Das ist peinlich. Vergangene Woche hatte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel sich kämpferisch in Pose geschwungen und beteuert, das transatlantische Handelsabkommen TTIP, „so wie es sich die Amerikaner vorstellen, darf es und wird es nicht geben“, da veröffentlicht Ende vergangener Woche Greenpeace ein internes Schreiben, aus dem hervorgeht, das Wirtschaftsministerium in Berlin dränge darauf, das parallel mit Kanada ausgehandelte ebenfalls umstrittene Handelsabkommen, Ceta, ganz oben auf die Tagesordnung der EU-Wirtschaftsminister vom 13. Mai zu setzen und Teile des Abkommens vorläufig anzuwenden, weil dies „für die Akzeptanz wichtig“ sei. Das könnte „auch innenpolitisch zur Beruhigung beitragen“, hieß es in dem Schreiben.
Hierzulande machte der zuständige Minister für Außenhandelsbeziehungen, Jean Asselborn, eine etwas bessere Figur. Lange hatte er sich mit öffentlichen Äußerungen zu dem brisanten Dossier zurückgehalten. Im Juni 2015 hatte der Sozialist „weder in der Substanz, noch im Prozess eine Chance“ gesehen, dass die Verhandlungen unter der Luxemburger EU-Präsidentschaft abgeschlossen würde. Er sei nicht bereit, „für TTIP zu sterben“, so der Instinktpolitiker in einem Interview.
In Luxemburg ist die Skepsis gegenüber dem Handelsabkommen ähnlich groß wie in Deutschland oder in Belgien, wo die Regionalregierung Walloniens ankündigte, TTIP nicht zu ratifizieren und Ceta als „trojanisches Pferd“ zu blockieren. Vergangene Woche wiederholte die aus Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und NGOs bestehende Plattform Stopp TTIP ihre Warnung, TTIP, Ceta und Tisa seien „eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat sowie für Umwelt-, Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz“. Sie forderten den Außenminister auf, sich klar gegen Ceta und TTIP zu positionieren und sich am Beispiel Walloniens und Frankreichs zu orientieren. FrankreichS Staatssekretär für den Außenhandel, Matthias Fekl, hatte zuletzt mit der Blockade der TTIP-Verhandlungen gedroht, sollte Washington nicht deutliche Zugeständnisse machen.
Den Gefallen tat Asselborn den TTIP-Gegnern am Donnerstag aber nicht. Man dürfe die beiden Abkommen nicht vermischen, mahnte Asselborn vor Journalisten. Immerhin sei bei Ceta das umstrittene Kapitel zum Investorenschutz nachverhandelt worden, auch wegen eines „Briefs aus Luxemburg“. Dort gelte nun der Kompromissvorschlag aus Brüssel, das heißt, nur echte Firmen, keine Briefkastenfirmen, können Klagen gegen Staaten einreichen. Staaten wiederum können ein Urteil anfechten, die Richter würden öffentlich gewählt und die Zivilgesellschaft könne den Verhandlungen beiwohnen. Da sei eine „klare Bremse“ eingebaut.
Dass Asselborn Luxemburgs Positionen zu Ceta und TTIP in einer eigens einberufenen Pressekonferenz erläuterte, ist nicht von ungefähr. Die EU-Kommission und die Regierungen der EU-Mitgliedsländer stehen wegen Ceta und TTIP massiv unter Druck. Vor zwei Wochen hatte die Umweltorganisation Greenpeace rund 280 Seiten bislang unter Verschluss gehaltener TTIP-Dokumente ins Netz gestellt (www.ttip-leaks.org) und den USA vorgeworfen, im Interesse von Konzernen europäische Umwelt- und Verbraucherschutzstandards aushöhlen zu wollen.
Washington wollte die Authentizität der Papiere nicht bestätigen, erklärte nur, „die Interpretationen zu den Texten scheinen bestenfalls irreführend und schlechtestenfalls schlicht falsch“. Brüssel wies die Verwürfe zurück und betonte, die Dokumente listeten nur den Stand der Verhandlungen auf. In die gleiche Kerbe schlug Jean Asselborn am Donnerstag. Es handele sich „nicht um Verhandlungsergebnisse“, unterstrich er, um hinzuzufügen, dass die Kommission den Verursacher des Informationslecks suche.
