Selten wurden die Wahlen zum britischen Unterhaus in Europa und der ganzen Welt so aufmerksam verfolgt wie in diesem Jahr. Dieses Mal waren sich fast alle einig: Am 7. Mai wurde nicht nur über das Schicksal Großbritanniens entschieden, sondern zugleich auch über das Schicksal Europas. Wie wichtig die Wahl im Vereinigten Königreich auch immer gewesen sein mag, sie war nicht so wichtig, dass das Land dafür seinen Redaktionsschluss verschoben hätte. Unsere Leser wissen deshalb, wie das Rennen ausgegangen ist. Wir wussten es beim Schreiben dieses Artikels noch nicht.
Es gab aber im Vorfeld starke Zeichen, dass der amtierende Premierminister David Cameron die besseren Aussichten hatte, die Wahl zu gewinnen. Bei den Buchmachern standen die Wetten 2:1 für Cameron. Bei den britischen Medien, die sich traditionell zu einer Partei bekennen, lagen die Tories ebenfalls vorne. Dieses Mal fiel ihnen die Entscheidung jedoch erheblich schwerer als sonst. Die Zerrissenheit der Medien und des ganzen Landes hat die liberale Wochenzeitung The Economist auf ihrem letzten Titel vor der Wahl auf den Punkt gebracht. Unter der Überschrift Britain’s Choice brachte die Redaktion den Satz: „Risk the economy or risk Europe.“ Darunter prangte ein Januskopf. Links ein halbes Gesicht des schönen Ed Milliband, Chef der Labour-Partei, rechts ein halbes Gesicht von Tory-Chef David Cameron und zwischen beiden eine unüberbrückbare Kluft.
Dabei, so die akribische Analyse der Neuen Zürcher Zeitung, liegen beide Wahlprogramme gar nicht so weit auseinander. Die Tories wollen den Haushalt bis 2018 ausgleichen, Labour bis 2020, was ein wenig mehr Schulden bedeuten würde. Wie sie das anstellen wollen, das hat die NZZ auch mit investigativem Journalismus nicht herausfinden können. Die Tories wollen spätestens 2017 über die Mitgliedschaft in der EU abstimmen lassen, ein Referendum, das immerhin über 60 Prozent der Briten befürworten, Labour erst dann, wenn es einen neuen Vertrag gibt. Diesen sieht Robert Niblett, Direktor des Chatham House, eines führenden britischen Thinktanks zu außenpolitischen Fragen, in der Legislaturperiode nach 2020 auf Großbritannien zukommen. Er ist wie viele andere der Meinung, dass die Länder der Eurozone sich weiter integrieren müssen, um die gemeinsame Währung zu retten, und dass das nur mit einem neuen EU-Vertrag geht. Das Vereinigte Königreich wird deshalb nach seiner Einschätzung auch dann seinen Einfluss in der EU nicht wiedergewinnen, wenn es in der EU bleibt, entscheidend sei die Mitgliedschaft beim Euro. Und über den Euro wird nach Lage der Dinge in Berlin entschieden. Weshalb heute Deutschland und nicht mehr Großbritannien der entscheidende Partner der USA in Europa sei.
Die Briten wollen, dass ihr Land weiterhin eine gewichtige internationale Rolle spielt, aber sie sind unsicher, welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit sind. Wichtiger als die Frage, ob das Land zur EU gehören will, war die Frage nach dem Zustand der Wirtschaft und der Lage der sogenannten “Mann von der Straße“. Über Europa werden die Briten entscheiden, wenn die Frage konkret ansteht. Heute sieht es so aus, als stünden die Chancen 50:50. Es wäre deshalb verfrüht, bei einem Tory-Sieg oder einer rechten Regenbogenkoalition unter der Führung von David Cameron davon auszugehen, dass das Vereinigte Königreich den anderen Europäern den Abschied gibt.
Die Wirtschaft, und in ihrem Schatten die Einwanderung, waren das Hauptthema des Wahlkampfes. Die Koalitionsregierung aus Tories und Liberalen Demokraten haben die Ausgaben seit 2010 vor allem auf Kosten des öffentlichen Dienstes und des Sozialstaates drastisch gekürzt. Dennoch liegt das aktuelle Haushaltsdefizit noch immer bei fünf Prozent und ist damit eines der höchsten innerhalb der EU. Einerseits spüren die Briten die starken Kürzungen, andererseits wird der Konsum immer noch zu stark auf Pump finanziert. Jede Regierung, die sich jetzt bildet, wird es schwer haben, dieses Dilemma zufriedenstellend zu lösen. Großbritannien hatte in den letzten Jahren das höchste Wirtschaftswachstum der EU. Die Arbeitslosenquote liegt unter sechs Prozent, die Beschäftigung ist auf einem Rekordniveau.
Dennoch konnte David Cameron seine Landsleute auf dem Feld der Wirtschaftspolitik nicht überzeugen. Zu viele arbeiten nur zu niedrigen Löhnen. Im Dezember 2014 waren 2,3 Prozent aller Arbeitnehmer zu sogenannten Null-Stunden-Verträgen angestellt. Sie werden nur gerufen und bezahlt, wenn sie ihr Arbeitgeber braucht. Diese Flexibilität hält die Arbeitslosigkeit niedrig, aber sie gibt alle Macht den Arbeitgebern, weshalb sie mit Recht auf dem Kontinent verboten sind. Viele der so angestellten sind weiterhin auf Transferleistungen des Staates angewiesen. Die Null-Stunden-Verträge, die nur für die akute Krise vorgesehen waren, sind zum Symbol für den Abstieg der Mittelklasse geworden. Die Aldi-Mom, die Mittelstandsmutter, die ihre Familie nur noch dann durchbringen kann, wenn sie beim Discounter kauft, ist die entsprechende Personifizierung. Das zweite Symbol ist der White-Van-Man, der hart arbeitende Kleinunternehmer, der einfach gestrickt ist, jeden Tag um seinen Erfolg ringen muss und vielleicht auch mal UKkip wählt, die die EU verlassen will und gegen Einwanderer hetzt. Die neue Regierung muss beide für sich gewinnen. Vielleicht sollten es Labour und die Konservativen doch mit einer großen Koalition versuchen, die Probleme sind dafür jedenfalls groß genug. Mit knappen, zusammengewürfelten Mehrheiten wird sich das Land nicht fünf Jahre regieren lassen.