Die Regierung bemüht sich, mehr Druck im Atomstreit aufzubauen. Ihr Spielraum ist gering, aber sie nutzt ihn taktischer als früher

Rücken zur Wand

d'Lëtzebuerger Land vom 27.05.2016

Xavier Bettel (DP) hat sich zu früh gefreut. Via Facebook hatte der Premierminister am 18. Mai die Meldung überschwänglich begrüßt, wonach Frankreichs Umweltministerin Ségolène Royal vor Botschaftern versprochen haben soll, neben Fessenheim auch Cattenom vom Netz zu nehmen: „Je constate avec satisfaction que nos efforts et discussions en faveur de la fermeture définitive de Cattenom, notamment avec le Président de la République, François Hollande, et Premier ministre français, Manuel Valls, lors de sa récente visite au Luxembourg, ont porté leurs fruits.“ Umweltministerin Carole Dieschbourg (Déi Gréng) selbst hielt sich mit Wortmeldungen zurück.

Zu Recht. Bei einer Fragestunde vor der französischen Nationalversammlung am Dienstag sprach Royal von „Gerüchten“. Jede Stilllegung werde „en bonne et due forme“ kommuniziert und mit der staatlich dominierten Elektrizitätsgesellschaft Electricité de France (EDF) „in aller Transparenz“ abgestimmt. Mehr sagte Royal nicht. Das Thema ist politisch brisant, derzeit protestieren Gewerkschaften gegen die Reform des Arbeitsgesetzes vor Atomkraftwerken, neue Hiobsbotschaften, die Wähler aufschrecken, kann die massiv unter Druck stehende sozialistische Regierung nicht gebrauchen.

Dabei darf man gespannt sein, welche Position Ségolène Royal gegenüber ihren Amtskolleginnen in Luxemburg und Berlin vertreten wird. Noch steht kein Datum fest, doch auf einen Brief, den Carole Dieschbourg gemeinsam mit Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) und Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) nach Paris schickten, kamen von dort positive Signale für ein informelles Treffen. Man werde „ganz sicher nachhaken“, was die französische Seite zu sagen habe, heißt es dazu aus dem Umweltministerium. Eigentlich hatte die Regierung von François Hollande versprochen, binnen zehn Jahren den Anteil der Atomenergie an der Gesamtenergieproduktion von derzeit rund 75 auf 50 Prozent zu drosseln.

Die gemeinsame Aktion von Luxemburg und Deutschland ist auch so schon ein kleiner diplomatischer Erfolg, denn bisher geschahen politische Interventionen zu Cattenom regelmäßig nur auf Bundesländerebene. Berlin hatte sich stets zurückgehalten. Doch eine erhöhte Sensibilität und lautstarker Protest der Bevölkerung im Raum Aachen, als die belgischen Atombehörden die Pannenmeiler Tihange 2 und Doel 1 und 3 wieder ans Netz nahmen, scheinen zu einem Umdenken geführt zu haben. Zum ersten Mal forderte Deutschland im April Nachbarland Belgien auf, die Pannenreaktoren Tihange 2 und Doel 3 wenigstens vorübergehend stillzulegen. Luxemburgs grüner Staatssekretär für Umwelt, Camille Gira, war schon im Januar mit einer Abgeordneten-Delegation zu Belgiens Innenminister Jan Jambon und Umweltministerin Marie-Christine Marghem gereist. Die Reaktionen auf belgischer Seite fielen jedoch verhalten aus. Man sei überzeugt, dass die Anlagen „internationalen Sicherheitsstandards genügen“.

Der Besuch war Teil einer Offensive der blau-rot-grünen Regierung – und ihrer politischen Verbündeten –, mehr Druck im Atomdossier aufzubauen. Weil die Betreibergesellschaft EDF eine verlängerte Laufzeit für Cattenom um mindestens zehn weitere Jahre anpeilt, ließen die deutschen Bundes-Grünen den umstrittenen Reaktor erneut unter die Lupe nehmen. Fazit des im Februar vorgestellten 70-seitigen Gutachtens des Atomexperten Manfred Mertins: Sowohl bei Erdbeben als auch bei Überflutung reichen die Sicherungssysteme in Frankreichs drittgrößtem Atommeiler nicht aus. Die Nachrüstungen, die die EDF vorgenommen hat, beträfen vor allem das Sicherheitsmanagement, wie die Notfallalarmsysteme, oder die Einführung digitaler Technik.

Luxemburg nahm die Studie zum Anlass, erneut bei der französischen Regierung vorzusprechen. Als Innenminister Manuel Valls Anfang April das Großherzogtum besuchte, mahnte Xavier Bettel, Luxemburg drohe „von der Landkarte gewischt“ zu werden, sollte es zu einem Atomunfall in Cattenom kommen. Das war wortgewaltig und er wohl missverständlich, denn kurz darauf titelten Zeitungen, Luxemburg wolle Frankreich dafür bezahlen, damit es Cattenom abschalte. Von den Partnern im Anti-Atombestreben wurde das mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen: „Es darf nicht sein, dass Staaten anderen Staaten politische Entscheidungen abkaufen“, so die rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerin Eveline Lemke (Grüne). Auch Saarlands Umweltminister Reinhold Jost (SPD) reagierte reserviert. Aus dem Staatsministerium hieß es daraufhin, das Finanzierungsangebot habe sich nicht auf die Abschaltung bezogen, sondern auf neue Energieprojekte, die in der Region anstelle von Cattenom entstehen könnten. Umweltministerin Carole Dieschbourg hatte bereits im März EU-Energiekommissar Miguel Arias Cañete ein Exemplar der Mertins-Studie überreicht, als er für ein Treffen auf dem Kirchberg weilte.

Dieselbe Studie war offenbar auch Anlass dafür, dass ein Luxemburger Bürger im März eine Peti-tion in der Abgeordnetenkammer einreichte, in der die Abschaltung Cattenoms gefordert wird. Die Petition erreichte binnen weniger Tage die nötigen 4 500 Unterschriften und hatte am Ende sogar über 10 000 Unterzeichner, so dass die Regierung zu dem Anliegen wird Stellung nehmen müssen.

Zu hoch sollten die Erwartungen der Atomgegner dennoch nicht sein, der politische Spielraum ist nämlich trotz ermutigender Zeichen auf bilateraler Ebene gering. Ein internes 84-seitiges Rechtsgutachten des Umweltministeriums kommt zum Schluss, dass Luxemburg als Anrainerstaat wohl ein legitimes Interesse hat, seine Bevölkerung vor den negativen Folgen eines Reaktorunfalls zu schützen. Doch Energiepolitik ist völker- und europarechtlich immer noch weitgehend Ländersache. Die Bevölkerung, und umliegende Staaten können zu bestimmten Momenten, und die geplante Verlängerung der Laufzeiten könnte so ein Moment sein, in öffentlichen Konsultationen Bedenken vortragen. Mehr aber auch nicht.

Dabei spielt es keine Rolle, dass fast keine Woche vergeht, da Cattenom nicht wegen irgendwelcher Pannen in die Schlagzeilen gerät. Patrick Majerus von der Strahlenschutzbehörde im Gesundheitsministerium sieht Pläne, die Laufzeit der vier Reaktoren von Cattenom um weitere zehn Jahre mindestens zu verlängern, mit großer Sorge: „Die EDF hat in den vergangenen Jahren zwar nachgerüstet“, wichtige Sicherheitsmaßnahmen wie neue Notstromdieselmotoren, die im Falle eines Stromausfalls der Zentrale die Kühlung sicherstellen sollten, fehlten jedoch weiterhin, so Majerus. Ein EDF-interner Bericht, den die Zeitung Le journal de l’énergie im März veröffentlichte, hatte eingeräumt, die Notaggregate in mehreren Atommeilern, darunter Cattenom, seien zum Teil in einem „sehr schlechten Zustand“ und „im Notfall nur begrenzt einsatzbereit“. Dass die europäischen Stresstests verschiedene Nachrüstungen angemahnt haben, sei ein schwacher Trost, so Majerus: Die Länder haben bis 2020 Zeit, die Mängel abzustellen. Im April schreckte der Chef der französischen Atomaufsichtsbehörde (ASN), Pierre-Franck Chevet, die Öffentlichkeit auf: „Ein größerer Unfall, wie jener in Tschernobyl oder Fukushima, könnte nirgends auf der Welt, Europa eingeschlossen, ausgeschlossen werden“, sagte Chevet dem Le Monde und empfahl, die Sicherheitszonen rund um die Atomzentralen generell auf 100 Kilometer zu erweitern.

„Mir ist noch nie so bange gewesen“, so der Europaabgeordnete Claude Turmes angesichts der altersmorschen Reaktoren in den Grenzregionen: „Und trotzdem fordert die EU-Kommission in diesen Tagen kaltblütig den Ausbau der Atomenergie“, schimpft er. Der grüne Energieexperte spielt damit auf das kürzlich vom Politikmagazin Der Spiegel veröffentlichte Strategiepapier an, in dem sich Brüsseler Beamten für eine Stärkung der umstrittenen Technologie aussprechen. Die EU müsse ihre „technologische Vorherrschaft“ in dem Bereich verteidigen, dazu seien mehr Investitionen nötig, heißt es im sechsseitigen Papier, das dem Land vorliegt. Brüssel spielte die Bedeutung des Entwurfs sofort herunter, doch dass das keine Gedankenspielereien sind, zeigt das 26-seitige Nuclear Illustrative Programme der EU-Kommission vom April, das künftige Herausforderungen für die europäische Nuklearenergiewirtschaft beschreibt: Um eine Atomenergiekapazität von 95 bis 105 Gigawatt in der EU „bis 2050 und darüber hinaus“ zu erhalten, seien weitere Investitionen über die kommenden 35 Jahre von 350 bis 450 Milliarden Euro notwendig. Investitionen für sicherheitsrelevante Nachrüstungen nicht eingerechnet.

Die Grünen im EU-Parlament ließen das Papier von der atomkritischen Informationsplattform Wise analysieren: Demnach rechne die Kommission sich die Atomenergie und den Energiemarkt schön und blende den Aufschwung der erneuerbaren Energien aus. Das Klimaschutzabkommen von Paris, das Luxemburg für die EU mitverhandelt hat, sieht den Ausbau regenerativer Energiequellen vor. Statt die Kosten der Atomenergie transparent und realistisch zu beziffern, inklusive der Folgekosten, die durch Entsorgung und Endlagerung entstehen, würden Kosten unterschätzt, so die Wise-Autoren, die von einem „Nuclear illusory programme“ sprechen.

Das Papier zeigt noch etwas: Im Streit um die Atomtechnologie geht es längst nicht mehr nur um Sicherheitsaspekte. In den Vordergrund des Ringens um die energiepolitische Zukunft der EU rutscht zunehmend die Finanzierung. Lange wurden die niedrigen Kosten der Atomkraft angepriesen. Doch seitdem in Deutschland mit dem Ausstieg erstmals die Entsorgungskosten genau beziffert werden, scheint der Vorteil sehr fraglich. Immer offensichtlicher wird, dass die Atomindustrie nur dann gewinnbringend Atommeiler bauen kann, wenn ihr die öffentliche Hand mit Milliardenzuschüssen unter die Arme greift. Dazu sind verschiedene Länder aber nicht mehr bereit. Und finden hier einen Hebel zum Angriff.

Im Dezember schloss sich Luxemburg der Klage Österreichs und einiger Unternehmen gegen Hinkley Point C an, ein in Südwestengland geplantes Mega-Atomkraftwerk. Österreich klagt gegen die Subventionen, die die britische Regierung für den Bau des Druckwasserreaktors versprochen hat. Es geht um Beihilfen in Form von umfangreichen Kreditgarantien für Finanzierungsanleihen des Projektes, vor allem aber um eine feste Einspeisevergütung für den in Hinkley Point C produzierten Atomstrom. Diese Garantie-Vergütung liegt weit über dem Marktpreis und summiert sich über die Laufzeit von 35 Jahren auf mehr als 100 Milliarden Euro, die letztlich der Steuerzahler aufbringen muss. Wien argumentiert, dass die Beihilfen im Widerspruch zum europäischen Wettbewerbsrecht stehen. Sie seien zudem ein Präzedenzfall für weitere Atomneubauprojekte und könnten einen Subventionswettlauf im gesamten Energiesektor auslösen. Derzeit wird die erneuerbare Energie in der EU mit rund 30 Milliarden subventioniert, die Nuklearenergie und die fossilen Träger mit über 60 Milliarden Euro. Luxemburg hinterfragt in seiner Nebenklage die Begründung der Subventionen, wonach die Atomenergie eine klimaschützende Energieform und daher bezuschussungswürdig sei. Nun muss der Europäische Gerichtshof in Luxemburg urteilen, eine Entscheidung von Tragweite, denn von ihr könnte abhängen, wie EU-Mitgliedstaaten ihre (Atom-)Energieprogramme künftig finanzieren. In der EU sind derzeit acht neue AKWs im Bau oder in Planung. Beim Forschungsreaktor Iter wurden aus geschätzten fünf Milliarden Euro Kosten 15 Milliarden, frühester Startbeginn soll 2025 sein. „Die Atomindustrie steht mit dem Rücken zur Wand.“ Hinkley Point sei, warnt Claude Turmes, „der Versuch der strauchelnden Atomindustrie, ihr gescheitertes Geschäftsmodell in die Zukunft zu retten“.

Tatsächlich ist die Empfängerin der Beihilfen die Nuclear New Build Generation Company, ein Tochterunternehmen der EDF, die derzeit um ihr Überleben kämpft. Anfang März hatte Frankreichs Wirtschaftsminister Emmanuel Macron dem kriselnden Stromkonzern eine Finanzspritze in Aussicht gestellt. Der Staat, dem EDF zu mehr 80 Prozent gehört, sei notfalls bereit, erneut auf eine Dividende zu verzichten. Auch waren Pläne bekannt geworden, wonach die Regierung in Paris den Verkauf von Aktien in einigen der landesweit größten Unternehmen plant, um den Energiekonzern EDF mit einem drei Milliarden schweren Hilfspaket beim Bau von Hinkley Point zu unterstützen. Dass Paris sobald einen Rückwärtsgang bei der Atomenergie einlegt, erscheint angesichts solcher Überlegungen, bei einer insgesamt kriselnden Wirtschaft im Land, unwahrscheinlich. Egal, wie sehr Premierminister Xavier Bettel sich das wünschen mag.

Ines Kurschat
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