unterdessen den Preis für die vermurkste Planung in Form von Durchgangsverkehr, wachsendem Lärm und steigenden Infrastrukturunterhaltskosten. Gemeinderat Marcel Jakobs stellt zwar fest: „Wir haben sicher Fehler in der Vergangenheit gemacht. Aber wir wussten auch, worauf wir uns einlassen. Man kann sich keinen Hund kaufen und sich dann beschweren, dass man sich um ihn kümmern muss.“ Bleibt abzuwarten, ob die wahlberechtigten Leudelinger das ebenso sehen und wie sie die bisherige Bilanz ihrer Gemeindeführung am 8. Oktober bewerten werden.