Schwarze Schatten und Umrisse einer Menschenmasse an der Fensterfront des Kiosks wecken seit nun knapp zwei Wochen die Neugierde der Passanten. Die französische Künstlerin und Szenographin Gaëlle Dodain lädt hier ein, ihre Installation mit dem herrschaftlichen Titel Belvedere zu begutachten.
Seit 2005 überrascht uns die Aica (Association internationale des critiques d’art) nun bereits zum zwanzigsten Mal mit junger Kunst im öffentlichen Raum. In einem Intervall von zwei bis drei Monaten wählt jeweils ein Mitglied des Verbands einen Künstler aus. Dieser hat dann die Aufgabe den Ausstellungsraum, den ehemaligen Zeitungskiosk auf der Place de Bruxelles, zu bespielen. Das Ziel ist es, junge Künstler zu fördern, indem man ihnen die Möglichkeit zum Ausstellen bietet.
Für die aktuelle Besetzung des Kiosks lud die Kunstkritikerin Nathalie Becker die Französin Gaëlle Dodain ein, sich dem Raum anzunehmen. Bereits vergangenen Sommer machte diese junge Künstlerin (*1984) mit ihrer herausragenden Installation Road Map-possible voyage für die Ausstellung Moving Worlds – Roundabout II im CarréRotondes auf sich aufmerksam. Hier nahm die an der Kunsthochschule in Monaco ausgebildete Bildhauerin und Bühnenbildnerin den Betrachter mit auf eine Expedition quer durch Frankreich, bei der sie Namensvetter bekannter Metropolen, wie Venedig, Moskau und Wien, besuchte und sich mit deren Eigenschaften auseinandersetzte. Auf Bild- und Tonmaterial hielt sie ihre Reise fest und bot einen Einblick in die Gegebenheiten dieser doch meist unbekannten Namensvetter und das Leben der Einwohner. Durch ihre überzeugende Installation forderte Dodain den Besucher auf, vorgegebene und festgelegte Sicht- und Denkweisen in Frage zu stellen und Platz für neue Betrachtungen zu schaffen. Der Massentourismus und die durch ihn verursachte Überflutung von Bildern sind für Dodain die besten Beispiele dafür, wie der Mensch von den Medien und seinem Umfeld konditioniert wird.
Der ausgediente Zeitungskiosk auf der Place de Bruxelles, wo früher Postkarten und Souvenirs Teil des Sortiments waren und nach einem verzückten Blick über das Petrustal als Andenken an den Luxemburgbesuch dienten, erschien Nathalie Becker wohl nur allzu perfekt geeignet als kreative Spielwiese für Dodain. Doch an den großartigen Erfolg der ersten Arbeit kann die Installation, sicherlich durch die erschwerenden Eigenschaften, die das Kioskgebäude mit sich bringt, leider nicht so recht anknüpfen.
Eine Betrachtergruppe aus schwarzen, aufgeklebten Schattenrissen nimmt fast die gesamte Glasfläche der Kiosk-architektur in Anspruch. Sich nach vorne bückend und räkelnd, laden die dunklen Figuren zum Hinsehen ein. Ihre Blickfelder zielen exakt auf die sich im Innenraum befindende Diskokugel. Von zwei Seiten beleuchtet, erhellt letztere den gesamten Raum und wirkt bei einbrechender Dunkelheit besonders anziehend. Durch gezielte Sichtreize, wie die vorgetäuschten Beobachter und das Lichtspiel, zieht die Installation die Aufmerksamkeit auf sich. Das voyeuristische Verlangen des Passanten wird geweckt, und er pirscht sich an die Vitrine heran, um einen Blick zu erhaschen.
Die Vektoren-Zeichnungen an den Fenstern sind Spuren einer früheren Arbeit der Künstlerin mit dem Titel Typologie der Ergonomie des Blickes. 2007 beschäftigte Dodain sich hier mit typischen Haltungen von Museums- und Galeriebesuchern. Die Bühnenbildnerin hinterfragt die Realitäten eines Ortes und seine Wirkung auf den Menschen. Was ist vorgegebene, was „wirkliche“ Realität? So versucht sie auch in Belvedere dem Betrachter deutlich zu machen, wie er auf Unbekanntes reagiert.
Der Mensch versucht instinktiv etwas, das ihm fremd ist, in Bekanntes umzuwandeln – oder es zumindest damit zu assoziieren. Die Künstlerin spielt hier mit dem Betrachter, lockt ihn an, regt vielleicht seinen Gedankenfluss an, um ihn dann verwirrt zurückzulassen. Der Titel Belvedere fördert diese Irrführung, denn er suggeriert eine Aussicht. Dodain kehrt die Bedeutung dieses Begriffs jedoch um. Sie lässt eine Kette der Beobachtung entstehen, in welcher der Betrachter den Betrachter und so weiter observiert. Aus der vermeintlichen Plattform mit Sicht über das schöne Petrustal wird ein Blick nach innen, ein Studium des menschlichen Verhaltens an sich.