Die Nervosität belegt, dass die Dokumente sehr wohl Informationswert haben: US-Präsident Barack Obama hatte bei seinem letzten Amtsbesuch in Deutschland gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel gute Miene gemacht und den Eindruck erweckt, die TTIP-Verhandlungen würden zügig fortschreiten. Die Differenzen würden kleiner, warb Obama für einen zügigen Abschluss. Wer die 13 von insgesamt 17, von Greenpeace veröffentlichten konsolidierten Kapiteln liest, wird jedoch feststellen: Die US-Regierung setzt die EU wesentlich stärker unter Druck als bekannt, auch bei Punkten, bei denen die EU-Kommission nicht müde wird zu betonen, es handele sich um rote Linien, die nicht verhandelbar seien.
So verweigert Washington Exporterleichterungen für die europäische Autoindustrie, augenscheinlich weil dieser Zweig für die EU extrem wichtig ist. Auf die Autobranche entfällt ein gutes Viertel aller Güterexporte; die EU-Hersteller exportierten 2015 zusammengenommen eine Million Autos in die USA. Unter der Überschrift „Tactical state of play of the TTIP negotiations“ steht, die „US-Regierung beeilte sich klarzumachen, dass Fortschritt bei Autoteilen nur möglich wäre, wenn sich die EU bei Zöllen auf Agrarprodukte bewegt“. Gentechnisch veränderte Lebensmittel, in Europa weitgehend verboten, sind nicht explizit ausgeschlossen. Der deutsche Wirtschaftsexperte und TTIP-Befürworter Hans-Werner Sinn prognostizierte einen Deal zwischen den USA, Deutschland, Frankreich, um die Blockade aufzuheben: Die Amerikaner setzten „die Abschottung des Automarkts als Drohmittel ein, um damit Deutschland gegen Frankreich in Stellung zu bringen. Nur ein Dreiecksgeschäft, bei dem Deutschland Frankreich für das Recht bezahlt, seine Autos nach Amerika liefern zu dürfen, wird in der Lage sein, die Blockade zu überwinden.“ Deutschland könnte im Gegenzug seinen Widerstand gegen die französische Forderung einer gemeinsamen Einlagensicherung für Banken aufgeben, so Sinn in der Wirtschaftswoche.
Auch das in Europa geltende Vorsorgeprinzip, das Lebensmittel und Pflanzen nur erlaubt, wenn sie für Mensch und Natur nachweislich unschädlich sind, greifen die US-Verhandler an. Sie sprechen von der Risikobewertung von „relevanten, verfügbaren, wissenschaftlichen Beweisen“, die jede Seite liefern müsse, bevor Handelsbeschränkungen erlassen werden könnten. Was vernünftig klingt, könnte in der Praxis jedoch bedeuten, dass Verbote eines als bedenklich eingestuften Produktes mit dem Einwand verhindert werden könnten, es lägen nicht genügend Beweise für seine Gefährlichkeit vor. In Europa muss der Produzent nachweisen, dass sein Produkt unbedenklich ist. Das Wissenschaftsprinzip ist auch deshalb schwierig, weil wissenschaftliche Studien nicht per se unabhängig sind, wie sich beim Ringen um das Verbot des Pflanzenschutzmittels Glyphosat just zeigt.
Im Kapitel zum Investorenschutz halten die USA an privaten Schiedsgerichten fest. Firmen sollen diese anrufen können, wenn sie durch EU-Regelungen ihr Eigentum und ihre Geschäftsbasis gefährdet sehen. Weil der öffentliche Aufschrei gegen die privaten Investorenschutzgerichte derart massiv war, hatte die EU-Kommission, auf Betreiben von Ländern wie Deutschland, Frankreich, Spanien und auch Luxemburg, einen neuen Anlauf genommen und schlägt nun die Einrichtung eines internationalen, öffentlichen Handelsgerichtes vor. Der Vorschlag scheint beim Verhandlungspartner wenig Eindruck hinterlassen zu haben. Einziges Zugeständnis auf Seiten der Amerikaner: Die Gerichte sollten transparenter sein, Verhandlungen live im Internet nachzuvollziehen und Vertreter der Zivilgesellschaft sollen an ihnen teilnehmen können. Die Hauptforderung der Kommissionsvorschlag, dass die Richter öffentlich ernannt statt privat sein müssten und Verlierer ein Rekursrecht bekommen, ignoriert die US-Seite.
Experten wie der kanadische Rechtsprofessor Gus van Harten, der die Praxis der Schiedsgerichte in einer Studie analysiert hat, bewerten sogar den Kommissionsvorschlag der EU ekritisch: Die eigentlichen Gewinner seien große internationale Konzerne. 64 Prozent aller bekannten Entschädigungszahlungen gingen ihmzufolge an Konzerne mit einem Jahresumsatz von mehr als zehn Milliarden Dollar, 29 Prozent an kleinere Unternehmen mit einem Umsatz zwischen einer und zehn Milliarden Dollar Umsatz. Und nur sieben Prozent der erstrittenen Mittel gingen an Firmen, die weniger als eine Milliarde Dollar Umsatz vorwiesen. Dass mittelgroße und kleine Unternehmen die Schutzklauseln nutzen, hält der Jurist für unrealistisch, schon weil die Kosten solcher Verfahren viel zu hoch sind. Luxemburg unterstützt den Kommissionsvorschlag, der, wie Asselborn betonte, von einer großen Mehrheit des EU-Parlaments getragen werde.
