Tröglitz in Sachsen-Anhalt: Ein Ort im Osten Deutschlands macht Schlagzeilen, weil sich dort viele Bürger gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren. Zuerst trat der Bürgermeister zurück, weil er sich von Neonazis bedroht fühlte, zuletzt wurde in der Nacht vom 4. April das frisch renovierte Gebäude, das 40 Flüchtlinge aufnehmen sollte, in Brand gesteckt. Sogar Thorbjørn Jagland, Generalsekretär des Europarates, sah sich genötigt, die Ereignisse so zu kommentieren: „Die Demokratie ist in wachsendem Ausmaß bedroht von rassistischem, fremdenfeindlichem, politischem und religiösem Extremismus. Diesen Trend beobachten wir auf dem ganzen Kontinent.“
Der Analyse Jaglands wird die Mehrheit der Europäer zustimmen, aber wenn es um die Bekämpfung der Ursachen geht, fangen die Schwierigkeiten an. Zunächst die Fakten. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit listete am 4. Februar in ihrem
Artikel „Europa extrem“ die letzten Wahlergebnisse von 39 populistischen und extremistischen Parteien auf. Bei der Europawahl 2014 erzielte die ungarische Fidesz von Ministerpräsident Orban mit 51,5 Prozent den höchsten Wähleranteil, gefolgt von der polnischen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit, gegründet von den Brüdern Kaczyński) mit 32 Prozent. Sechs Parteien haben bei der Europawahl Resultate zwischen 28 und 21 Prozent erzielt: die UK Independence Party (Ukip), Syriza, die Dansk Folkepartei, der Front National, der Movimento 5 Stelle und die NV-A von Bart de Wever. Die luxemburgische ADR erreichte mehr als sieben Prozent.
Die wachsende Zuwanderung nach und innerhalb Europas ist eines der Themen, mit dem populistische und rechtsextreme Parteien auf Stimmenfang gehen. Niemand kann mehr leugnen, dass die andauernde Zuwanderung für viele Europäer ein Problem ist. Wie weit das inzwischen geht, sieht
man daran, dass die Ukip in Großbritannien und der Front National in Frankreich bei der vergangenen Europawahl die meisten Stimmen bekamen. Der FN wurde bei den Departmentswahlen im März zweitstärkste Partei. Der Schluss, dass die alten Volksparteien in der Krise sind, liegt auf der Hand.
Warum ist das so? Die Globalisierung, angeschoben von großem technologischem Fortschritt, verunsichert viele Menschen, weil sich die überkommenen Lebensbedingungen oft radikal verändern. Man muss diese Ängste ernst nehmen, aber nicht indem man den Populisten hinterherläuft. Am Thema Migration kann man leicht festmachen, dass der Nationalstaat in Europa nicht mehr in der Lage ist, die damit zusammenhängenden Probleme allein zu meistern. Italien, Griechenland, Malta und Spanien werden mit den Schwierigkeiten, die sich aus ihrer geografischen Lage ergeben, weitgehend allein gelassen. Es gibt weder einen europäischen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge und Asylsuchende, noch eine europäische Finanzierung der Belastungen.
Paul Collier, ein britischer Wirtschaftswissenschaftler, der 2013 das Buch Exodus – How migration is changing our world veröffentlicht hat, plädiert dafür, dass nicht mehr Migranten in eine Gesellschaft neu aufgenommen werden, als sich zur gleichen Zeit in die Mainstream-Gesellschaft integrieren. Seine Analyse zeigt, dass in der Vergangenheit die wirtschaftlichen Gewinne durch Einwanderung moderat ausfielen, die Löhne nicht gedrückt wurden, eine zu starke Diversität den sozialen Zusammenhalt schwächen kann. Dass die Politik aber nicht alles steuern kann, zeigt sich exemplarisch in Großbritannien. David Cameron versprach 2010, die Einwanderung von circa 200 000 auf 100 000 Menschen zu drücken, gegen seinen erklärten politischen Willen stieg sie auf 300 000.
Hier zeigt sich ein wichtiger Punkt. Fast alle Politiker erwecken in ihren Ländern den Eindruck, dass sie in der Lage seien, alle Probleme auf nationaler Ebene zu lösen. Das Gegenteil ist der Fall und selbst für die EU gilt, dass sich die Welt nicht nach ihren Vorstellungen ausrichtet. Das Narrativ der radikalen Parteien ist der Nationalismus, ob von rechts oder links. Die etablierten Parteien laufen diesem Narrativ fast immer hinterher. Das Gerede von der immer souveränen Grande Nation in Frankreich ist dafür ein Beispiel unter vielen. Europa hat kein Narrativ, das eine gemeinsame positive Zukunft ausmalt, die man in gemeinsamer Anstrengung verwirklichen kann.
Das müsste nicht so sein. Die Mehrheit der Europäer ist weiter als ihre Politiker. Das letzte Eurobarometer vom Herbst 2014 bestätigt eine Trendwende, die 2012 stattgefunden hat. Seitdem ist das positive Image der EU von 30 auf 36 Prozent angestiegen (2006: 50 Prozent), das negative von 29 auf 22 Prozent gefallen (2006: 15 Prozent). Der europäische Kitt kann trotz aller Probleme halten. Dafür braucht es aber Eliten, die ihren Wählern reinen Wein einschenken, statt ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen.