Am Wochenende starben über 800 Menschen, darunter Dutzende Kinder, beim Untergang eines hölzernen Fischerboots vor der libyschen Küste. Ihre genau Zahl ist unbekannt und wird es wahrscheinlich bleiben. Anders als beim Unglück eines Airbus 320 der Gesellschaft Germanwings einen Monat zuvor, als in den französischen Alpen sogar nach DNA-Spuren der Opfer gesucht wurde.
Der forensische Unterschied erklärt sich mit dem Transportmittel und dem Unfallort, das heißt der Staatsangehörigkeit und Kaufkraft der Opfer: Beim Flugzeugunglück kamen mehrheitlich Deutsche und Spanier ums Leben, beim Schiffsunglück vor allem Passagiere aus Mali, Gambia, Senegal, Sierra Leone, Elfenbeinküste, Eritrea, Somalia und Bangla Desh. Mit Ausnahme einer Elite können Afrikaner seit 1988 nicht mehr mit dem Flugzeug nach Europa reisen, sondern sind auf Seelenverkäufer angewiesen, so die italo-somalische Autorin Igiaba Scego am Sonntag. Vielleicht deshalb sieht das Denkmal der Schengen-Verträge in Schengen aus wie drei Grabsteine.
Die Opfer des Schiffsunglücks im Mittelmeer waren im Jargon des Finanzplatzes Low Net Worth Individuals. Sie hatten größtenteils in Libyen gearbeitet, bis die Europäische Union und die Nato nach dem Vorbild Iraks das libysche Staatswesen zerstört hatten. Wer erinnert sich nicht daran, wie der Luxemburger Außenminister ungeduldig im Frühprogramm von RTL dafür warb, Muammar Gaddafi und als Kollateralschaden Libyen zu bombardieren? Nun hilft er, für die Einführung des Ausländerwahlrechts zu werben, das CSV und ADR als Einwohnerwahlrecht schmackhaft gemacht werden soll.Um Einwohner zu werden, waren die Passagiere aus Libyen bereit, in fensterlosen Hinterzimmern der Europäischen Union ihre Arbeitskraft weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn als Küchenhilfen, Caddy-Schieber, Kindermädchen, Prostituierte, Parkwächter oder Müllsortierer zu verkaufen. Die Steuervorteile, die einen EU-Staat wie Luxemburg zu „A Residence of Choice for High Net Worth Individuals“ machen sollen, wie es in der Werbung heißt, waren ihnen sogar unbekannt. Doch die Europäische Union lehnte das großzügige Angebot der über 800 Arbeitsuchenden ab. Sie verspricht sich derzeit mehr von neuen Freihandelsabkommen, welche die Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und Investitionen aus anderen Kontinenten gewährleisten sollen.
Nachdem der ungehinderte Kapitalverkehr Luxemburg drei langsam zu Ende gehende goldene Jahrzehnte beschert hatte, macht es sich mit seinen bescheidenen Kräften nun auch für Tafta, Tisa und TTip stark. Freihandelsabkommen versprechen, die Grenzen für den Verkehr von Kapital in all seinen Erscheinungsformen mit Ausnahme von Menschen niederzureißen. Diese Entwertung ihres Lebens gegenüber Autos, Apfelsinen und Grey-Trägern haben die 800 und seit Anfang des Jahres über 1 500 Menschen im Mittelmeer mangels anderen Vermögens mit ihrem Leben bezahlt.
Die Europäische Union ist um mehr als alles andere um die Senkung der Staatsquote bemüht. Weil sie kein Interesse mehr daran hat, sich unqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Mittelmeer zu fischen, ersparte sie sich vor wenigen Monaten das Seenot-Rettungsprogramm „Mare nostrum“. Sie ersetzte es durch ein billigeres Programm, um sich die Ertrinkenden vom Leib zu halten. Dabei war schon der Name Programm: Hatten nicht schon das Römische Reich und die italienischen Faschisten das Mittelmeer „Mare nostrum“ genannt, damit an der afrikanischen Mittelmeerküste keine falschen Vorstellungen über die Besitzverhältnisse aufkämen?