Ein anderes Thema, das die Gemüter erhitzt, ist die regulatorische Zusammenarbeit. Auch da scheinen die USA sehr viel weiter gehende Mitspracherechte für Lobbyisten und für US-Regulierungsbehörden bei der EU-Gesetzgebung zu fordern als bisher bekannt. Kein Gesetz, keine Vorschrift, keine Normen sollen mehr vorgeschrieben werden, ohne dass der Partner zuvor einen Blick darauf geworfen hat. Die Regulierungsbehörden beider Seiten wären verpflichtet, entsprechende Pläne im Voraus mitzuteilen, damit „Stakeholder“ Position beziehen und gegebenenfalls Bedenken anmelden können. Neue Vorschriften müssten die Regulierungsbehörden „transparent entwickeln“, also begründen, am besten „mit wissenschaftlichen und technischen Analysen“. Obwohl beide Seiten die regulatorische Zusammenarbeit wollen, verlangt Washington die ausführliche Prüfung von Alternativen „inklusive der Option, nicht zu regulieren“, sowie eine Kosten-Nutzenabwägung. Die EU-Kommission wäre bereit, eine solche Folgenabschätzung vorzunehmen. Insgesamt scheinen sich Brüssel und Washington bei dem Kapitel relativ einig zu sein. Organisationen wie Lobbycontrol oder die Luxemburger Plattform Stopp TTIP warnen indes davor, durch die Vorab-Abstimmung würden „demokratische Prozesse unterlaufen“, etwa wenn große Firmen weit im Vorfeld versuchten, Einfluss auf Regulierungen zu nehmen.
So wundert es kaum, dass die Plattform Stopp TTIP insgesamt zu einem negativen Fazit kommt und die Verhandlungen stoppen will. Zumal Brüssel parallel beim Handelsabkommen Ceta auf die Tube drückt. TTIP-Gegner werfen Ceta vor, im Prinzip die gleichen Ziele zu verfolgen wie TTIP: Es gehe um den Abbau so genannter Handelshemmnisse, in Wirklichkeit aber um Umwelt- und Verbraucherschutznormen. Auch Ceta enthält ein Kapitel zur „regulatorischen Zusammenarbeit“, das darauf abzielt, im Vorfeld von geplanten Regelungen diese zwischen kanadischen und europäischen Regulierungsbehörden abzustimmen. Asselborn versuchte, zu beruhigen: Das Recht zu regulieren, sei in der Präambel ausdrücklich vorgesehen, ebenso in einzelnen Artikeln im Ceta-Schlusstext verankert. Deshalb sei das Abkommen auch nicht mit TTIP zu vergleichen, so der Außenminister, der jedoch keine Dokumente mitgebracht hatte, anhand derer die Journalisten seine Aussagen hätten überprüfen können. Die Zusammenarbeit sei freiwillig, die EU behielte ihr Recht, Gesetze zu machen. Das aber haben TTIP- und Ceta-Kritiker nie bestritten: Es ist die dem Gesetzesverfahren vorgelagerte erweiterte Einflussnahme, die ihnen Sorgen bereitet.
Außenminister Jean Asselborn teilt ihre Sorgen nicht, das machte er am Donnerstag deutlich. Luxemburg unterstütze Ceta im Europäischen Rat, auch wenn es sich dafür einsetze, die nationalen Parlamente über den fast 1 600-seitigen Vertragstext abstimmen zu lassen. Am 15. Juni soll die EU-Kommission ihre Einschätzung vorlegen, ob es sich bei Ceta um ein sogenanntes „gemischtes Abkommen“ handelt, von dem zumindest einzelne Kapitel in die nationale Kompetenz fallen und daher von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden müssen oder um ein rein europäisches Abkommen, das dann provisorisch umgesetzt werden könnte. Eine rein europäische Entscheidungskompetenz bedeutet nicht unbedingt weniger Ärger: Bei der Abstimmung würde das Einstimmigkeitsprinzip gelten. Und das ist, angesichts des wachsenden Widerstands in der Bevölkerung gegen Ceta, TTIP und Co., keinesfalls sicher.